Sozioökonomische Transformationsprozesse der 1970er- und 1980er-Jahre

Raithel, Thomas; Rödder, Andreas; Wirsching, Andreas (Hrsg.): Auf dem Weg in eine neue Moderne?. Die Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren. München 2009 : Oldenbourg Verlag, ISBN 978-3-486-59004-3 205 S. € 34,80

Raithel, Thomas; Schlemmer, Thomas (Hrsg.): Die Rückkehr der Arbeitslosigkeit. Die Bundesrepublik Deutschland im europäischen Kontext 1973 bis 1989. München 2009 : Oldenbourg Verlag, ISBN 978-3-486-58950-4 177 S. € 16,80

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ariane Leendertz, Amerika-Institut, Ludwig-Maximilians-Universität München

Beide Sammelbände aus dem Umfeld des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) widmen sich der neuen „heißen“ Phase der Zeitgeschichte, den 1970er- und 1980er-Jahren. Der erste geht auf eine Tagung zurück, die 2007 im IfZ stattfand, der zweite auf einen Workshop im selben Haus sowie eine Sektion auf dem Historikertag 2008. Gemeinsam ist beiden Bänden ein interdisziplinärer Zugang von Historikern und Sozialwissenschaftlern. Darin spiegelt sich eine sowohl methodologische als auch erkenntnistheoretische Problemstellung wider, mit der sich Historiker und Historikerinnen vor allem im Bereich der jüngsten Zeitgeschichte verstärkt auseinandersetzen müssen: Um die zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Studien sowie Begriffe und Kategorien wie „Wertewandel“, „Pluralisierung“ oder „zweite Moderne“ empirisch nutzbar zu machen, müssen diese ihrerseits in ihrer Zeitgebundenheit verstanden und ihrer Normativität entkleidet, mithin „historisiert“ werden. Auch die Frage nach der Quantifizierbarkeit sozialer Phänomene und den Methoden statistischer Erfassung spielt für Historiker und Historikerinnen, die auf sozialwissenschaftliches Datenmaterial zurückgreifen, eine wichtige Rolle. Beide Bände schärfen in dieser Hinsicht das Problembewusstsein und geben wertvolle Anstöße. Der interdisziplinäre Zugriff indes ist in „Die Rückkehr der Arbeitslosigkeit“ weitaus überzeugender gelungen. Doch zunächst zum „Weg in eine neue Moderne“.

Um ein Fragezeichen ergänzt, spielt der Titel auf den Untertitel von Ulrich Becks 1986 erschienener „Risikogesellschaft“ an1 und verspricht die „Moderne“ – sowie damit Fragen der Konzeptualisierung und Periodisierung – zum Leitmotiv zu machen. Dass dies bedauerlicherweise nicht geschieht, sondern erst im letzten Beitrag von Andreas Rödder aufgeschlüsselt wird, erklärt sich bei einem Blick auf den ursprünglichen Tagungstitel, der noch ohne das anziehende Schlagwort auskam, dafür aber mit der Kategorie des „Globalen“ lockte.2 Als recht allgemein gehaltene Leitfrage formulieren die Herausgeber, inwiefern die 1970er- und 1980er-Jahre eine „eigenständige Periode“ konstituieren, und möchten dies am Gegenstand ökonomischer, sozialer und kultureller „Basisprozesse“ diskutieren (S. 7). Der Band ist in drei Themenblöcke gegliedert: „Ökonomie und Technologie“, „Kultur und Gesellschaft“ sowie „Politik“, wobei dieser dritte Abschnitt vollständig drei Politikwissenschaftlern überlassen bleibt.

