G. D. Hundert (Hrsg.): YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe

Titel
The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe.


Herausgeber
Hundert, Gershon David
Erschienen
Anzahl Seiten
2 Bde., 2448 S.
Preis
$ 400
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Felix Heinert, Abteilung für Osteuropäische Geschichte / a.r.t.e.s. Forschungsschule, Universität zu Köln

Die Herausgeber/innen der YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe haben ein monumentales Standardwerk vorgelegt, das sowohl für interessierte Laien als auch für Spezialist/innen zu einem unverzichtbaren Nachschlagewerk wird. Dieses voluminöse Werk, das von über dreißig international namhaften Mitgliedern des Editorial Board unter der Führung von Gershon David Hundert konzipiert und vorbereitet und von über 450 Autor/innen aus den USA, aus Israel, Osteuropa und anderen Teilen der Welt verfasst wurde, umfasst zwei hochwertig gestaltete Bände mit insgesamt mehr als 2400 Seiten sowie zahlreichen Abbildungen. Nach etwa zehnjähriger Vorbereitung ist ein Nachschlage- und Standardwerk entstanden, das das Ziel hatte, allgemein verständlich das „gesamte“ Feld der jüdischen Erfahrungen in „Osteuropa“ im Lichte des aktuellen Forschungsstandes enzyklopädisch zu ordnen. Wie Gershon David Hundert im Vorwort betont: „[p]recisely because The YIVO Encyclopedia has no precedent, it not only concentrates, clarifies, and synthesizes knowledge on numerous topics for the first time, but we hope it will also serve, by its very existence, to create a field of inquiry for future generations” (S. XII).

Es mag ein wenig überraschen, dass ein derartiges Werk erst am Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts entstehen konnte. Gab es doch bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts nennenswerte Ansätze, jüdische Geschichte(n) und Lebenswelten im Osten Europas historiographisch sowie ethnographisch zu vermessen.1 Für Simon Dubnow, der vor gut hundert Jahren als Historiker und Politiker ein diaspora-nationalistisches Geschichts- und Gesellschaftsbild konstruierte und maßgeblich prägte, kam der osteuropäisch-jüdischen Geschichte eine zentrale Rolle innerhalb der jüdischen „Weltgeschichte“ zu.2 Als Politiker verband er sein Geschichtsbild mit der Forderung nach kultureller Autonomie in der Diaspora; als Historiker integrierte er die Geschichte der Juden Osteuropas in seine Meistererzählung der Weltgeschichte des jüdischen Volkes. Schließlich lebte die überwältigende Mehrheit der jüdischen Bevölkerung der Welt zu Beginn des letzten Jahrhunderts in Ost(mittel)europa.

Angesichts der Feststellung, dass heute die meisten Juden – einschließlich der großen Mehrheit der Juden der USA sowie die Hälfte der israelischen Juden – osteuropäischen Vorfahren abstammen, formuliert Gershon David Hundert das bisherige Defizit so: „As the twenty-first century commences, many seek to know more about their origins and the experience of their ancestors, but there exists no comprehensive, reliable resource that might act as a port of entry to the history and culture of East European Jewry.” (S. IX) Zudem sei ein solches Werk durch die Entwicklungen des letzten Jahrhundertviertels nunmehr möglich geworden.

Nicht zufällig ist es das YIVO (Yidisher Visnshaftlekher Institut YIVO mit Hauptsitz vor dem Zweiten Weltkrieg in Wilna/Polen, heute: YIVO Institute for Jewish Research, New York) gewesen, das sich die Aufgabe gestellt hat, ein enzyklopädisches Standardwerk vorzulegen, das wissenschaftlich fundiert eine breite Leserschaft adressiert und das „Erbe“ der osteuropäischen Juden rekonstruiert. Schließlich fanden diaspora-nationalistische sowie (unterschiedliche) jiddischistische Geschichts- und Gesellschaftsentwürfe in den 1920er-Jahren eine institutionelle wissenschaftliche Basis im Umfeld der osteuropäisch- bzw. russisch-jüdischen Emigrantenzirkel in Berlin, Wilna, Warschau, Buenos Aires und anderen Städten: das YIVO war entstanden und sollte das nationalistische Projekt der Definition einer jiddischen Nation verwissenschaftlichen und institutionalisieren.3 Speiste sich die jiddischistisch-nationalistisch gerahmte wissenschaftliche Agenda des Instituts vor dem Zweiten Weltkrieg nicht zuletzt durch Faktoren wie politischen Kampf um Kulturautonomie und Minderheitenrechte, so ist die heutige Mission von YIVO durch die Erforschung, Archivierung und öffentliche „Vermittlung“ des „kulturellen Erbes“ der osteuropäischen Juden (sowie die Erforschung und Pflege der jiddischen Sprache und Literatur) definiert.

