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Titel
Zur Erziehung verurteilt. Die Entwicklung des Jugendstrafrechts im zaristischen Russland 1864-1917


Autor(en)
Mill, Tatjana
Reihe
Lebensalter und Recht 3
Erschienen
Frankfurt am Main 2010: Vittorio Klostermann
Anzahl Seiten
396 S.
Preis
€ 89,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lena Priesmeier, SFB 640 Repräsentationen sozialer Ordnung im Wandel, Humboldt-Universität zu Berlin

„Hängt ihn höher!“, so ruft seit jeher die rachsüchtige Gesellschaft und bringt damit ihr Bedürfnis nach Kompensation für begangenes Unrecht zum Ausdruck. Die Existenz von Normen und Gesetzen einerseits und Sanktionen andererseits, die bei Missachtung des Regelwerks zur Anwendung kommen, gehört zu den Konstanten menschlicher Gesellschaften. Die konkrete Ausformung, der Inhalt der Ge- und Verbote und der Charakter der Strafen hingegen sind kulturspezifisch und unterliegen einem stetigen historischen Wandel.

In dieser Geschichte des Strafens ist Tatjana Mills kürzlich erschienene Dissertation „Zur Erziehung verurteilt“ anzusiedeln, in dem die Rechtshistorikerin die Entstehung des Jugendstrafrechts im zarischen Russland im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nachzeichnet.1 Unter dem starken Einfluss internationaler Debatten und unter dem Eindruck steigender Jugendkriminalität in den industriellen Zentren vollzogen sich eine schrittweise Ausgliederung minderjähriger Delinquenten aus dem allgemeinen Strafverfahren sowie Strafvollzug und eine Hinwendung zu pädagogischen Formen des Strafens.

Im ersten Kapitel ihrer Arbeit legt Tatjana Mill dar, wie im Zusammenhang mit der russischen Justizreform (1864) und der seit 1863 geplanten Reform des Gefängniswesens die Frage nach einer gerechten und sinnvollen strafrechtlichen Behandlung minderjähriger Delinquenten zunehmend an Bedeutung gewann.
Noch unter dem Paradigma der klassischen Strafrechtsschule, die von der Freiheit des menschlichen Willens und der Strafe als einer gerechten Vergeltungsmaßnahme für eine begangene Normverletzung ausging, diskutierten russische Juristen zunächst die Frage der Zurechnungsfähigkeit jugendlicher Straftäter und griffen dabei auch auf biologische, medizinische, und psychologische Wissensbestände zurück. Einen relevanten Richtungswechsel erfuhr die Diskussion erst um 1880. Mit dem Aufkommen der neuen kriminalsoziologischen und kriminalanthropologischen Schulen in den späten 1870er-Jahren etablierte sich der Gedanke der sozialen und biologischen Bedingtheit delinquenten Verhaltens und löste eine breite wissenschaftliche Suche nach den Ursachen von Kriminalität aus. Fast zeitgleich setze sich der durch Franz von Liszt vertretene Zweckgedanke im Strafrecht durch: Strafe diene grundsätzlich nicht der Vergeltung, sondern einem präventiven Zweck und solle die Gesellschaft vor zukünftigen Straftaten schützen. Die Ursachen der zunehmenden Jugendkriminalität sah man vor allem in der urbanen Verwahrlosung, in der mangelhaften Erziehung durch die Eltern und in der Zerstörung traditioneller sozialer Bindungen. Ausgehend von den Ursachen der Kriminalität und geleitet von dem neuen Zweckgedanken witterten russische Juristen in der Pädagogik das neue Wundermittel im Kampf gegen die Kriminalität. „Erziehen statt Strafen“, so lautete fortan die Devise liberaler Juristen, wenn es um strauchelnde Jugendliche ging.

