G. Ambrosius u.a. (Hrsg.): Standardisierung und Integration

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Titel
Standardisierung und Integration europäischer Verkehrsinfrastruktur in historischer Perspektive.


Herausgeber
Ambrosius, Gerold; Henrich-Franke, Christian; Neutsch, Cornelius; Thiemeyer, Guido
Reihe
Schriftenreihe des Instituts für Europäische Regionalforschungen 13
Erschienen
Baden-Baden 2009: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
198 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ralf Roth, Historisches Seminar, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Der Sammelband greift ein nicht unwichtiges Thema für die Geschichtswissenschaft im Allgemeinen und die historische Verkehrsforschung im Besonderen auf. Standardisierung ist ein durchaus vielschichtiger Begriff. Im eigentlichen Wortsinn bedeutet er eine Vereinheitlichung von Maßen, Typen oder Verfahrensweisen, um die Effizienz von Arbeitsabläufen zu verbessern. Standardisierung im Verkehr meint dagegen Bemühungen, die Schnittstellen zwischen den Teilnetzen eines Systems oder auch die Kombinationsfähigkeit verschiedener Netze zu vereinheitlichen, um Durchlässigkeit und Effizienz zu steigern. Das scheint auf den ersten Blick ein Thema zu sein, das vor allem Ingenieure angeht. Es ist jedoch von allgemeiner historischer Bedeutung. Die jüngere Geschichte kennt mehrere Beispiele dafür, dass Standardisierungsvorgänge eine unglaubliche, geradezu revolutionär zu nennende Dynamik mit gravierenden Auswirkungen auf alle Teile der Gesellschaft ermöglicht haben. Man denke nur an das „Transmission Control Protocol / Internet Protocol“ (kurz und besser als „TCP/IP“) bekannt. Auf diesem Standard basiert die Kommunikation zwischen Computernetzen. Der Prozess der Durchsetzung dieses Standards, die Standardisierung, schuf das Internet. Ein anderes Beispiel, das rund 180 Jahre zurückliegt, ist die Spurweite der Eisenbahnen, die bei allen Abweichungen im einzelnen, die Douglas Puffert jüngst in seinem Buch „Tracks across Continents“ erforscht hat, prinzipiell einen teilnetzübergreifenden Betrieb verschiedener Eisenbahnnetze ermöglicht.1 In Europa und Nordamerika bildete sich zusammen mit dieser Standardisierung ab den 1850er-Jahren ein kontinentaler Schienenverkehr heraus – trotz russischer, spanischer und pfälzischer Eskapaden.

Diesem Themenfeld also widmet sich der aus einem Workshop des Arbeitskreises Verkehrsgeschichte der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte hervorgegangene Band. Er fragt nach der Integration von großräumigen Infrastrukturen, dem Zusammenwirken der Netze und danach, welche Rolle Standards und rechtliche Rahmenbedingungen dabei spielen. Dabei werden verschiedene Teilaspekte beleuchtet, die geeignet erscheinen, Mosaiksteine für ein größeres Panorama zu liefern. Heike Baltes hat einen verdienstvollen einführenden Beitrag geschrieben. Sie hebt die allgemeine Bedeutung des Themas hervor, definiert den Begriff Standardisierung und geht auf die verschiedenen Formen der Durchsetzung von Standards ein. Sie nennt dabei den Markt, gesetzliche Regulierung, aber auch Unionen und transnationale Vereine, die – wie die Union internationale des chemins de fer (UIC) für die Eisenbahn oder der Weltpostverein (Union postale universelle – UPU) bzw. Welttelegraphenverein (International Telecommunication Union – ITU) für den Brief- und Telegraphenverkehr – wichtige Beiträge zur globalen Standardisierung von Verkehrs- und Nachrichtennetzwerken geliefert haben. Sie hebt weiterhin hervor, dass mit dem Sammelband nicht beabsichtigt war, auf die Wirkung der Standardisierung einzugehen (S. 17). Das ist aufgrund der Fülle und Komplexität eines solchen Vorhabens zwar verständlich, dennoch bedauerlich, weil sich erst in den Konsequenzen die historische Bedeutung des Themas voll erschließt.