Die Herausgeber/innen haben sich aus pragmatischen Gründen entschieden, das Leben von Juden in „Osteuropa“ darzustellen und die Erfahrungen der Juden aus „Osteuropa“ – mit wenigen Ausnahmen 4 – weitgehend auszuklammern. Ebenfalls pragmatisch wurden die geographischen Grenzen des Konstruktes „Osteuropa“ für die Zwecke der Encyclopedia gezogen. Sie umfassen Tschechien, Slowakei, Ungarn, Rumänien, Polen, baltische Staaten, Finnland, Moldawien, Ukraine, Weißrussland und Russland. So problematisch eine solche Operationalisierung ist – zumal für Mittelalter oder Frühe Neuzeit –, so nachvollziehbar ist das pragmatische Argument im Vorwort, dass eine andere Grenzziehung andere Probleme aufwerfen und vor allem die Mehrheit der Leser/innen schlicht verwirrt hätte.

Es geht den Herausgeber/innen, auch wenn sie das Leben von Juden in Osteuropa bis zur Gegenwart verfolgen, in erster Linie um die „Welt davor“, vor dem Holocaust in Osteuropa. Jedoch ist das alles andere als Leidens- oder Opfergeschichte, die sie vor Augen haben. Auch diese Perspektive hat letztlich Wurzeln im diaspora-nationalistischen Selbst- und Weltbild der YIVO-Gründerväter (es gab nicht viele Gründermütter) sowie in den Axiomen der amerikanisch-jüdischen Historiographie, die maßgeblich von osteuropäischen Einwanderern, wie Salo Baron, geprägt worden war. Auch der Holocaust nimmt keinen zentralen Platz in der YIVO Encyclopedia ein.

Vor diesem Hintergrund ist auch das Anliegen der Encyclopedia zu sehen, das im Vorwort als eine Kombination von Traditionspflege und wissenschaftlich-nüchterner Darstellung präsentiert wird: „[...] the piety – our obligation to our ancestors – is expressed in our determination to present East European Jewish civilization without bias and without nostalgia but as comprehensively and as objectively as possible.” (S. IX) Daher sei die Encyclopedia bemüht, das gesamte osteuropäisch-jüdische Leben in all seiner Vielfalt zu repräsentieren: religiös und säkular, männlich und weiblich, urban und ländlich, Chassidim und Mitnagdim, Jiddischisten und Hebraisten, Zionisten und Assimilationisten, russisch und polnisch, litauisch und galizisch, sogar karäisch und rabbinisch etc. Ein solches Anliegen führt natürlich tendenziell zur Essentialisierung und außerdem zur Kanonbildung, was auch im Vorwort kritisch reflektiert wird: Eine solche sei zwar in der akademischen Welt aus der Mode gekommen, für eine Enzyklopädie sei sie durch notwendige Auswahl unvermeidlich. So soll die Encyclopedia zugleich notwendige und für das Feld fruchtbare Debatten anstoßen.

Indem aber die epistemologische und konzeptionelle Problematik im Vorwort diskutiert und auch in mehreren thematischen Artikeln auf der Höhe der aktuellen kulturtheoretischen Deutungsangebote und historiographischen Forschungsdiskussionen mitverhandelt wird (so, um nur ein paar Beispiele zu nennen, im aufschlussreichen Artikel zu „Memory“ von David G. Roskies, im luziden Beitrag zu „Autobiography and Memoir“ von Marcus Moseley, im instruktiven Überblicksartikel „Historiography: An Overview“ von Samuel Kassow oder in weiterführenden Überlegungen zu „Gender“ von Paula E. Hyman), weist die YIVO Encyclopedia ein hohes Maß an Reflexivität auf.

