M. Gindhart u.a. (Hrsg.): Disputatio 1200-1800

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Titel
Disputatio 1200-1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur


Herausgeber
Gindhart, Marion; Kundert, Ursula
Reihe
Trends in Medieval Philology 20
Erschienen
Berlin 2010: de Gruyter
Anzahl Seiten
405 S.
Preis
€ 99,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Robert Seidel, Institut für Deutsche Literatur und ihre Didaktik, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt

Die Jahresangaben im Titel des anzuzeigenden Sammelbandes verweisen darauf, dass es um ein epochenübergreifendes Thema geht, die Formulierung „Leitmedium“ im Untertitel lässt indes die Breite des Gegenstandes allenfalls erahnen: Mit ‚Disputatio(n)’ kann der universitäre Akt bezeichnet sein, in dem – vereinfacht ausgedrückt – der ‚Respondent’ seine in Kooperation mit dem ‚Praeses‘ erarbeiteten Thesen vor dem Publikum, namentlich den gegen ihn auftretenden ‚Opponenten’, verteidigt. Der Begriff kann sich aber auch auf das Druckerzeugnis beziehen, in dem eben jene zu verteidigenden Thesen vorab der Öffentlichkeit bekannt gemacht wurden, das jedoch auch für den späteren Gebrauch, je nach Umfang und Informationsdichte als Argumentationshilfe oder sogar als Wissensspeicher, aufbewahrt werden konnte.

Jenseits dieser materiellen Unterscheidung liegt eine weitere, diachrone Differenzierung des Sachgebietes nahe, insofern nämlich von der mittelalterlichen Scholastik bis zu den frühmodernen Wissenschaftsformen der Aufklärung sowohl die fachlichen Interessen als auch die bildungsgeschichtlichen Rahmenbedingungen und natürlich die Methodik gelehrten Arbeitens sich grundlegend veränderten. Dabei machen konstruierte Epochenschwellen wie die zwischen Mittelalter und Neuzeit oder mediale Revolutionen wie die Erfindung des Buchdrucks nur in ihrer Zusammenschau die Dialektik von Kontinuität und Wandel des Disputationswesens kenntlich. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass das ‚Disputieren’ kein Privileg akademischer Gelehrtenkultur ist, dass vielmehr Wechselbeziehungen zu unterschiedlichsten literarischen Formen bestehen, so dass sich eine Linie von den nur im Gegenstand differierenden akademischen Scherzdisputationen bis zu Spielarten disputationsartiger Kommunikation in fiktionalen Texten praktisch jedes Genres ziehen lässt.

Bei der Sichtung des Sammelbandes, der die Ergebnisse einer interdisziplinären Kieler Tagung im Mai 2007 bündelt und von den Herausgeberinnen Marion Gindhart und Ursula Kundert kenntnisreich eingeleitet wird (S. 1-18), dürfte jeder Benutzer also von unterschiedlichen Vorkenntnissen und Sachinteressen geleitet werden. Wer sich etwa aus primär wissenschaftshistorischer Perspektive dem Gegenstand nähert, wirft zunächst einen Blick auf Hanspeter Martis Beitrag („Disputation und Dissertation. Kontinuität und Wandel im 18. Jahrhundert“, S. 63-85), wo die Gegenstände und pragmatischen Funktionen der Disputationsdrucke zur Zeit der frühen Aufklärung großflächig ausgebreitet werden. Marti ordnet dem Disputationsakt die Aufgabe der „Verteidigung ohnehin als feststehend erachteter, von allen oder den meisten gelehrten Personen anerkannter und daher aus einem Wissensfundus ‚abrufbarer’ Wahrheiten“ zu, betont aber zugleich, dass „das kritische und innovative Potential frühneuzeitlicher Dissertationen nicht zu unterschätzen“ (S. 65) sei. Damit spiegeln die Quellen die dem Wissenschaftsbegriff jener Zeit inhärente Spannung, was sich auch daran zeigt, dass die vielfach systematisch gesammelten Thesendrucke die Funktion von Forschungsberichten oder gelehrten Kompendien einnehmen konnten und mit anderen ‚Leitmedien’ der Zeit wie den aufkommenden Journalen oder den so genannten ‚Litterärgeschichten’ konkurrierten.

