N. Ferguson u.a. (Hrsg.): The Shock of the Global

Titel
The Shock of the Global. The 1970s in Perspective


Herausgeber
Ferguson, Niall; Maier, Charles S.; Manela, Erez; Sargent, Daniel J.
Erschienen
Cambridge 2010: Belknap Press
Anzahl Seiten
434 S.
Preis
$ 29.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sönke Kunkel, School of Humanities and Social Sciences, Jacobs University Bremen

Eine neue Konjunkturwelle hat die zeithistorische Forschung erfasst. Sie steigert nicht das Bruttosozialprodukt, führt aber zu einer wachsenden Zahl von Publikationen zur Geschichte der 1970er-Jahre.1 Nun liegt mit „The Shock of the Global“ ein weiteres Deutungsangebot vor. In nicht weniger als 23 Beiträgen inspizieren namhafte Historikerinnen und Historiker die Kontinuitäten und Brüche des Jahrzehnts. Fünf größere Themenfelder stehen dabei im Mittelpunkt: „Into an Emerging Order“, „Stagflation and the Economic Origins of Globalization“, „International Relations in an Age of Upheaval“, „Global Challenges and International Society“ sowie „Ideological, Religious, and Intellectual Upheaval“. Schon diese Titel machen deutlich, dass es sich bei den 1970er-Jahren um ein turbulentes Jahrzehnt handelte, wobei die Deutungsfiguren variieren und die Dekade begrifflich etwa als Ära struktureller Umbrüche gefasst wird (Daniel J. Sargent), als „crisis of industrial society“ (Charles S. Maier, S. 45) oder, eher zukunftsorientiert, als „seedbed of future crises“ (Niall Ferguson, S. 20).

Einigkeit herrscht jedoch darüber, dass zumindest der Wahrnehmungshorizont der Zeitgenossen von Krisenbewusstsein geprägt war, was nicht zuletzt den neuen Phänomenen „Stagflation“ und intensivierter Globalisierung geschuldet war. Besonders die Globalisierung wird in den ersten beiden Teilen in verschiedenen Facetten beleuchtet – unter anderem aus der Sicht US-amerikanischer Regierungen und Institutionen (Beiträge von Daniel J. Sargent, Vernie Oliveiro, Louis Hyman), aber auch aus lateinamerikanischer Perspektive (Beitrag von Jeremy Adelman). Fast alle diese Aufsätze konstatieren, dass sich die Formen nationalstaatlicher Souveränität unter den Bedingungen einer durchgreifenden Globalisierung signifikant veränderten. Daneben sticht ein Aufsatz von Odd Arne Westad über die Transformation Chinas hervor, denn Westad bietet eine überraschende Neuinterpretation an: Trotz ihrer massiven Zerstörungswut sei die Kulturrevolution keineswegs so desaströs für die wirtschaftliche Entwicklung Chinas gewesen wie gemeinhin angenommen. Im Gegenteil, die späten Mao-Jahre hätten nicht nur einen radikalen Abschied von der Idee zentraler Planung bedeutet, sondern seien ebenso von improvisierten lokalen Wirtschaftsexperimenten geprägt gewesen, womit die Grundlagen für den Übergang zur Marktwirtschaft gelegt worden seien.

Kaum Überraschungen halten hingegen die diplomatiegeschichtlichen Beiträge des dritten Teils bereit. Jeremi Suri rekapituliert noch einmal einige weltpolitische Vorstellungen Henry Kissingers. Mark Atwood Lawrence skizziert im Stile einer klassischen Cold War History US-amerikanische Handlungsansätze gegenüber der „Dritten Welt“, verzichtet aber darauf, die eigentlich neue Dimension des Nord-Süd-Konflikts zu betrachten, nämlich seine Verlagerung in internationale Organisationen. Der Aufsatz repräsentiert eine solide und informative Diplomatiegeschichte, bietet aber ebenso wenig eine neue Perspektive auf die 1970er-Jahre wie Lien-Hang T. Nguyens Beitrag zur Nachgeschichte des Vietnamkriegs.

Dagegen setzen die Beiträge des nächsten Abschnitts („Global Challenges and International Society“) eine ganze Reihe weiterführender Akzente, indem sie durchweg die wachsende Bedeutung von internationalen Organisationen, Experten, transnationalen Aktivisten und Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) betonen. Glenda Sluga untersucht die innere Dynamik der Vereinten Nationen und argumentiert, dass die massenhafte Aufnahme neuer UN-Repräsentanten aus der „Dritten Welt“ vor allem unter den arrivierten westlichen UN-Botschaftern zu einem Kulturschock geführt habe, denen die „Third World UN“ (S. 225) immer mehr als „theatre of the absurd“ erschien (so US-Botschafter Moynihan, vgl. S. 224). Auseinandersetzungen vollzogen sich entlang der Trennlinien „Ethnizität“ und „race“, wobei die „identity politics“ innerhalb der UN-Organe dem Ideal einer harmonischen Weltgesellschaft fundamental widersprachen. Michael Morgan untersucht darüber hinaus die neuen Menschenrechtsdiskurse der Zeit. Morgan betont, dass der „second human rights moment“ (S. 243) der 1970er-Jahre nur noch wenig mit den formaljuristischen Ansätzen der späten 1940er-Jahre gemein hatte. Dieses Mal stützte sich die Leitidee der Menschenrechte auf engagierte Aktivisten, die sich in NGOs organisierten – was gleichzeitig aber auch in der internationalen Politik Spuren hinterließ (Helsinki Charter, Carter). Erez Manela wiederum erzählt die Geschichte der globalen Kampagne gegen die Pocken – ein Beispiel, das die neue Rolle von internationalen Organisationen, Expertennetzwerken und transnationalen Koordinierungsformen illustriert und die ungewöhnliche Kooperation zwischen den USA und der Sowjetunion hervorhebt. Trotz mannigfaltiger organisatorischer, kultureller und personeller Probleme gelang es unter Federführung der Weltgesundheitsorganisation, die Pockenkrankheit bis 1978 auszulöschen.

