T. Krüger: Die Entdeckung der Eiszeiten

Cover
Titel
Die Entdeckung der Eiszeiten. Internationale Rezeption und Konsequenzen für das Verständnis der Klimageschichte


Autor(en)
Krüger, Tobias
Reihe
Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte 1
Erschienen
Basel 2008: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
619 S.
Preis
€ 61,60
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Joachim Radkau, Universität Bielefeld

Auf dem Cover des Buches erblickt man keinen Eisberg, sondern einen riesigen Findling in einer nur leicht gewellten Landschaft, vom Verfasser selbst oberhalb von Knonau im Kanton Zürich fotographiert. Der Laie, auf den ersten Blick etwas verdutzt, begreift bei der Lektüre schon bald, dass wir mit dem Findling genau beim Thema sind; denn immer wieder waren es die Grübeleien im Anblick dieser erratischen Gesteinsbrocken, die die Eiszeittheorie inspirierten – aber auch rivalisierende Theorien.

Das Buch entstand als Dissertation an der Universität Bern. Tobias Krüger war dort Assistent von Christian Pfister, der zu den international führenden Protagonisten der Klima- und Umweltgeschichte gehört. Es passt zum Thema, dass ein derartiges Opus von einem Schweizer verfasst ist; denn wenn man in der Ferne die Alpengletscher sah, kam man viel leichter als in der norddeutschen Tiefebene, vor Findlingen meditierend, auf die Idee, dass es Eismassen waren, die diese Steinbrocken einst transportiert hatten. Der berühmteste Entdecker der Eiszeit ist ein Geologe aus der französischen Schweiz, Louis Agassiz (1807-1873), der seither, obwohl er später in die USA ging, mit schweizerischem Patriotismus als ein Wilhelm Tell der Geowissenschaften, ein kühner und treffsicherer Pionier verehrt wird; denn nur unter heftigen Kämpfen brachte er seine Eiszeittheorie zum Sieg. Man lese (S. 217), wie schaurig er im Juli 1837 der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft die Eiszeit als eine ziemlich plötzliche Katastrophe schilderte: „Der Tod breitete ein Leichentuch über die gesamte Natur …“ Da wuchs im Saal die Unruhe, und am Ende entstand eine „heillose Verwirrung“. Nur Agassiz selbst blieb unbeirrt.

Krüger macht jedoch den helvetischen Heroenkult um Agassiz nicht mit. Er schildert diesen Kolumbus der Eiszeit vielmehr als schillernde Persönlichkeit: in seinen Anfängen gewissenhafter Empiriker, der mit wachsendem Ruhm jedoch ein noch höheres Geltungsbedürfnis ausbildet und dabei gegenüber Kollegen, die seinen Entdeckernimbus zu schmälern drohen, jede Skrupel verliert. Denn in Wahrheit war er keineswegs als einziger auf die Eiszeitthese gekommen. Krüger stellt in geradezu epischer Breite dar, wie bemerkenswert parallel sich die Diskussionen in einer ganzen Reihe von Ländern, sogar fern der Gletscher, nach einigem Hin und Her in Richtung der Eiszeittheorie entwickelten: ein alles in allem eindrucksvolles Panorama einer transnationalen Wissenschafts-Community, über alle Sonderwege und Streitereien hinweg.

„Klima“ hat seit Jahren Konjunktur; kein Wunder, dass es zu zahlreichen publizistischen Schnellschüssen geführt hat. Zu diesen gehört das vorliegende Buch jedoch überhaupt nicht: Es ist ein Opus von grüblerischer Gründlichkeit und einer geradezu altmodischen Detailverliebtheit, unbelastet von modernem wissenschaftstheoretischem Jargon, dafür mitunter mit verstecktem Humor. Vorzüge und Nachteile hängen zusammen: Ohne die Zwischenbilanzen würde der Leser, der über kein Spezialwissen verfügt, hoffnungslos den Faden verlieren, und selbst in diesen Resümees schweift der Verfasser immer wieder in pittoreske Schnörkel ab. Ein beschaulicher Leser wird dem Autor die Detailfreude verzeihen; denn die Entdeckung der Eiszeiten ist in der Tat ein außerordentlich fesselndes Kapitel der Wissenschaftsgeschichte, das zudem merkwürdig wenig bekannt ist – was wohl seinen Grund hat; denn diese Geschichte ist unübersichtlicher als etwa der Durchbruch der Oxidations- oder der Relativitätstheorie.

Nur aus dem Rückblick erscheint die Eiszeittheorie einfach und evident; im 19. Jahrhundert konnte man sich ihr – wie Krüger darstellt – nur schrittweise annähern. Als erstes identifizierte man Eiszeiten in bestimmten Regionen; nur zögernd gelangten dann mehr und mehr Geowissenschaftler zur Annahme einer regionenübergreifenden Eiszeit, und noch länger war der Weg zur Unterscheidung mehrerer aufeinander folgender Eiszeiten. Und dann das große Rätsel der Ursache! Und die mulmige Frage, was dieses aufregend neue Bild der Klimageschichte für die Zukunft bedeuten könnte! Das Buch schließt mit der Entdeckung des durch Kohlendioxyd hervorgerufenen Treibhauseffektes durch Arrhenius: Das Ende dieser Geschichte ist der Beginn der modernen Klimadiskussion. Da sich von der Eiszeittheorie her jedoch erst einmal die Sorge vor einer künftigen neuen Eiszeit aufdrängte – noch 1978 erschien ein aus CIA-Quellen schöpfendes Sensationsbuch mit dem Untertitel „Die nächste Eiszeit kommt bestimmt“ – , wurde der Treibhauseffekt vorerst als Hoffnungsschimmer wahrgenommen.