Die Medien- bzw. Textsortenproblematik wird explizit von Joseph S. Freedman entfaltet, der die Disputationen im System des frühneuzeitlichen Bildungswesens verortet („Published academic disputations in the context of other information formats utilized primarily in Central Europe [c. 1550 – c. 1700]“, S. 89-128). Dabei wertet er Disputationsdrucke selbst, aber auch pädagogisches und wissenschaftspropädeutisches Fachschrifttum aus, in dem die Funktion des Disputierens und verwandter exercitia reflektiert wird. Ungeachtet der aporetischen Wendung, es sei „difficult – if not impossible – to provide a comprehensive definition or even a satisfactory general description what a disputation is“ (S. 111), vermag Freedman doch eine Fülle von Dokumenten auszubreiten, deren strukturelle und sachliche Analyse (in instruktiven Schaubildern S. 114-128) für den jeweiligen Einzelfall eine sehr genaue funktionale Zuschreibung erlaubt. Freedmans erkennbar passionierte Beschäftigung mit dem Gegenstand gipfelt in dem Hinweis, dass „the generic inclusiveness of the disputation at that period suggests that it could be compared to the inclusiveness of the Internet today” (S. 107).

Die Reihe der systematisierenden, auch selbstreflexive Quellen verarbeitenden Beiträge wird komplettiert durch Donald Felipes Ausführungen zu Disputationsanleitungen aus dem 17. Jahrhundert und eine Studie von Olga Weijers zur akademischen Disputationskultur im späten Mittelalter. Weijers kommt zu dem pointierten, freilich cum grano salis zu lesenden Resümee, dass „the element of research […] was so important in the 13th and 14th centuries“ (S. 31), während sich erst in der Folgezeit diejenigen Missstände herausgebildet hätten, auf die die Humanisten dann kritisch reagierten. Auch Felipe konstatiert, diesfalls für die Generationen vor der ‚Schwelle’ zur Aufklärung, ein erhebliches Problembewusstsein der in den universitären Lehrbetrieb involvierten Gelehrten, das sich in den Anweisungsbüchern vom Typ De methodo disputandi spiegelte.

Zwei Aufsätze sind dem paratextuellen Umfeld von Disputationsdrucken gewidmet: Michael Philipp („Politica und Patronage. Zur Funktion von Widmungsadressen bei politischen Dissertationen des 17. Jahrhunderts“, S. 231-268) belegt eingehend und auf der breiten Quellenbasis von rund 400 Politica-Disputationen die nahe liegende These, wonach beigedruckte Widmungen der Respondenten die doppelte Funktion einer „Danksagung gegenüber Mäzenen und Gönnern“ wie auch eines informellen „Bewerbungsschreiben[s]“ (S. 241) besessen hätten. In Bezug auf letzteren Aspekt macht Philipp deutlich, dass die Verteilung der Dedikationsempfänger auf bestimmte soziale Statusgruppen Aufschluss über das jeweilige „Patronagepotenzial“ (S. 236) dieser Personen geben kann. Tanja van Hoorn gelingt in einer fundierten Einzelfalluntersuchung die spannende Dokumentation einer „Gretchenfrage“ (S. 283) der medizinischen Wissenschaft jener Zeit. Sie erläutert am Beispiel einer Halleschen Disputation von 1743 und ihrer publizistischen Begleitumstände, inwiefern das jeweils gewählte Medium, die Sprache und der argumentative Duktus die Debatte um das ‚mechanistische’ bzw. ‚animistische’ Erklärungsmodell steuerten.

Der größte Teil der in dem Band versammelten Beiträge – 9 von 15 – haben Untersuchungen von Quellen zum Gegenstand, die entweder explizit als Disputationsdrucke bezeichnet werden, als verwandte Textsorten den Vergleich mit dem Modell der akademischen dissertationes herausfordern oder als ‚literarische‘ Texte (in Teilen) formale Strukturen aufweisen, die mit der mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Disputationskultur in Verbindung gebracht werden können. Tatsächlich nutzen Verfasser fiktionaler Texte nach Ansicht der Herausgeberinnen das Disputationsmodell bisweilen, „um Figurenhandlung und die Reflexion darüber erzähllogisch auseinander, aber trotzdem in erzählzeitlicher Nähe zu halten und sie schließlich in verschiedenen Formen der mise-en-abîme zu verschränken“ (S. 13f.). Christiane Witthöfts Studie zur christlich-jüdischen Disputation der Silvesterlegende in der Kaiserchronik, Anja Beckers Analyse des Abtsgepräches in Hartmann von Aues Gregorius, Cordula Kropiks Untersuchung zum Disput über die Liebe in der mittelhochdeutschen Märe von der Heidin und Albrecht Dröses Interpretation des Ackermanns aus Böhmen im Lichte textpragmatischer Zuschreibungsversuche wären vor dem Hintergrund der umfangreichen mediävistischen Spezialforschung zu den jeweiligen Texten zu lesen.