Zu den neuen Handlungsfeldern globaler Politik gehörte auch die Umweltpolitik. John R. McNeill skizziert die Geschichte von „global-scale environmentalism“ und „globalized environmentalism“ (S. 263) und führt die Entstehung eines populären Umweltbewusstseins auf ein Zusammenspiel technologischer, kultureller, ökonomischer und ökologischer Veränderungen zurück. Neue zivilgesellschaftliche Mobilisierungspraktiken wie der „Earth Day“ (USA 1970) und neue Organisationsformen (NGOs) trugen ebenso wie die gerade erst entstehende staatliche Umwelt-Bürokratie und internationale Großkonferenzen (Stockholmer UN-Konferenz 1972) dazu bei, dass nicht nur ein neues Umweltbewusstsein aufkam, sondern auch eine stärkere Institutionalisierung von Umweltpolitik begann.

Im letzten Teil des Bandes beschreibt Jocelyn Olcott zunächst, von welchen Widersprüchen und Problemen das „International Women’s Year“ 1975 geprägt war. Rebecca J. Sheehan interpretiert Rockmusik als einen vielschichtigen Katalysator kultureller Veränderungen; sie habe auf der einen Seite einen Wertewandel hin zu neuer permissiver sexueller Kultur und neuen „lifestyles“ angestoßen, habe andererseits aber in Form von „God Rock“ auch von „Jesus freaks“ (S. 300) adaptiert werden können. Musicals wie „Jesus Christ Superstar“ hätten konservativ-christliche Werte propagiert. Solche Werte sind auch der Gegenstand des Beitrags von Andrew Preston, in dem es um die Reaktion US-amerikanischer Evangelicals auf die globalen Veränderungen der 1970er-Jahre geht. Auf den turbulenten Wandel hätten Evangelicals mit einer forcierten Hinwendung zu „core values and identity“ reagiert (S. 307), was auf einen universalen Nationalismus hinauslief – die 1970er-Jahre brachten daher den „rise of the Religious Right“ (S. 308). Ähnliche Radikalisierungsprozesse untersucht Ayesha Jalal im Hinblick auf den Islam. Jalal übt scharfe Kritik an den US-amerikanischen Regierungen Carter und Reagan, welche nach dem „Verlust“ des Irans 1979 die gezielte Destabilisierung der Sowjetunion mittels Förderung eines islamistischen Fundamentalismus in Zentralasien betrieben hätten. Prominente Nebenprodukte dieser Strategie waren einige Taliban-Führer späterer Jahre wie Mullah Omar, der in einem letztlich durch US-Gelder finanzierten religiösen Seminar ausgebildet wurde.

Es lohnt sich, „The Shock of the Global“ kurz mit den eingangs erwähnten deutschen Untersuchungen zu vergleichen. Die Bände ähneln sich in ihrer grundsätzlichen Diagnose eines krisenhaften Strukturbruchs, unterscheiden sich jedoch in ihren Schwerpunktsetzungen und analytischen Zugängen. „The Shock of the Global“ ist eher am „big picture“ interessiert, während die deutschen Bände mit sektoralen Detailstudien aufwarten – etwa zur Textil- oder Automobilindustrie. Weder die Krise des Sozialstaats noch Migration, Alltagsgeschichte, Abtreibungsproblematik, Terrorismus, Ölpreisschock oder neue Technologien werden im amerikanischen Band besonders thematisiert. Dafür zeichnet sich dieser im Vergleich zu den deutschen Arbeiten jedoch durch eine stärkere internationale Perspektive aus. Dies ist nicht nur sinnvoll, sondern trägt durch vielerlei Einsichten auch zu einem besseren Verständnis der Vorgeschichte unserer globalisierten Gegenwart bei.

Anmerkung:
1 Vgl. aus der deutschen Forschung besonders Thomas Raithel u.a. (Hrsg.), Auf dem Weg in eine neue Moderne? Die Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren, München 2009; Konrad H. Jarausch (Hrsg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008; Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008. Siehe etwa auch Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004): Die Siebzigerjahre. Gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland; Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 3 (2006) H. 3: Die 1970er-Jahre – Inventur einer Umbruchzeit; Jeremy Black, Europe since the Seventies, London 2009.