Nahezu alle Beiträge, die hier nicht jeweils einzeln gewürdigt werden können, bestätigen die einleitend formulierte Annahme der Periodisierung einer „eigenständigen Epoche“. Arbeitet man allerdings, ob bewusst oder unbewusst, mit den makrotheoretischen Rahmungen des Postindustriellen, des Postfordismus, der Post- oder der reflexiven Moderne, dann sind die 1970er- und 1980er-Jahre als Umbruchszeit gewissermaßen bereits vorgegeben. Holger Nehrings systemtheoretische Perspektive auf die westdeutschen Massenmedien hingegen eröffnet alternative Periodisierungen von Kontinuitäten und Brüchen. Die 1970er-Jahre gelten ihm als das Ende einer Entwicklung, deren Kernzeit bereits in den 1960er-Jahren lag, nämlich der Herausbildung eines eigenen und in sich differenzierten Systems der Massenmedien. Dessen Weiterentwicklung erfolgte dann aber erst in den 1990er-Jahren mit der Entfaltung der Neuen Medien.

Mit dem analytischen Potenzial der Post- und reflexiven Moderne setzt sich Andreas Rödder auseinander. Die grundlegenden Merkmale sozialökonomischen und sozialkulturellen Wandels im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts fasst er unter „Individualisierung“, „radikaler Pluralisierung“ und „Entnormativierung“ zusammen. „Entnormativierung“ meint eine Pluralisierung des Werte- und Normensystems, die nicht mit dem Aufbau „übergreifender, vergleichbar verbindlicher neuer Orientierungsmuster“ einhergegangen sei (S. 195). Individualisierung, Pluralisierung und Entnormativierung gelten Rödder (in Anlehnung an Jean-Francois Lyotard, Wolfgang Welsch und Heinrich Klotz) zugleich als konstitutive Merkmale der Postmoderne. Als analytisches, empirisch nutzbares Konzept gibt er letzterer gegenüber der „zweiten Moderne“ (nach Ulrich Beck) klar den Vorzug. Diese sei zwar umfassender gedacht, aber gerade deshalb stelle sich hier das Problem der empirischen Fundierung und „Bewährung an den Quellen“ (S. 201). Vor allem jedoch ist es der normativ-präskriptive Charakter des Beckschen Ansatzes, der das Konzept für Rödder letztlich als Instrument einer „wertfreien“ historischen Analyse disqualifiziert.

Nicht allein die Normativität soziologischer Theorien und Zeitdiagnosen bedarf der Sensibilität der Historiker, wie Stefan Hradils Ausführungen zur „Pluralisierung“ illustrieren. Die Soziologie diagnostizierte in den 1980er-Jahren die Pluralisierung sozialer Milieus, Denkweisen, Verhaltens- und Lebensstile. Die empirischen Untersuchungen der folgenden Jahrzehnte hätten das, so Hradil, zum größten Teil bestätigt. Ob es sich dabei aber tatsächlich um neue Entwicklungen handelte oder ob sich nicht vielmehr nur die Brille der Soziologen verändert habe – dies habe sich bislang aus sozialwissenschaftlicher Perspektive empirisch nicht beantworten lassen, da Vergleichsuntersuchungen aus früheren Jahren fehlten. Doch habe es schon vor den 1970er-Jahren mehr sozialkulturelle Pluralität gegeben, als „die Ideologie einer modernen Industriegesellschaft“ habe wahrnehmen wollen (S. 82). Es gilt somit, stets den konzeptionellen Ordnungsrahmen zu reflektieren, der die Beschreibung „realer“ gesellschaftlicher Entwicklungen strukturiert oder sogar konstruiert und sich in Begriffen wie „Pluralisierung“ bündelt. In seinem Beitrag zur „Entstandardisierung von Lebensläufen“ wahrt Andreas Wirsching denn auch zurückhaltende Distanz zu den bekannten Etiketten und Schlagworten. „Die entsprechenden Begriffe mögen Individualisierung, Pluralisierung oder Entstandardisierung lauten – gemeint ist zumeist das Gleiche: die Herauslösung des Individuums und des individuellen Lebenslaufes aus traditionellen, positiv-rechtlich normierten oder durch soziale Konventionen normierten Standards und damit der zumindest scheinbare Anstieg der individuellen Wahlmöglichkeiten.“ (S. 87) Die gesellschaftlichen Revolutionen seit den 1970er-Jahren lassen sich so letzten Endes möglicherweise prägnanter abstrahieren als mit den Schlüsselkategorien der 1980er-Jahre.