Es scheint müßig, über Auswahl und Gewichtung der Stichworte bzw. Einträge zu streiten und nach Lücken bzw. Unzulänglichkeiten zu suchen. Sicherlich hatte der Rezensent an der einen oder anderen Stelle etwa die Frage, welche Relevanz der Aufnahme bestimmter biographischer Einträge zugrunde lag oder warum es – zum Beispiel – keinen separaten Eintrag zu Genrich Sliozberg, Michail Morgulis oder Leon Mandel’štam gibt. Die teilweise bemerkbare Heterogenität der qualitativen und quantitativen Durchdringung der einzelnen Themenbereiche bzw. Beiträge entspricht durchaus dem Stand des Forschungsfeldes. In der Tat: „An encyclopedia cannot commission new research.” (S. X) Manche biographischen Beiträge haben bloße faktographische Funktion, die aber einem der zentralen Anliegen des Projektes durchaus entspricht, auch wenn die Forschungsrelevanz bisweilen darunter leidet. Auf der anderen Seite gibt es eine ganze Reihe von qualitativ hochwertigen, vor allem thematischen Artikeln, die von führenden Wissenschaftler/innen verfasst sind und äußerst anregende Literatur- und Forschungsberichte bieten (incl. weiterführende Literaturempfehlungen und Querverweise zu verwandten Themen).

So erschließt sich beim Blättern, Querlesen und Studium der Enzyklopädie nicht nur ein buntes und spannendes Mosaik von Themen und Perspektiven (zum Beispiel: „Calendars“, „Cantors“, „Cartoons“) – es wird zugleich durch bereits erwähnte und viele weitere thematische „Klammern“ eine gewisse inhaltliche Kohärenz und solide Forschungsverankerung hergestellt. Apropos blättern. Am 10.06.2010 ist die YIVO Encyclopedia zusätzlich zur gedruckten Version online gegangen und bietet nun – kostenlos – die Möglichkeit zu Recherchen in der umfangreichen und schön gestalteten online-Version.5 Ein faires und schönes Angebot für all diejenigen, die sich die relativ kostspielige Anschaffung der zwei Bände nicht ohne Weiteres leisten können. Damit bleibt YIVO seiner öffentlichen Mission und seinem historischen „Auftrag“ treu und erfindet damit sich sowie das osteuropäische Judentum zu Beginn des 21. Jahrhunderts neu.

Und was ist mit der (spirituellen) Sehnsucht nach Zion, dem gelobten Land? Die Antwort scheint dem Rezensenten ganz einfach und (für diejenigen, die auf den real existierenden jüdischen Staat oder auf Eretz Israel bzw. Palästina tippen würden) vielleicht etwas überraschend zu sein: Das gelobte Land liegt in Osteuropa! Osteuropa und dessen einzelne Ortschaften haben, so könnte man argumentieren, in der Meta-Konzeption der YIVO Encyclopedia sowie in den mentalen Karten der intendierten und tatsächlichen Leserschaft den traditionellen, mythischen Platz von Zion eingenommen – mit eigenen Erinnerungsgeboten, Ritualen, Metaphern, biblischen Motiven, säkularen und religiösen Praktiken, Pilgerfahrten und Spendensammlungen etc. Das ist eine Erkenntnis, die neuere Studien empirisch – auch für die Zeit vor der Gründung des Staates Israel – herausarbeiten und damit das Diaspora-Konzept dynamisieren, historisieren und neuverorten könnten.6 Auch dazu bietet die YIVO Encyclopedia den interessierten Leser/innen spannende Entdeckungen.

Anmerkungen:
1 Zur ethnographischen Vermessung der jüdischen Lebenswelten Osteuropas zu Beginn des 20. Jahrhunderts vgl. Eugene M. Avrutin (Hrsg.), Photographing the Jewish Nation: Pictures from S. An-sky’s Ethnographic Expeditions, Waltham 2009.
2 Vgl. Anke Hilbrenner, Diaspora-Nationalismus. Zur Geschichtskonstruktion Simon Dubnows, Göttingen 2007.
3 Vgl. Itzik Nakhmen Gottesman, Defining the Yiddish Nation: The Jewish Folklorists of Poland, Detroit 2003.
4 Siehe etwa den Artikel von Eli Lederhendler zum Stichwort „America“.
5 <http://www.yivoencyclopedia.org> (21.08.2010)
6 Vgl. Rebecca Kobrin, Jewish Bialystok and Its Diaspora, Bloomington 2010.

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