Gerold Ambrosius fragt im Anschluss grundsätzlich nach genau dieser historischen Bedeutung des Themas. Er geht systematisch auf die „Typen der Standardisierung“ ein und gibt überzeugende Antworten auf vier zentrale Fragen: Was bedeutet Standardisierung? Warum kommt es zur Standardisierung? Wie verläuft Standardisierung und gibt es historische „Standards“ der Standardisierung? Ausführlich geht er dabei auf die sozialen, politischen oder kulturellen Ursachen für Standardisierung ein und hält es für möglich, ihnen bestimmte Standardisierungsmuster zuzuordnen.

Nach diesen beiden Grundsatzartikeln folgt eine Reihe von Fallstudien, mit denen die Zielperspektiven des Bandes verdeutlicht werden. Uwe Müller widmet sich der Standardisierung im Straßen- und Straßenfahrzeugbau, setzt dabei in der frühen Neuzeit an und führt den Leser bis in das beginnende 20. Jahrhundert. Zusammen mit dem Straßenbau entstanden Straßen- und Wegeordnungen. Dahinter stand das Problem der geringen Belastbarkeit des Straßenkörpers durch schwere Lasten oder durch massenhafte Nutzung. In den Ordnungen legten die zuständigen Behörden neben vielen anderen Parametern Breite, Wölbung und maximale Steigung fest. Im strengen Sinn handelt es sich hier nicht um eine Standardisierung der Straßen, sondern um Regularien für ihren Bau. Den Ergebnissen steht Müller kritisch gegenüber: Er zieht den Schluss, dass Standardisierung hier weniger eine notwendige Maßnahme für den Straßenbau bildete, sondern eher als Produkt der voranschreitenden Professionalisierung und Bürokratisierung anzusehen ist.

Cornelius Neutsch rückt hingegen tarifäre, betriebliche, administrative und technische Standards ins Zentrum seiner Überlegungen zu Standardisierungen im Postverkehr des 19. Jahrhunderts. Eine große Rolle spielten die Vereinigungen vom Deutsch-Österreichischen Postverein bis hin zum Weltpostverein. Von ihnen wurden Tarife und Nutzung der Routen sowie praktische Notwendigkeiten festgelegt und so die Voraussetzungen für eine globale Verfügbarkeit der Dienstleistung geschaffen. Einen ganz anderen Aspekt hebt Christopher Kopper in seinem Beitrag über Automatisierung und Rationalisierung bei der Deutschen Bundesbahn hervor. Mit diesem Thema umkreist er in einer etwas größeren Distanz zum Begriff Standardisierung Gesamtzusammenhänge, in denen häufig Strategien zur Durchsetzung allgemeiner Standards eingesetzt werden. Er weist dabei unter anderem auf Standardisierungsbemühungen beim Personenwagenpark hin, führt dies aber leider nur sehr knapp aus. Stattdessen konzentriert sich der Beitrag auf die Widerstände im Unternehmen gegen organisatorische Rationalisierungsmaßnahmen in den drei Jahrzehnten vor der großen Bahnreform zu Beginn der 1990er-Jahre.