Die wissenschaftshistorischen Grundsatzfragen sind nun die: Mit welcher Methode gelangte man zu der neuen herrschenden Lehre; in welcher Weise musste man umdenken; durch welche Faktoren wurde der Durchbruch der neuen Theorie blockiert – handelte es sich bei der alten wie bei der neuen Lehre um Paradigmen im Sinne von Thomas S. Kuhn, zwischen denen eine Revolution in den Denkmustern liegt? Es hätte sich gelohnt, wenn Krüger diesen Fragen gezielter und kontinuierlicher nachgegangen wäre, zumal er Indizien in Hülle und Fülle zumindest zu Teilantworten liefert. Wenn man sich erinnert, wie sich noch Darwin mit dem Widerspruch seiner Lehre zur biblischen Schöpfungsgeschichte quälte, könnte man ähnliche Hemmnisse bei der Eiszeittheorie annehmen. Dem ist jedoch nicht so: Die Sintflut begegnet in der einschlägigen Literatur nur noch als Metapher, nicht mehr als Dogma. Und auch die gütige Mutter Natur der Physikotheologen des 18. Jahrhunderts, der man ungern eine Eiszeit zugetraut hätte, scheint den Geowissenschaftlern des 19. Jahrhunderts nicht mehr viel zu schaffen gemacht zu haben.

Undenkbar war eine Eiszeit schon vor Agassiz längst nicht mehr: Kein Geringerer als Goethe, der Natur-Enthusiast, hielt sie in älteren Jahren für wahrscheinlich. Das Gros der Goethe-Forscher, die darüber grollen, dass der reife Goethe so viel Zeit und Mühe auf die Naturforschung verwandte, statt einen Faust III zu schreiben, hat von dieser bahnbrechenden Einsicht des Dichterfürsten kaum Notiz genommen. Am meisten gefiel Goethe an der Eiszeitthese, dass man mit ihr den von ihm verabscheuten Vulkanisten eins auswischte, denen zufolge die Erde früher nur hätte wärmer sein können, worauf auch die fossilen Reste tropischer Vegetation hindeuteten.

Mit dem Streit zwischen Neptunisten und Vulkanisten geraten wir an den vielleicht interessantesten Punkt dieser Darstellung. Das Problem war, dass die Eiszeittheorie zunächst zwischen den Fronten lag. Dass sie mit der Gewalt des Wassers operierte, wenn auch des zu Eis erstarrten, war neptunistisch; im Gesamtdesign jedoch entsprach die Eiszeit dem Katastrophenszenario des Vulkanismus. Aus Krügers Opus kann man den Eindruck gewinnen, dass die Eiszeittheoretiker in dem Moment zum Siege gelangten, als sie ihre Zwischenposition in einen Vorteil verwandelten und eine Art Synthese aus Neptunismus und Vulkanismus präsentierten: zu einem Zeitpunkt, als die Grenzen des Erklärungsvermögens dieser einseitigen Extrempositionen evident geworden waren. Auch wurde erst im Laufe des 19. Jahrhunderts klar, dass die Auffaltung der Alpen lange vor den Eiszeiten lag; zunächst hatte man sich noch vorstellen können, dass die nach oben drängenden Alpen „wie sprießender Löwenzahn einen Europa bedeckenden Eisschild“ hochstülpten, auf dem dann die Findlinge bis nach Norddeutschland rutschten (S. 208).

Interessant ist die Rolle, die bei alledem die Anschauung spielte. Dass sich gewaltige Eismassen bewegen und selbst riesige Steinblöcke vor sich herzuschieben vermögen, war durch keine unmittelbare Anschauung evident: Durch diese gelangte man zunächst eher zu Geröll- und Schlammflut-Theorien. So recht vorstellbar wurde die Eiszeit erst durch die Polarexpeditionen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; im Anblick der Eismassen Grönlands erstarrte in den 1870er-Jahren der letzte Widerstand gegen die Eiszeittheorie.

Oder war auf die Dauer die innere Unlogik der Alternativtheorien nicht zu übersehen? Aber man stelle sich dieses Kapitel der Wissenschaftsgeschichte bloß nicht zu ordentlich als eine sich entfaltende Diskurslogik vor: Von derartigen Vorstellungen wird man von Krügers 600-Seiten-Opus gründlich kuriert. Man hätte sich gewünscht, wenn er bei aller sympathischen Freude am Geschichtenerzählen den wissenschaftstheoretischen Ertrag am Schluss schärfer auf den Punkt gebracht hätte (am ehesten auf S. 536 ff.). So oder so ist das Buch eine Fundgrube, mit kleinen und größeren Überraschungen, die den Leser dazu anregen, auf seine Art weiterzudenken.

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