Eine etwas größere Nähe zur akademischen Gelehrtenkultur zeigen die von Sabine Obermaier („Scherz oder Ernst? Disputatio unter Tieren“, S. 311-330) analysierten Texte, auch wenn diese sich durch die Versform, durch die Art der Gesprächsteilnehmer sowie durch die – in der Regel ‚minderwertigen’ oder irrelevanten – Gegenstände maßgeblich von den gewöhnlichen Disputationen unterscheiden. Das Korpus der mittelalterlichen Streitgedichte, in denen Tiere als Disputanten auftreten, weist eine erhebliche Binnendifferenzierung auf, eine Funktionszuschreibung ist schwierig, und nur in einigen Fällen lässt sich der Ansatz einer Parodie des zeitgenössischen Disputationswesens plausibel machen. Anders verhält es sich mit einem Sonderfall der humanistischen disputationes quodlibeticae, denen Johannes Klaus Kipf ("Ludus philosophicus. Zum medialen Status der akademischen Scherzreden des 15. und 16. Jahrhunderts", S. 203-230) eine philologisch ambitionierte Untersuchung widmet. Die behandelten Texte teilen eindeutig den funktionalen Raum der frühneuzeitlichen Universität mit der ernsthaften Disputationskultur, die als Subtext selbstverständlich allen Beteiligten präsent war.

Sowohl mit regulären Disputationen als auch mit verschiedenen publizistischen Formen der theologischen Kontroverse – und mit deren wechselseitiger Beeinflussung – beschäftigt sich Ursula Paintner in ihrer Untersuchung zur antijesuitischen Polemik im 16. Jahrhundert. Renate Schulze weist in einer rechtsgeschichtlichen Fallstudie nach, auf welche Weise Disputationsdrucke, die zunächst als akademische Gelegenheitsschriften erschienen waren, später in ein umfassendes Kompendium überführt wurden. Schließlich legt Gunhild Berg in einer sehr pointierten Untersuchung ihre These dar, wonach die „Preisfragen“ der Wissenschaftsakademien ein spätaufklärerisches Pendant zu den frühneuzeitlichen Disputationen darstellten. Dass zur Zeit der Aufklärung ein Paradigmenwechsel in der Gelehrtenkultur zu konstatieren ist, steht außer Frage; die schroffe Gegenüberstellung des Disputationsaktes als „Zeremoniell der Wahrheitsverkündung“ und der Preisfrage, die „einen entscheidungsoffenen, meinungspluralen, kumulativen Erkenntnisprozess“ (S. 196f.) initiiere, greift jedoch womöglich zu kurz, zumindest wenn man die oft Jahrzehnte währende (kritische) Rezeption der Disputationsdrucke nach dem jeweiligen actus berücksichtigt.

Alles in allem erweist sich der vorgestellte Sammelband als außerordentlich anregend für jeden, der sich mit historischen Kommunikationsprozessen im Grenzbereich von Wissenschaft, Publizistik und Literatur beschäftigt. Inwieweit die Vergleichbarkeit der analysierten Gegenstände gewährleistet ist, ob etwa die Zusammenführung mediävistischer und neuzeitbezogener Forschungen produktiv ist oder die Rezipienten eher überfordert, muss der Rezensent nicht entscheiden. Die Disputationsforschung im engeren Sinne – womit die Beschäftigung mit den akademischen Thesendrucken des 16. bis 18. Jahrhunderts gemeint ist – findet neben bedenkenswerten Thesen und wichtigen Einzelfallanalysen auch wertvolle Hinweise auf einschlägiges, praktisch unbekanntes Material. Dass diese nach Hunderten zählenden Quellenangaben nicht in einem geordneten Verzeichnis zusammengefasst sind, ja dass der Band überhaupt weder ein Namens- noch ein Sachregister besitzt, ist der einzige Wermutstropfen in einer ansonsten vollauf gelungenen Unternehmung.

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