Im Zweiten Kapitel zeichnet Tatjana Mill nach, wie der Gesetzgeber die neuen Überzeugungen der Juristen schrittweise in gesetzliche Neuerungen umsetzte. War die Möglichkeit der Aussetzung der Strafe für Minderjährige als Option bereits seit 1864 im Gesetz verankert, erhob der Gesetzgeber diese bis dahin selten genutzte Möglichkeit mit einer Novelle im Jahre 1892 zur Norm. Kinder zwischen 10 und 14 Jahren sollten nun, unabhängig von ihrer Einsichtsfähigkeit, in einer Zwangserziehungsanstalt untergebracht oder der verantwortlichen Obhut der Eltern übergeben werden. In einem eigenen Gesetz zur Behandlung jugendlicher Straftäter von 1897 hob der Gesetzgeber die Grenze der relativen Strafunmündigkeit noch einmal an und setzte sie auf das 17. Lebensjahr fest. Gleichzeitig wurde auch die Sonderbehandlung der Jugendlichen im Strafprozess geregelt. In der neuen Fassung des Strafgesetzbuches von 1903 wurde das Prinzip der Einsichtsfähigkeit durch das der Zurechnungsfähigkeit ersetzt und berücksichtigte somit nicht mehr nur die intellektuelle, sondern auch die moralische Entwicklung des Jugendlichen.

Das dritte Kapitel beschreibt die Umsetzung des Erziehungsgedankens und die Entstehung der nach westeuropäischem und nordamerikanischem Vorbild gegründeten Zwangserziehungsanstalten. Getragen durch den Glauben an die „Allmacht der Erziehung“ (S. 194), erhofften sich Gesetzgeber und Juristen zukünftiges kriminelles Verhalten der minderjährigen Delinquenten durch Erziehung zu vermeiden. Das durch den Gesetzgeber vorgegebene Ziel der Zwangserziehungsanstalten war „die Erziehung eines religiös-moralischen, gebildeten, zuverlässigen Arbeiters und treuen Bürgers“ (S. 269). Entsprechend setzte sich der Alltag der Zöglinge in den Erziehungsanstalten aus schulischer, beruflicher und religiöser Bildung zusammen, die man als die „drei Säulen der Erziehung zum Menschen“ (S. 269) verstand. Die Gründungen der Erziehungsanstalten verliefen jedoch schleppend. Denn anders als in Europa errichtete der russische Staat selbst keine Zwangserziehungsanstalten, sondern verließ sich in dieser Sache ganz auf das Engagement wohltätiger Einrichtungen und die Initiative der Organe der lokalen Selbstverwaltung. Ressourcenknappheit und eine stark begrenzte Aufnahmekapazität waren die Folge. So deckten die rund 3.000 verfügbaren Plätze am Vorabend der Oktoberrevolution nur zehn Prozent des Bedarfs (S. 216), sodass die Jugendlichen vielfach entgegen dem Wunsch der Richter in gewöhnlichen Haftanstalten büßen mussten.

Das vierte und letzte Kapitel widmet Tatjana Mill der Entstehung der ersten russischen Jugendgerichte. Seit den 1890er-Jahren verbreitete sich unter Praktikern und Theoretikern die Auffassung, das Gerichtsverfahren müsse an die entwicklungsspezifische psychologische Besonderheit der Jugendlichen angepasst werden. Die Öffentlichkeit des Verfahrens, die feierliche Anklage, die mitunter leidenschaftlichen Verteidigungsreden der Anwälte und insbesondere die inkonsequenten Urteile sowie häufigen Freisprüche durch die Geschworenen wurden von den Zeitgenossen als „eine große Gefahr für die richtige Entwicklung der moralischen Eigenschaften und das Rechtsbewusstsein beim jungen Angeklagten“ (S. 300) erachtet. Auf Initiative einiger Richter eröffnete 1910 das erste russische Jugendgericht in Sankt Petersburg. Zwei Jahre später folgte Moskau dem Beispiel und bis 1917 erhöhte sich ihre Zahl im gesamten Russischen Reich auf insgesamt zehn. Der Ausschluss der Öffentlichkeit vom Verfahren wurde zum Grundprinzip. Die Anwesenheit von Pressevertretern war unerwünscht, Staatsanwälte und Polizei waren nicht beteiligt. Die Gerichtsverhandlungen ähnelten eher einem informellen Gespräch zwischen Jugendrichter und Minderjährigem, in dem sich der Richter mit der Persönlichkeit und den Lebensbedingungen des Delinquenten auseinandersetzte. Die Jugendgerichte trugen seit ihrem Bestehen den Charakter eines öffentlichen Fürsorgers und Erziehers und entwickelten sich während des Ersten Weltkrieges immer stärker zu Zentren der Jugendfürsorge, die sich nun auch dem Schicksal der nicht delinquenten, jedoch in Not geratenen Kinder und Jugendlichen widmeten.

