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Titel
Bildung als Kunst. Fichte, Schiller, Humboldt, Nietzsche


Herausgeber
Stolzenberg, Jürgen; Ulrichs, Lars-Thade
Erschienen
Berlin 2010: de Gruyter
Anzahl Seiten
232 S.
Preis
€ 79,95
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Na Young Shin, FB I, Pädagogik, Allgemeine Erziehungswissenschaft, Universität Trier

Der unter dem Topos „Bildung als Kunst“ erschienene Sammelband stellt nicht etwa vordergründig die Frage danach, was die schöne Kunst für die individuelle Entfaltung zu leisten vermag. Vielmehr erörtern die Beiträge, inwiefern verschiedene philosophische Ansätze des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts Bildung als ‚hohe Kunst‘ im Sinne einer zu bewältigenden Herausforderung der Moderne thematisieren.

Das Kunststück, das hierbei zu bewerkstelligen ist, wird an zwei Kriterien bemessen: Zum einen stellen die Autorinnen und Autoren heraus, dass die untersuchten Bildungskonzepte Ganzheitlichkeit im Sinne einer lebensweltlichen Einbettung der Verstandestätigkeit verfolgen. Neben der Tauglichkeit als ‚Lebenskunst‘ werden die Theorien der Bildung zum anderen auch danach befragt, inwiefern sie wissenschaftliche oder auch moralische Bildung als eine flexible Téchne zu bestimmen vermögen. Die um Integration bemühte Lebenskunst und theoretisch-praktische Techniken dienen dem Zweck, konkrete Herausforderungen der Lebenswelt zu meistern. Sie sind darin bestimmte Fertigkeiten und nicht schöne Kunst. So rückt in keinem der Aufsätze das kunsthistorische Detail in den Fokus. Wenn das Ästhetische thematisch wird, dann in seiner weitläufigen Semantik, die mit Konzepten der Wahrnehmung und Erkenntnis, der Sittlichkeit und des Charakters, der Gesellschaft und Politik verflochten ist.

Die elf Beiträge gehen auf die Tagung „Nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt? Aufklärungs- und Bildungskonzepte bei Fichte, Schiller, Humboldt und Nietzsche“ zurück, deren Titel auch für die Einordnung des vorliegenden Sammelbandes instruktiv scheint. Dem Vorwort nach nimmt der Band eine „interdisziplinäre[…] Perspektive“ ein und will „neue Perspektiven auf die Bildungsdebatte der Gegenwart“ erschließen (S. V). Der aktuelle Bezug bleibt jedoch überwiegend implizit und auch das Interdisziplinäre ist eher mit Bezug auf philosophische Subdisziplinen zu verstehen, die im Konzept der „ästhetischen Bildung“ konvergieren.

Die in Arbeitsweise, Fragestellungen und Diskurshorizont durchweg philosophische Perspektive verfolgt in erster Linie das Ziel, „das theoretische Profil einer Epoche“ (S. V) zu zeichnen. In allen Untersuchungen stehen systematische Gesichtspunkte, Begriffsarbeit sowie ideen- und rezeptionsgeschichtliche Zusammenhänge im Vordergrund. Die Aufsätze zeugen von fundierter Kenntnis der Theoriewerke und sind durchweg konzise entlang der Primärtexte gearbeitet; eine orientierende Aufarbeitung neuerer Forschungsliteratur lassen sie jedoch missen.