Anders als im Band „Auf dem Weg in eine neue Moderne?“ sind die Beiträge im zweiten Sammelband auf einen gemeinsamen Gegenstand fokussiert, nämlich auf die Arbeitslosigkeit. Diese wird in erster Linie als sozialpolitisches und sozialwissenschaftliches Problemfeld definiert und interdisziplinär von mehreren Seiten in den Blick genommen. Historische und sozialwissenschaftliche Beiträge halten sich die Waage; letztere wiederum präsentieren nochmals unterschiedliche Sichtweisen aus Wirtschaftswissenschaften, Soziologie, empirischer Sozialforschung und Sozialpsychologie. Eine Stärke des Bandes macht die länderübergreifende Perspektive aus, die den ersten und zweiten Teil kennzeichnet. In diesem Sinne programmatisch, beginnt der mit „Nach dem Boom“ überschriebene erste Abschnitt mit einer Tour d’Horizon von Christoph Boyer, der in weiten Linien die „Krise des westlichen Makromodells“ in Nord-West-Europa seit 1970 umreißt, das heißt die Krise eines „demokratisch-marktwirtschaftlich-neokorporatistischen“ Wohlfahrtsstaates sowie seiner wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Grundlagen. Die (sozialwissenschaftlichen) Beiträge von Martin Werding und Gebhard Flaig / Horst Rottmann befassen sich sodann mit den Problemen der je nach Land unterschiedlichen Definition von Arbeitslosigkeit, ihrer Messbarkeit und statistischen Erfassung sowie der internationalen Vergleichbarkeit, die letztlich erst die standardisierte Arbeitslosenquote der OECD möglich macht. Beide Aufsätze geben darüber hinaus einen Einblick in gängige sozialwissenschaftliche Theorien, mit denen die Entwicklung der Arbeitslosenquote interpretiert und erklärt wird. Besonderes Augenmerk gilt dabei der Rolle von Arbeitsmarktinstitutionen wie Lohnverhandlungen, Kündigungsschutz, Arbeitslosenunterstützung, Lohnkosten, Steuern und Abgaben.

Der zweite Teil des Bandes („Arbeitslosigkeit als Erfahrung und politisches Problem“) überzeugt vor allem in seiner Vergleichsdimension. Kim Christian Priemel widmet sich der Rolle der westdeutschen und britischen Gewerkschaften, und ebenfalls in britisch-bundesrepublikanischer Gegenüberstellung diskutiert Winfried Süß die jeweiligen sozialpolitischen Reaktionen auf die steil ansteigenden Quoten von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern, die seit 1973 in beiden Ländern zu verzeichnen waren. Hielt die Bundesrepublik trotz Einschnitten letztlich an der Kopplung von Beitrag und Leistung in der Sozialversicherung fest, beschränkte sich Großbritannien zunehmend auf eine Existenzsicherung. Die unterschiedlichen Reaktionen in der Anpassung der Sozialsysteme lassen sich, wie Süß zusammenfasst, nicht nur mit unterschiedlichen wohlfahrtsstaatlichen Traditionen und Regulierungsinstanzen erklären. Im deutschen Fall werde, nicht zuletzt aufgrund historischer Erfahrungen, die Existenz der Demokratie mit dem Schicksal des Sozialstaats verbunden. Auf soziale Ungleichheit werde sensibler reagiert, Armut werde gleichgesetzt mit sozialem Abstieg und, anders als in Großbritannien, weniger der Verantwortung des Individuums als vielmehr gesellschaftlichen und politischen Umständen zugeschrieben. Gerade hier eröffnen sich interessante kultur- und mentalitätsgeschichtliche Vergleichsperspektiven, die in den kommenden Jahren mit erklären helfen könnten, warum sich seit den 1980er-Jahren besonders in Großbritannien und den USA zunehmend „neoliberale“ Konzeptionen von Staatlichkeit und Politik etabliert haben.

