G. Wollstein: Ein deutsches Jahrhundert 1848-1945

Titel
Ein deutsches Jahrhundert 1848-1945. Hoffnung und Hybris. Aufsätze und Vorträge


Autor(en)
Wollstein, Günter
Reihe
Historische Mitteilungen - Beihefte 78
Erschienen
Stuttgart 2010: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
437 S.
Preis
€ 76,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Raffael Scheck, History Department, Colby College

Der Band von Günter Wollstein enthält größtenteils überarbeitete Beiträge, welche bereits in einer früheren Form publiziert wurden. Die zentralen Themen des Buches kreisen um die zwei Fixpunkte der wissenschaftlichen Arbeit Wollsteins, nämlich der Revolution von 1848 in den deutschen Staaten und der Außenpolitik im Übergang von der Weimarer Republik zum Dritten Reich. Bestimmte Leitgedanken erscheinen in verschiedenen Gewändern immer wieder. So interessiert sich Wollstein besonders für die Ausbildung eines konstitutionellen Systems und eines Rechtsstaates im Rahmen der deutschen Einigung. Er greift dabei auf die Reflektionen Scharnhorsts über die französische Revolution zurück, analysiert die Arbeit des deutschen Vorparlaments von 1848 und setzt sich dann mit den Mitteleuropa-Vorstellungen der Paulskirche auseinander. Der Bogen führt weiter über die Gedankenwelt Bismarcks und Bethmann Hollwegs, die Wollstein beide ziemlich positiv beurteilt, und die Konsequenzen des Versailler Vertrags bis hin zu den Mitteleuropa-Vorstellungen der Weimarer Außenpolitik, wobei sich dann aus der Karriere des osteuropäisch denkenden „Außenministers ohne Verwendung“ Rudolf Nadolny eine Verbindung zur Zeit direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ergibt. Daran schließen sich Beiträge über Friedrich Olbricht und über die evangelische Kirche Kölns um 1945 an, die allerdings kaum in den größeren Rahmen eingeordnet wirken.

Es ist schwierig, diese Sammlung von Arbeiten aus einer ganzen Forscherkarriere zu beurteilen. Einige interessante Höhepunkte findet man zweifellos. So gibt es einen erfrischenden Beitrag über das Verhältnis von Deutschen und Polen im langen 19. Jahrhundert, der differenziert argumentiert, dass das Polenbild im deutschen Raum keineswegs so negativ war, wie es oft gezeichnet wird. Mehrere Beiträge thematisieren die Großmachtvorstellungen der Revolution von 1848, die natürlich teilweise im kontrafaktuellen Rahmen bleiben und manchmal die Frage provozieren, inwiefern manche der Großmachtträume der Revolutionäre nicht doch von der problematischen Idee der französischen „Schwesterrepubliken“ der 1790er-Jahre geprägt waren. Als ein wichtiger Beitrag erscheint mir auch der Artikel über die außenpolitische Machtergreifung Hitlers, der darlegt, dass Hitler schon in den ersten Monaten seiner Amtszeit der deutschen Außenpolitik eine starke eigene Note aufprägte, auch wenn dies aufgrund der personellen Kontinuitäten im Außenministerium bis 1938 (und teilweise darüber hinaus) nicht ganz sichtbar wurde.

Wer allerdings die Sammlung auf der Suche nach neuen Erkenntnissen oder Forschungswegen liest, wird wahrscheinlich enttäuscht sein. Die Artikel und Vorträge wurden für die Buchausgabe etwas überarbeitet, aber kaum aktualisiert. Eine Auseinandersetzung mit neuer Literatur findet selten statt. Manchmal wird ein neueres Werk in einer Anmerkung erwähnt, aber es fehlen in der Regel wichtige Arbeiten der letzten zehn bis fünfzehn Jahre, besonders aus der angelsächsischen Literatur. Themenkreise werden oft rein politisch und sehr auf bestimmte Individuen fokussiert betrachtet. Am Ende kann man Wollsteins Blickwinkel, der stets deutsche Geschichte in einem größeren, mitteleuropäischen Rahmen sieht und Vorkämpfer und Verfechter eines demokratischen und friedlichen Deutschland sucht, durchaus respektieren. Allerdings wäre es vielleicht fruchtbarer gewesen, diesen Blickwinkel in eine kohärente Überblicksdarstellung der deutschen Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte einzuarbeiten. So wie sich die Sammlung von Artikeln und Vorträgen Wollsteins darstellt, ergibt sie ein ehrenwertes Zeugnis der lebenslangen Arbeit eines Historikers, aber nicht mehr.