Mit ihrer Arbeit „Zur Erziehung verurteilt“ hat Tatjana Mill Licht auf ein bisher nur wenig beachtetes Thema russischer Rechtsgeschichte geworfen. Akribisch zeichnet sie die russische Adaptation westeuropäischer Debatten zum Jugendstrafrecht nach und gewährt einen fundierten Einblick in das sich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts verändernde Verständnis von Jugend, Kriminalität und Strafe. Zugleich zeigt die Studie, wie die mehrheitlich liberalen russischen Juristen zum Vehikel eines Ideentransfers von Westeuropa nach Russland wurden, der das Schicksal jugendlicher Delinquenten maßgeblich beeinflusste.

Bedauerlich ist jedoch, dass das von Tatjana Mill verwendete Material (juristische Fachzeitschriften, Monographien, veröffentlichte Gesetzgebungsmaterialien) zwar detailliert die Positionen beteiligter Juristen widerspiegelt, jedoch kaum Einblicke in die Praxis der Jugendgerichte und den Alltag der Zwangserziehungsanstalten erlaubt. Der fast vollständige Verzicht auf Archivquellen hinterlässt an diesem Punkt eine Leerstelle. Denn während die Rechtspraxis der regulären und insbesondere der bäuerlichen Wolost-Gerichte gut erforscht ist 2, haben zarische Jugendgerichte bisher kaum die Aufmerksamkeit von Historikern auf sich gezogen. Ein stärkerer Praxisbezug hätte den Erkenntnisgewinn der Arbeit deutlich erhöht.

Dankenswert sind hingegen die in der Arbeit enthaltenden Hinweise auf den Entstehungszusammenhang von Jugendgerichten und staatlicher Fürsorge, aus denen sich Fragen nach den gesellschaftlichen Voraussetzungen und Folgen des neuen Jugendstrafrechts einerseits und nach den Auswirkungen pädagogischer Strafen auf das Selbstverständnis des Staates andererseits ableiten lassen: Wie konnte es im 19. Jahrhundert zu dem neuen Glauben an die Allmacht der Erziehung und zu der Entstehung eines „fürsorglichen“ Staates kommen, der sich plötzlich institutionell für die seelischen Belange seiner Bevölkerung interessierte, der Informationen über die moralische Gesinnung von Kindern und Jugendlichen in den hauptstädtischen Ministerien zu sammeln begann und der langsam in die Sphäre des Privaten eindrang? Die Reform des Strafvollzugs scheint in diesem Prozess eine relevante Rolle gespielt zu haben. Die Frage aber, ob die Reform Nebenprodukt dieses Prozesses war, ihn angestoßen oder bloß begleitet hat, bleibt zukünftiger Forschung vorbehalten.

Anmerkungen:
1 Die Arbeit entstand im Rahmen des Projekts „Lebensalter und Recht“ am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt.
2 Z. B. Jane Burbank, Russian peasants go to court. Legal culture in the countryside. 1905-1917, Bloomington 2004; Stephen Frank, Crime, cultural conflict, and justice in rural Russia. 1856-1914, Berkeley 1999.

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