: Le mouvement pacifiste en RFA de 1979 à 1983. . Paris 2007 : L'Harmattan, ISBN 978-2-296-04564-4 384 S. EUR 37,50

: Über die Mauer. Die DDR, die niederländischen Kirchen und die Friedensbewegung. Münster 2007 : Agenda Verlag, ISBN 978-3-89688-312-4 445 S. € 34,00

Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Holger Nehring, Centre for Peace History, University of Sheffield

Die Debatten um die Friedensbewegung der 1980er-Jahre werden seit einigen Jahren von der Zeitgeschichtsforschung neu entdeckt. So fanden in den letzten zwei Jahren gleich mehrere internationale Konferenzen und Workshops zu diesem Thema statt. Anlässlich des fünfundzwanzigsten Jubiläums des NATO-Doppelbeschlusses von 1979 befassten sie sich vor allem mit den diplomatiegeschichtlichen Rahmenbedingungen, welche die Ausrüstung einiger NATO-Armeen mit Pershing-II-Raketen und Cruise Missiles nach sich zogen, gingen aber zumindest am Rande auf die gesellschaftlichen Implikationen ein, welche in fast allen westeuropäischen Ländern zur Entstehung massiver Protestbewegungen führten.1 Trotz dieser Entwicklungen bleiben die geschichts- und politikwissenschaftlichen Untersuchungen zu den Protestbewegungen weiterhin von Interpretamenten beeinflusst, die sich – explizit oder eher subkutan – selbst noch aus der ideologischen Konfrontation des Kalten Krieges speisen. Sie orientieren sich an einer bipolaren Lesart, welche die gesellschaftlichen Konflikte der 1980er-Jahre a priori durch den Gegensatz von freiheitlich-demokratischer Grundordnung in den Gesellschaften des Westens und der sozialistischen Ideologie des Friedens im Ostblock geprägt sieht, allerdings ohne diese Begriffe und ihre Bedeutung einer genaueren Analyse zu unterziehen. Nach dieser Interpretation erscheinen Friedensbewegungen im Westen entsprechend direkt als trojanische Pferde kommunistischer Unterwanderung. Ihre Gegner dagegen werden zu Verteidigern der von Demokratie und Freiheit stilisiert. Umgekehrt haben viele historische Friedensforscher die Bewegungen schlicht als Protest aufrichtiger Bürger interpretiert und dabei ihrerseits die Selbstbeschreibungen der Protestbewegungen reifiziert, nicht aber ihre politisch-kulturellen Entstehungsbedingungen und Wirkungsweisen analysiert.2

Die beiden hier anzuzeigenden Werke spiegeln sehr schön den Stand der bisherigen Forschung zu den Protestbewegungen der 1980er-Jahre im europäischen Kontext wider, führen aber deutlich über ihn hinaus. Sie zeigen auf, wie sich die zeitgeschichtliche Forschung in Zukunft mit dem Problem von Friedensbewegung und Kalter Krieg auseinandersetzen könnte. Die beiden Werke verdeutlichen außerdem, wie die breite Verfügbarkeit von medialen Quellen und von bereits jetzt für die Benutzung freigegebenen Archivquellen die zeitgeschichtliche Erschließung auch der jüngsten Zeitgeschichte möglich macht.

Dominique Simons Buch ist die erste wissenschaftlich solide neuere Gesamtdarstellung zur Friedensbewegung in der Bundesrepublik der 1980er-Jahre, seitdem Jeffrey Herf Anfang der 1990er-Jahre seine von einer Unterwanderungsthese ausgehenden Studie vorlegte.3 Simons Buch hat die Form eine vermutlich vor allem an französische Studierende der deutschen Landeskunde und Literaturwissenschaft gerichteten textbooks. Es führt systematisch (und nicht chronologisch) in die internationalen politischen Entstehungsbedingungen, die politischen und gesellschaftlichen Hintergründe der Friedensbewegung, ihre Organisationsgeschichte sowie einige zentrale Aspekte der Protestkultur sehr überzeugend ein. Der Titel ‚mouvement pacifiste‘ ist allerdings allein für den französischen Kontext angemessen. Denn in Frankreich wird der sachlich eigentlich angemessenere Ausdruck ‚mouvement de la paix‘ vor allem für die dem Weltfriedensrat direkt verantwortliche kommunistische Bewegung gebraucht. Die Anklänge an eine ‚pazifistische Bewegung‘ des jetzigen Titels spiegelt dagegen die soziale Zusammensetzung und das Selbstverständnis und die politisch-kulturelle Interpretation der Bewegung nur unzureichend wider, erinnert sie doch stark an das bürgerlich-pazifistische Vereinswesen des ausgehenden 19. Jahrhunderts und nicht an die sozialen Bewegungen der Zeit nach 1945. Dieses begriffliche Problem verdeutlicht beispielhaft, wie schwierig es selbst mehr als zwanzig Jahre nach Ende des Kalten Krieges ist, die sprachlichen Konventionen dieses Konflikts zu überwinden. Denn die sehr gründliche und ausgewogene Darstellung Simons bietet gerade wichtige Ansätze für die Erforschung des Engagements für Frieden als soziale Bewegung.