Im Sinne des oben eingeführten Kunstbegriffs beruft sich Hans-Georg Pott eher auf den revolutionären denn den klassischen Geist Schillers und verknüpft gleich im ersten Aufsatz den Spielbegriff und Schillers Rede von „lebendiger Gestalt“ mit dem Begriff der „Spectacles“, wie etwa „Gondelrennen in Venedig“ und „Tierhatzen in Wien“ (Schiller zitiert nach Pott, S. 15). Pott will so Schillers Konzept ästhetischer Erfahrung wieder in seiner Bedeutung der „Lebensform“ (S. 16) starkmachen, jenseits eines Spieles der Wahrnehmung, das in einer lebensfernen „Kunstwerkästhetik“ verortet sei (ebd.). Vom Konzept individueller „Lebensform“ über das Phänomen bürgerlicher „Geselligkeit“ im modernen Bruch mit der Erfahrung von „Gemeinschaft“ zieht Pott einen großen Bogen, um den gesellschaftspolitischen Anspruch Schillers einzuholen und die Ideen der Freiheit und Ganzheitlichkeit zu untersuchen. Dabei reflektiert der Autor auch Bewährung und Modifikation dieser historischen Theorie der Moderne und wirft so die klassisch soziologische Frage nach Arbeitsteilung und Integration angesichts einer ausdifferenzierten Gesellschaft auf. Die anregende Schillerdiskussion lässt leider keinen Raum für vertiefende Ausführungen zum soziologischen Diskurs um die Moderne.

Annabel Falkenhagen gibt durch eine ideengeschichtliche Untersuchung des Konzeptes der „schönen Seele“ zu bedenken, dass das ganzheitliche Bildungsideal Schillers bereits ein nostalgisches und vergebliches Sehnsuchtskonstrukt sei, das der Zerrissenheit der Moderne mit einem säkularisierten Amalgam aus antiker und christlicher Rezeption der schönen Seele zu begegnen versuche.

Andreas Brandt widmet sich der geschichtsphilosophischen Dimension der Bildungsidee, die er nicht mit Referenz auf das Gattungswesen Mensch, sondern auf die politische Ansprache der Person als Bürger eruiert. Das bildungstheoretische Verhältnis von Universalität und Individualität wird als Verhältnis von Kosmopolitismus und Patriotismus sichtbar. Umso deutlicher zeigt sich hier das Konfliktuöse des auf Individuum und Gattung ausgelegten Bildungsbegriffs. Dieses Spannungsverhältnis greift auch Temilo von Zantwijk auf. Durch die Rekonstruktion einer „rhetorischen Bildungstheorie“ (S. 73) bei Fichte lenkt er seine Untersuchung auf den Zusammenhang von Bildung, Darstellung und ein „performatives“ Konzept von Wissen (S. 86) im Vergleich zu Hegel. Dieser kritisiere jedoch die Aufklärung und auch Fichte darin, dass sie die Perspektive des Einzelsubjekts mit Blick auf die Legitimation von Wahrheit und Wissen nicht zu überschreiten vermöchten. Dieses Grundproblem der Vermittlung von Besonderem und Allgemeinem verhandelt Lars-Thade Ulrichs als „metaphysische[…] Dialektik […] von Person und Subjekt“ (S.136). Diese Konzeption ästhetischer Bildung als Überwindung „barbarischer“ Entfremdung und Einseitigkeit sei neben Schiller auch noch bei Fichte und Nietzsche zu finden. Dass Nietzsches Ideal höchster Bildung aber ein „tragische[r] Grundzug“ (S. 209) innewohne und das Individuum sich auf dem Höhepunkt seiner Freiheit auch der Möglichkeit des totalen Scheiterns gegenüber sehe, hebt Beatrix Himmelmann nochmals in ihren Ausführungen zu Nietzsches Konzept der „Selbststeigerung“ hervor. Den üblichen Warnungen vor einer unzulässigen Systematisierung Nietzsches zum Trotz konstruiert Himmelmann – quer durch das Oeuvre wandernd – eine gewinnbringende Systematik der Bildungsphilosophie Nietzsches.

