Titel
Qigong Fever. Body, Science and Utopia in China


Autor(en)
Palmer, David A.
Reihe
CERI Series in Comparative Politics and International Studies
Erschienen
London 2007: Hurst & Co.
Anzahl Seiten
XII, 356 S.
Preis
£ 25.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Volker Olles, Ostasiatisches Institut, Universität Leipzig

Der chinesische Terminus qigong (wörtlich etwa: Arbeit an der Lebensenergie) bezeichnet als Sammelbegriff eine Vielzahl von „langsamen gymnastischen Bewegungen, Atemübungen und unterschiedlichen, miteinander kombinierten geistigen Praktiken, die darauf abzielen, die Gesundheit des Einzelnen zu erhalten und die Qualität seiner Lebenskraft zu verbessern.“1 Verschiedene Übungssysteme des qigong haben es auch in westlichen Ländern zu großer Popularität gebracht und werden in unterschiedlichen Institutionen und Vereinen praktiziert. David Palmer beschreibt in seiner Studie hingegen nicht praktische Aspekte dieser Techniken, deren Ursprung in chinesischen Traditionen religiöser Selbstkultivierung liegt, sondern qigong als soziales Phänomen im modernen China. Seine Darstellung, die den Zeitraum von 1949 bis 1999 überspannt, beleuchtet die Systematisierung von qigong für therapeutische Zwecke in der jungen Volksrepublik, seine Entwicklung zur Massenbewegung in den 1980er-Jahren, die Verbindung von qigong mit charismatischer Religiosität, übernatürlichen Fähigkeiten, Fortschritts-Utopien und politischer Macht sowie den weitgehenden Zusammenbruch der qigong-Szene kurz vor Beginn des 21. Jahrhunderts. Den Fachbereich, zu dem Palmer mit seiner Studie einen Beitrag leisten möchte, bezeichnet er selbst als „the history of religion in modern China“ (S. IX). Das Werk ist die überarbeitete, aktualisierte Version einer französischsprachigen Publikation2, die auf Palmers Dissertation basiert.

In der Einleitung (S. 1-28) erfahren wir, dass kommunistische Kader kurz vor Gründung der Volksrepublik China (1949) den Terminus qigong, der in klassischen Schriften belegt werden kann, als Oberbegriff für traditionelle Gesundheitsübungen festlegten. Ihr Projekt war die Etablierung einer billigen, aber effizienten Heilungstechnologie, die, obgleich gespeist aus den Quellen der uralten chinesischen Tradition, von religiösen und abergläubischen Elementen „gereinigt“ werden sollte. In dieser Hinsicht ist qigong, wie Palmer feststellt, eine „invented tradition“ (S. 5). Als Grundlage von qigong identifiziert Palmer traditionelle Körpertechniken (S. 8f.), wobei zu beachten ist, dass der physische Körper in der chinesischen Tradition nicht als eine von mentalen Funktionen, dem Geist oder der Seele getrennte Entität betrachtet wurde.3 Da das höchste Ziel solcher Übungsmethoden oft die Überwindung des Selbst impliziert, meidet Palmer die Bezeichnung „Selbstkultivierungs-Techniken“, die ich in diesem Fall vorgezogen hätte. Es folgt ein Abriss der historischen Entwicklung, der auf die zentrale Rolle dieser Techniken in Daoismus, Buddhismus, Neokonfuzianismus und volksreligiösen Gemeinschaften hinweist. Die ursprünglich oft geheim überlieferten Methoden wurden in der Volksrepublik wiederentdeckt und konzeptualisiert, um als Technologie der Volksgesundheit und schließlich als Vehikel für eine nationalistische oder mystische Bewegung gegen die zunehmende Entfremdung durch die Moderne zu dienen.