Thomas Schlemmer betrachtet das Phänomen der Langzeitarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik und in Italien, die sich sowohl im Ausmaß als auch in der Zusammensetzung signifikant unterschied. Die Quote der Langzeitarbeitslosen lag im italienischen Fall nicht nur deutlich höher. Anders als in Westdeutschland waren es zudem nicht überwiegend ältere, männliche Personen, sondern zuerst Jugendliche, Hausfrauen und Arbeitssuchende ohne vorausgehende Erwerbstätigkeit, die einen hohen Anteil an den Langzeitarbeitslosen ausmachten. Auch im Fall der Jugendarbeitslosigkeit stand die Bundesrepublik, wie Thomas Raithel im Vergleich mit Frankreich anhand von OECD-Daten zeigt, in den 1970er- und 1980er-Jahren weniger schlecht da als manche ihrer Nachbarn. Lag die Quote in Frankreich ab 1975 stets weit über 10 Prozent (mit einem Höhepunkt von 26 Prozent 1985), überschritt sie in der Bundesrepublik die 10-Prozent-Grenze nur zweimal marginal (1983 und 1984) und lag ansonsten nie im zweistelligen Bereich. Trotz des geringeren Ausmaßes fand in der Bundesrepublik allerdings eine weitaus intensivere politische und öffentliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen statt. Warum dies so war, wird Raithel im weiteren Verlauf seines Forschungsprojekts zu klären versuchen.

Im dritten Teil des Bandes schließlich dominiert eine disziplingeschichtliche Perspektive, aus der die Entwicklung der Arbeitslosenforschung und einige ihrer zentralen Themen und Fragestellungen nachgezeichnet werden. Alois Wacker und Petra Schütt / Sabine Pfeiffer / Anne Hacket / Tobias Ritter konzentrieren sich auf die Soziologie; Steffen Jaksztat fasst Theorien der (sozial)psychologischen Forschung über die gesundheitlichen und psychischen Folgen von Arbeitslosigkeit zusammen. Vor allem die Frage, warum die Arbeitslosigkeit für viele Menschen belastend ist, hat seit den 1930er-Jahren im Zentrum entsprechender Theorien und empirischer Untersuchungen gestanden. Bleibt die historische Perspektive des Sammelbandes letztlich auf die Arbeitslosigkeit als sozialpolitisches Problemfeld konzentriert, so lädt gerade der letztgenannte Beitrag zu stärker kulturgeschichtlichen und kulturwissenschaftlichen Betrachtungsweisen ein, die die Frage nach Sinn und Bedeutung des Phänomens sowohl für den Einzelnen wie für die Gesellschaft und ihr Zusammenleben in den Vordergrund stellen.

Die interdisziplinäre Verzahnung ist in „Die Rückkehr der Arbeitslosigkeit“ vermutlich deshalb produktiv gelungen, weil die beteiligten Historiker sich gezielt um sozialwissenschaftliches Know-how bemüht haben, um den Horizont ihrer eigenen Arbeiten zu erweitern und einen Überblick über die sozialwissenschaftliche Diskussion zu gewinnen. „Auf dem Weg in eine neue Moderne?“ überzeugt in dieser Hinsicht nur bedingt, denn das in der Einleitung angekündigte „interdisziplinäre Gespräch“ bleibt weitgehend aus. Dies könnte vor allem daran liegen, dass sich die im Band vertretenen Historiker in erster Linie mit soziologischen Ansätzen, Begriffen und Gesellschaftstheorien auseinandersetzen, während es sich bei den beteiligten Sozialwissenschaftlern überwiegend um Vertreter der Politikwissenschaft handelt. So zeigen beide Bände, wie sinnvoll und notwendig der interdisziplinäre Austausch für die Analyse und Deutung der jüngsten Periode der Zeitgeschichte ist.

Anmerkungen:
1 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986.
2 „Die Bundesrepublik in den globalen Transformationsprozessen der siebziger und achtziger Jahre“. Siehe Tagungsbericht Die Bundesrepublik in den globalen Transformationsprozessen der siebziger und achtziger Jahre. 21.03.2007-23.03.2007, München, in: H-Soz-u-Kult, 17.05.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1568> (08.09.2010).