Simon kann über einen organisationsgeschichtlichen Zugriff sehr genau die große gesellschaftliche Bandbreite der bundesdeutschen Friedensbewegung der 1980er-Jahre zeigen, welche von den beiden Kirchen, Teilen der Arbeiterbewegung bis hin zu feministischen Gruppen getragen wurde (Teil 3, Kapitel I). Diese organisatorischen Koordinaten ordnet Simon zunächst in den Zusammenhang der internationalen Politik sowie der Außen- und Verteidigungspolitik in der Bundesrepublik sowie in NATO und Warschauer Pakt ein (Teil I) und bietet auch eine Vorgeschichte pazifistischer Traditionen in Deutschland bis in die 1980er-Jahre hinein (Teil II), in denen er auch auf verschiedene Friedensverständnisse eingeht. Die innovativsten und für die weiteren Debatten am meisten Gewinn versprechenden Teile der Arbeit sind wohl die beiden letzten, eher knappen Abschnitte des Buches. Der Autor beschäftigt sich hier eingehender mit der Stellung der bundesdeutschen Friedensbewegung im Zusammenhang einer Kultur des Friedens und versucht außerdem, den Bewegungscharakter der Proteste über die Analyse der Demonstrationsstrategien genauer zu fassen. In diesem Zusammenhang findet man zum Beispiel eine interessante Wortfeldanalyse von Schlagwörtern der Friedensbewegungen (S. 249) sowie eine etwas grobe Charakterisierung des Emotionshaushalts der Proteste (S. 233-235). Ein hilfreicher Anhang mit einigen allerdings vom Verlag in mitunter miserabler Qualität eingescannten Fotos, Tabellen und Karten schließt den Band ab. Es wäre zu wünschen, dass diese ausgewogene Darstellung bald auch in deutscher Sprache zur Verfügung stünde.

Beatrice de Graafs Buch über die Kontakte niederländischer Kirchenkreise zur unabhängigen Friedensbewegung in der DDR ist schon das Ergebnis einer solchen dankenswerten Übersetzungsleistung.4 Auch diese Arbeit spiegelt den Forschungsstand auf dem Weg zu einer Zeitgeschichte wider, welche die Parameter des Kalten Krieges nicht mehr a priori voraussetzt, sondern sie zu historisieren versucht. Ausgangspunkt von de Graafs Arbeit ist dabei die große Popularität der DDR in den Niederlanden des Kalten Krieges 5 und die Diagnose der ‚Hollanditis‘ in den 1980er-Jahren. Diese Krankheit diagnostizierten zeitgenössische Kommentatoren in den westeuropäischen Ländern immer dann, wenn sie bei ihren Mitbürgerinnen und Mitbürgern eine wenig standhafte Haltung gegenüber dem ‚Ostblock‘ vermuteten. Vielleicht hat die politisch-kulturelle Bedeutung dieser Einstellung ja niederländische Historikerinnen und Historiker dazu prädestiniert, das Koordinatensystem des Kalten Krieges in der Zeitgeschichte zu überwinden und zu historisieren.

Gegenstand von de Graafs beeindruckend dicht argumentierender und flott übersetzter Studie sind die Kontakte zwischen niederländischen protestantischen Christen mit der evangelischen Kirche und der entstehenden unabhängigen Friedensbewegung in der DDR sowie die staatlichen Reaktionen auf diese Verbindungen. Die Arbeit beruht auf der gründlichen Auswertung relevanter Stasi-Akten und Archiven der SED-Westabteilung sowie einschlägiger publizierter und unpublizierter Quellen zur Geschichte der niederländischen Friedensbewegung in einer Anzahl niederländischer und deutscher Archive.

De Graafs Interesse gilt nicht primär den Motivationen der an den Kontakten über die Mauer beteiligten Personen und Gruppen. Vielmehr möchte sie ihre Analyse der Kontakte über den gar nicht so eisernen Vorhang hinweg dazu nutzen, die Bedeutung des Kalten Krieges für Beziehungen ‚von unten‘ nachzuweisen. Sie zeigt dabei, wie der Kalte Krieg solche Beziehungen ‚normaler‘ Menschen in der DDR und in den Niederlanden prägte und den Spielraum des Sagbaren und Machbaren in diesen transnationalen Beziehungen einengte. Das bedeutete auch, dass im Austausch von Kirchen und Friedensorganisationen bockübergreifende Ideen nur von einer Minderheit vertreten wurden – eine Interpretation, die für die bundesdeutsche Friedensbewegung der 1980er-Jahre noch zu diskutieren wäre.6

De Graaf zeigt außerdem, dass paradoxerweise gerade durch die von der SED oft direkt geförderten, wenn nicht sogar angeregten und kontrollierten grenzüberschreitenden Kontakte Ideen von eine Kultur des Friedens in die Kirchen und die Gesellschaft der DDR hineingetragen wurden, die letztlich den Sinn- und Deutungshorizont des DDR-Regimes untergruben. Was im Westen als kommunistische Unterwanderung erschien, wurde im Osten zu einer gefährlichen Kraft, die einem wissenschaftlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatsicherheit als ‚FriedensSolidarność‘ (sic!, zitiert S. 163) erscheinen konnte, gleichzeitig aber auch wegen des Wortes ‚Frieden‘ vielen auf ‚Freiheit‘ zielenden Bürgerrechtsgruppen in Osteuropa suspekt vorkam. Über diese paradoxen Entwicklungen wie auch über die religiöse Semantik des Friedens hätte man deshalb gerne noch mehr gelesen als de Graaf in dieser Monographie bieten kann und will.7