Palmer unterscheidet den qigong-Sektor der offiziellen Organisationen vom qigong-Milieu als sozialem Gesamtphänomen. Netzwerke von Praktizierenden einer bestimmten qigong-Methode bezeichnet er als „denomination“ (Gruppe, Gemeinschaft). Bei der Erklärung der Etymologie von qigong (S. 18f.) erwähnt er zwar, dass gong, das zweite Zeichen des chinesischen Begriffs, auch für außergewöhnliche (übersinnliche) Fähigkeiten stehen kann, versäumt es aber, auf eine wichtige Grundbedeutung von gong hinzuweisen: Verdienst bzw. verdienstvolle Handlung, häufig in einem religiösen Kontext. In der Tat verband sich qigong nicht nur mit kommunistischen und pseudo-wissenschaftlichen Utopien, sondern trug auch starke religiöse Züge, obwohl sich die qigong-Gruppen formal von „Religion“ abzugrenzen suchten. Palmer weist darauf hin, dass das traditionelle China kein Konzept von „Religion“ kannte, das von anderen sozialen und kulturellen Bereichen abgegrenzte Institutionen bezeichnete. Der moderne chinesische Begriff für „Religion“, von dem sich die meisten qigong-Praktizierenden distanzierten, ist ein westlicher Import (S. 23f.). So führte das Massenphänomen qigong letztlich zu einem Wiederaufleben von Religiosität außerhalb formaler Institutionen. Insgesamt betrachtet ist die Einleitung von Palmers Studie thematisch zwar ansprechend, aber zu umfassend, so dass sich nach ihrer Lektüre das Gefühl einstellt, man habe bereits das ganze Buch gelesen.

Das erste Kapitel (S. 29-45) beschreibt die Anfangsphase der Geschichte von qigong, in der die traditionellen Techniken gesammelt, aus ihrem „feudalistischen“ Umfeld (Geheimüberlieferung, religiöse Züge) gelöst und im Rahmen von Sanatorien und Kliniken institutionalisiert wurden. Qigong profitierte damals von der Institutionalisierung der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM), die ihrerseits eine Hinwendung Chinas zur einheimischen Zivilisation, vor allem zur Kultur der „Volksmassen“, widerspiegelte. In dieser Phase erhielt qigong einen offiziellen institutionellen Rahmen, der Ende der 1970er-Jahre, nach einem Einbruch während der „Kulturrevolution“ (1966-1976), wiederbelebt wurde und aus dem sich die Massenbewegung der 1980er-Jahre entwickelte.

In Kapitel 2 (S. 46-85) zeigt Palmer, wie sich qigong von Graswurzel-Aktivitäten in öffentlichen Parks zu einer Massenbewegung entwickelte, die durch ihre Heilungserfolge Unterstützer bis in höchste Regierungskreise fand. Es erwachte ein naturwissenschaftliches Interesse an qigong (so wurde zum Beispiel „äußeres qi“ als messbare elektromagnetische Wellen verstanden), das in Verbindung mit der Erforschung übernatürlicher Fähigkeiten in die neue Disziplin der „somatischen Wissenschaft“ mündete. Trotz Opposition entstand so ein großes Forschungsfeld, und es bildeten sich staatliche qigong-Organisationen, die mit hohen politischen Institutionen der Bereiche Naturwissenschaft, Sport, TCM und Militärtechnologie verbunden waren. Auf der Basis des offiziellen qigong-Sektors traten nun immer mehr „Meister“ hervor, die – auf der Grundlage von überlieferten oder erfundenen Traditionslinien – Körpertechniken lehrten, was in Kapitel 3 (S. 86-101) dargestellt wird. Die qigong-Meister mussten sich als charismatische Figuren erfinden, was meist mit der Kreation einer hagiographischen Lebensgeschichte verbunden war. Heilungserfolge und übersinnliche Fähigkeiten machten ihren Ruf aus, neben dem sie sich durch Lobbyarbeit und die Pflege von Beziehungen ein Fundament in der Öffentlichkeit zu schaffen hatten.