Das Interesse an ganzheitlichem Denken bei Fichte äußert sich bei Zantwijk, Hartmut Traub und Birgit Sandkaulen als Interesse an der konzeptuellen Einbettung der Transzendentalphilosophie, der Fichte stets auch die Populärphilosophie in Rechnung stelle. Auch für die Auseinandersetzung mit Schillers anthropologischer Fundierung der Idee ästhetischer Erziehung spiele das Konzept der Populärphilosophie eine entscheidende Rolle, das Anne Pollok allerdings mit Rückgriff auf die Aufklärungsphilosophie Moses Mendelssohns beleuchtet. Der philosophischen Distanzierung vom Leben begegnet Traub selbst wiederum mit einem ganzheitlichen Lektüreansatz. Seine Rekonstruktion „biographischer Wurzeln“ (S. 29) der Fichteschen Ideen versucht, dem Gegenstand gemäß individuelle Lebenserfahrung, Erziehungspraxis und -philosophie aufeinander zu beziehen.

Günter Zöller widmet sich als einziger explizit den Ideen Wilhelm von Humboldts und entfaltet dessen „stehende Wendung ‚Aufklärung und Kultur‘“ als „das theoretisch-praktische Doppelanliegen der Menschenbildung“ (S. 180). Er bindet so die Bildungsbewegung an die Aufklärung und an die Entwicklung einer kulturphilosophischen Perspektive bei Humboldt zurück, auf die sich auch Ernst Cassirer immer wieder rückbeziehe.

So wie mittlerweile alle literatur- und kunsthistorischen Ausführungen das Oppositionsschema ‚Aufklärung-Romantik‘ kritisch kommentieren, so zeigt sich auch in der bildungsphilosophischen Diskussion zunehmend ein Ringen um die Überwindung schematisierter epochaler Zäsuren. Als Grundannahme stellt der Herausgeber Ulrichs dem Band voran: „Die Bildungskonzeption ist die wichtigste Äußerung der Selbstkritik der Aufklärung im 18. Jahrhundert (…)“ (S. 4). Die Autorinnen und Autoren teilen überwiegend die grundlegende Kritik an einer die Theorieansprüche verkürzenden Gegenüberstellung von auf Nutzen verengendem Philanthropinismus und ganzheitlichem Neuhumanismus, wie sie sich seit Niethammer und Paulsen in der Rezeption bis heute etabliert habe.

Welche Auswirkung ein Denken in Kontinuitäten statt Brüchen, in konzeptionellen Verflechtungen statt Oppositionen auf die aktuelle Bildungsdiskussion hat, zeigt sich am prägnantesten im letzten Aufsatz des Bandes. Während die vorrangig historisch ausgerichtete Aufmerksamkeit der Beiträge die wenigen Verweise auf aktuelle Diskussionen eher ins Kommentarhafte verdrängt, unternimmt Birgit Sandkaulen die Kritik eines falschen Rezeptionsschemas, das längst zur Grundlage aktueller Bildungsdebatten avanciert ist. Sandkaulen problematisiert die Ausschlusslogik von ‚Bildung‘ und ‚Ausbildung‘ und stellt Fichtes Überlegungen zur Universitätsidee in direkter Konfrontation mit Grundannahmen der Bologna-Politik dar. Dabei profitiert dieses solitäre Unternehmen sicherlich von den Fichte-Untersuchungen der Kollegen und dem zuvor platzierten Aufsatz Holger Gutschmidts, der eine klare Darstellung des „Bildungsbegriff[s] und Universitätsgedanke[ns] in der deutschen Philosophie von Schiller bis Nietzsche“ (S. 149-167) leistet.

Die von Jürgen Stolzenberg und Lars-Thade Ulrichs hier versammelten Untersuchungen bieten einen insgesamt stimmigen Beitrag zur Differenzierung des Bildungsgedankens und dessen Integrationsfunktion als Antwort auf die Moderne. Sie leisten ebenso einen weiterführenden Beitrag zur Verständigung über die theoretischen Ansprüche und Argumentationszusammenhänge von Fichte, Schiller, Humboldt und Nietzsche. Der aktuellen Besetzung der Bildungsdiskussion durch Bildungswissenschaften, empirische Bildungsforschung und Lebenswissenschaften haben die Beiträge jedoch wenig entgegenzusetzen, weil sie mögliche Konflikte im Rahmen ihres philosophisch-geisteswissenschaftlichen Diskurshorizontes gar nicht thematisch werden lassen.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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