Trotzdem darf de Graafs Studie schon jetzt als Standardwerk nicht nur für die Beziehungen zwischen der unabhängigen Friedensbewegung der DDR und den niederländischen Kirchen gelten. Sie setzt auch Maßstäbe dafür, wie durch solide Quellenstudien die Komplexität des Kalten Krieges ‚von unten‘ über die Dichotomie von Frieden und Freiheit, von kommunistischer Unterwanderung einerseits und Betonung westlicher Sicherheitsinteressen andererseits, hinausweist. De Graafs Buch zeigt exemplarisch, wie sich die zeitgeschichtliche Erforschung des Kalten Krieges jenseits des Denkens in Blöcken und Lagern und durch stringente Historisierung in Richtung auf eine Gesellschaftsgeschichte des Kalten Krieges entwickeln könnte.

Anmerkungen:
1 Siehe zum Beispiel die Konferenzen ‚Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung: Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive‘ (Berlin, 26.-28. März 2009) (vgl. Tagungsbericht Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung: Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive. 26.03.2009-28.03.2009, Berlin, in: H-Soz-u-Kult, 09.06.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2632>. [20.09.2010]), ‚The Euromissiles Crisis and the End of the Cold War, 1977-1987‘ (organisiert von Leopoldo Nuti, Macchiavelli Center for Cold War Studies, und Bernd Rother, Bundeskanzler Willy Brandt Stiftung, zusammen mit amerikanischen Partnern in Rom, 10.-12. Dezember 2009); ‚„This Town Is Gonna Blow…“ European Protest Movements and Society in the 1980s‘ (Bremen, 6.-8. Mai 2010) (vgl. Tagungsbericht "This Town Is Gonna Blow..." European Protest Movements and Society in the 1980s. 06.05.2010-08.05.2010, Bremen, in: H-Soz-u-Kult, 06.07.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3179>. [20.09.2010]) sowie den Workshop: ‚Friedensbewegung und Zweiter Kalter Krieg: Europäische und transatlantische Perspektiven‘ (24.-26. März 2010) am Archiv Grünes Gedächntnis, Berlin (vgl. Tagungsbericht Friedensbewegung und Zweiter Kalter Krieg: Europäische und transatlantische Perspektiven. 24.03.2010-26.03.2010, Berlin, in: H-Soz-u-Kult, 06.05.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3103>. [20.09.2010]). Vgl. auch die im Herbst erscheinende wegweisende, transnationale Einflüsse einbeziehende und die Interpretamente des Kalten Krieges beeindruckend historisierende biographische Studie von Saskia Richter, Die Aktivistin. Das Leben der Petra Kelly, München 2010, sowie die an der University of North Carolina, Chapel Hill zur transnationalen Geschichte der Grünen entstehende Dissertation von Stephen Milder und seinen Aufsatz: Thinking Globally, Acting (Trans-)Locally. Petra Kelly and the Transnational Roots of West German Green Politics, in: Central European History, 43, Nr. 2 (2010), 301-326.
2 Vgl. etwa Gerhard Wettig, Die Sowjetunion in der Auseinandersetzung über den NATO-Doppelbeschluss 1979–1983, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 57, Nr. 2 (2009), S. 217-260 und, aus Sicht der Friedensbewegung, Lawrence S. Wittner, Toward Nuclear Abolition. A History of the World Nuclear Disarmament Movement, 1971 to the Present, Stanford 2003. Zur Kritik an diesen Modellen siehe Holger Nehring / Benjamin Ziemann, Führen alle Wege nach Moskau? Der NATO-Doppelbeschluß und die Friedensbewegung – eine Kritik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 59, Nr. 1 (2011), i.E.
3 Jeffrey Herf, War by Other Means. Soviet Power, West German Resistance, and the Battle of the Euromissiles, New York 1991.
4 Die Studie, ursprünglich die Dissertation der Autorin, erschien bereits im Jahre 2004 unter dem Titel Over de Muur. De DDR, de Nederlandse kerken en de vredesbeweging bei Uitgeverij Boom, Amsterdam.
5 Siehe dazu allgemein die schon 1998 auf niedeländisch erschienene Arbeit von Jacco Pekelder, Die Niederlande und die DDR. Bildformung und Beziehungen, 1949-1989, Münster 2002.
6 Siehe dazu meine Studie Der letzte Kampf des Kalten Krieges. Die Friedensbewegung der achtziger Jahre in beiden deutschen Staaten, Münster 2011.
7 Helke Stadtland (Hrsg.), Friede auf Erden. Religiöse Semantiken und Konzepte des Friedens im 20. Jahrhundert, Essen 2009.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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