Im vierten Kapitel (S. 102-135) erfahren wir, wie sich qigong mit futuristischen Utopien verband und zum Hoffnungsträger für eine Renaissance der chinesischen Zivilisation avancierte. Qigong galt als „Wissenschaft“ des Altertums, als Quelle der chinesischen Kultur, Philosophie und Religion. Durch qigong-Praxis hervorgerufene außergewöhnliche (übersinnliche) Fähigkeiten versuchte man auf der Grundlage marxistischer Lehren, nach denen der Geist als Bewegung von Materie im Gehirn betrachtet wird, systematisch zu erklären. Es gelang freilich nicht, diese Theorien auf ein solides empirisches Fundament zu stellen. Dieser Versuch, die zum Teil sehr subjektiven und schwer fassbaren Wirkungen von qigong in das Korsett materialistischer „Wissenschaftlichkeit“ zu pressen, ist meines Erachtens der Hauptgrund für das letztendliche Scheitern der qigong-Bewegung in China. Kapitel 5 (S. 136-157) beschreibt, wie sich qigong in den 1980er-Jahren durch das Auftreten charismatischer Großmeister, in deren Vorträgen viele Anhänger in Trance fielen, zu einem Massenphänomen entwickelte. In qigong-Kreisen ging man von über 3.000 Gruppierungen aus (S. 194), und einzelne Großorganisationen wie Zhonggong umfassten mehrere Millionen Praktizierende (S. 213). Palmer resümiert, dass qigong zu einem „outlet for mass religiosity“ (S. 154-157) geworden war; eine Aussage, der ich nur eingeschränkt zustimme, da gerade die traditionelle chinesische Religiosität Attribute besitzt (Ritualwesen, Tempelfeste, Schriftenkanon etc.), die qigong weitestgehend fehlen.

Die übrigen vier Kapitel berichten von der allmählichen Schwächung der qigong-Bewegung durch Betrugsfälle und das Wiederaufleben von Kritik ab 1995 (S. 158-182), staatlichen Kontrollversuchen (S. 183-218), dem rasanten Wachstum von Falungong (wörtlich: Dharma-Rad-qigong), das mit teilweise extremistischen Ansichten, Absolutheitsanspruch und rigoroser Disziplin spirituelle Erlösung versprach und sich schließlich vom qigong-Milieu lossagte (S. 219-240) sowie der durch Massenproteste von Anhängern provozierten Konfrontation mit Partei und Regierung, die im Verbot und der gewaltsamen Unterdrückung von Falungong mündete (S. 241-277). Seit der Unterdrückung von Falungong (1999), in deren Zuge auch andere Gemeinschaften verfolgt wurden, wird die qigong-Praxis restriktiv kontrolliert, und der qigong-Sektor als dynamischer gesellschaftlicher Raum existiert nicht mehr. Abschließend weist Palmer auf die Nähe von qigong zum Milieu volksreligiöser Sekten (S. 285-290) hin. Als Bestandteil der chinesischen Tradition traten solche Gemeinschaften vor allem dann verstärkt auf, wenn staatliche Kontrolle und Repression die institutionalisierten Religionen geschwächt hatte. Besonders bei Falungong zeigten sich typische Eigenschaften dieser Sekten in aller Deutlichkeit.

Als Sinologe hätte man sich in der Bibliographie die Wiedergabe chinesischer Titel in Originalschrift gewünscht, und auf die chinesischen Namen und Begriffe im Index hätte mehr Sorgfalt verwendet werden müssen. So sind beispielsweise das Übungssystem „Acht Brokate“ (baduan jin, S. 347) und der Name des ehemaligen Ministerpräsidenten Zhu Rongji (geb. 1928, S. 356) mit falschen Zeichen geschrieben. Positiv hervorzuheben ist, dass Palmer eine große Menge chinesischer Quellen erschlossen hat. Das informative und spannende Buch, das streckenweise Charakterzüge des investigativen Journalismus trägt, sei allen empfohlen, die die historische Entwicklung des Phänomens qigong in seinem Ursprungsland interessiert.

Anmerkungen:
1 Catherine Despeux, Das Mark des roten Phönix. Unsterblichkeit, Gesundheit und langes Leben in China (aus dem Französischen übertragen von Stephan Stein), Uelzen 1995, S. 9.
2 David A. Palmer, La fièvre du qigong. Guérison, religion et politique en Chine, 1949-1999, Paris 2005.
3 Der Begriff shen (Leib, Körper) bedeutet im klassischen Schrifttum auch „selbst“, „Persönlichkeit“ und „Individuum“; siehe Ulrich Unger, Grundbegriffe der altchinesischen Philosophie. Ein Wörterbuch für die Klassische Periode, Darmstadt 2000, S. 101f.

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