Ein sehr viel konkreteres Beispiel für Standardisierung und zahlreiche Details zum Prozess ihrer Durchsetzung liefert Gisela Hürlimann mit dem Beispiel des ambitionierten Versuchs europäischer Bahngesellschaften, in den fünf Jahrzehnten zwischen 1958 und 2008 eine „interoperable“ Zugsicherung durchzusetzen. Die Palette der Probleme, die Widerstände gegen Standardisierungsvorhaben und die oft dürftigen Ergebnisse werden in einem weiteren Beitrag zu den europäischen Bahnen von Christian Henrich-Franke noch etwas grundsätzlicher diskutiert. Er fragt nach den Möglichkeiten und Grenzen technischer Standardisierung jenseits nationalstaatlicher Durchsetzungskompetenzen und kommt zu dem nüchternen Ergebnis, dass Standardisierung „bei weitem kein Vorgang [ist], der sich vor dem Hintergrund eines technisch-ökonomischen Rationalkalküls vollzieht“ (S. 134), sondern vielfach von politischen Interessen überlagert wurde.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Guido Thiemeyer in seinem Beitrag über die Integration und Standardisierung in der internationalen Rheinschifffahrt. Richteten sich die Bemühungen der in einer transnationalen Vereinigung zusammengeschlossenen Reedereien in erster Linie darauf, ein „Preis- und Quotenkartell für bestimmte Güter auf bestimmten Strecken des Rheinverkehrs zu errichten“ (S. 144), so schalteten sich bald die Behörden der betroffenen Anrainerstaaten ein. Die gegensätzlichen politischen Interessen verhinderten eine Einigung. Deshalb wurde das Problem an die Verbände zurückverwiesen. Heraus kamen Tarifsysteme, die nicht unbedingt das Interesse der Kunden widerspiegelten.

Eine andere Form der Standardisierung begleitete die Entstehung des Containersystems zwischen Europa und den USA, dem sich Alexander Klose widmet. Er bezieht sich dabei auf ein Thema, das in letzter Zeit größere Aufmerksamkeit erregt hat.2 Ihn interessiert jedoch weniger die technische und logistische Durchsetzung des Containergüterverkehrs als die damit verbundene Standardisierung. Überzeugend behandelt er die Vorschläge verschiedener amerikanischer Expertenkommissionen sowie die Auseinandersetzung mit und in der International Organization for Standardization (ISO), die einen vermittelnden Normenkatalog verabschiedete, der allerdings nach Meinung des Autors keine praktische Relevanz erhielt, weil sich unabhängig von der Normierung auf dem Markt ein einfach gehaltenes Containermaß durchsetzte. Aus den „Twenty-Foot Equivalent Units“ hat sich wiederum die heute gebräuchliche Maßeinheit TEU-Container für den Güterverkehr herausgebildet. Zuletzt zeigt Stefan Albrecht, wie der Kalte Krieg Standardisierungsbemühungen der International Civil Aviation Organization (ICAO) konterkarierte. Bemühungen der Tschechoslowakei, sich ihren Standards anzuschließen, scheiterten, weil die Sowjetunion aufgrund militärpolitischer Überlegungen eigene Standards durchsetzen wollte.

Insgesamt fällt auf, dass die Beiträge in vielen Fällen gescheiterte Standardisierungsprozesse aufgreifen, die, wie Heike Baltes kritisch feststellt, „Netzwerkeffekte nur bedingt ermöglichten“ (S. 12). Erfolgreiche Standardisierungen werden dagegen weniger behandelt. Es wird dabei nicht hinterfragt, ob nur das funktioniert, was sich technisch reibungslos ineinanderfügt, und was an Kreativität freigesetzt wird, um Ineffizienzen zu überwinden. Auch konzentriert sich der Band auf die Verkehrsbereiche Eisenbahn und Schiff und beschäftigt sich nur am Rande mit den Straßen- und Flugverkehrsnetzen. Die wichtigen Medien des Nachrichtenverkehrs, die gerade auf dem engen Zusammenwirken von standardisierten Netzen im Weltmaßstab basieren, sind ebenfalls unterrepräsentiert. Dennoch leistet der Band einen großen Dienst, indem er unmissverständlich darauf hinweist, „dass Standardisierung und Netzwerkeffekte ein zukunftsträchtiges Thema darstellen, wobei eine Vernetzung der laufenden Forschungsarbeiten zu wünschen ist“ (S. 13).

Anmerkungen:
1 Douglas J. Puffert, Tracks across Continents – Paths through History. The Economic Dynamics of Standardization in Railway Gauge, Chicago 2009.
2 Arthur Donovan / Joseph Bonney, The Box That Changed the World. Fifty Years of Container Shipping, East Windsor 2006.

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