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Titel
Nadel, Rille, Trichter. Kulturgeschichte des Phonographen und des Grammophons in Deutschland (1900–1940)


Autor(en)
Gauß, Stefan
Erschienen
Köln 2009: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
447 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Morat, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Vor fast 25 Jahren hat Friedrich Kittler die „technische Ausdifferenzierung von Optik, Akustik und Schrift“ durch Grammophon, Film und Typewriter um 1880 zur Epochenschwelle erklärt, mit der die Gutenberg-Galaxis der hegemonialen Schriftkultur an ihr Ende gekommen sei.1 Mit Thomas Lindenberger lässt sich dieses Ende der Gutenberg-Galaxis zugleich als der eigentliche Beginn der Zeitgeschichte verstehen, die mit dem Vorhandensein der optischen und akustischen Zeit-Speicher-Medien auch epistemologisch auf einer anderen Grundlage steht als die Geschichtsschreibung früherer Epochen.2 Während sich die an Kittler anknüpfende Medienwissenschaft jedoch in erster Linie auf die technische Logik und Epistemologie der Medien konzentriert, interessiert sich die Geschichtswissenschaft auch für die konkreten Aneignungs- und Nutzungsweisen der neuen Medien, für ihre Verbreitungstiefe und ihre alltagskulturellen wie politischen Effekte. Für das frühe Kino und das Radio liegen schon seit einiger Zeit entsprechende sozial- und kulturhistorische Arbeiten vor. Für die Frühzeit des Grammophons in Deutschland fehlten sie bisher.

In diese Lücke stößt nun Stefan Gauß’ Studie „Nadel, Rille, Trichter. Kulturgeschichte des Phonographen und des Grammophons in Deutschland (1900-1940)“. Sie ist als Dissertation an der von Wolfgang Ruppert geleiteten „Arbeitsstelle für kulturgeschichtliche Studien“ der UdK Berlin entstanden und orientiert sich in erster Linie an Rupperts Ansatz einer Kulturgeschichte der Alltagsdinge in der industriellen Massenkultur.3 Ihr Gegenstand ist, so Gauß in der Einleitung, „der wechselseitige Zusammenhang zwischen einerseits den Eigenschaften und Merkmalen der Phonoobjekte und andererseits den verschiedenen Bedeutungen, Sinnkonzepten und Gebrauchsweisen, wie sie sich innerhalb der Sphären der Produktion und des Umgangs herausbildeten“ (S. 14). „Phonoobjekte“ ist dabei Gauß’ Sammelbegriff für den Phonographen, das Grammophon und ihre Mischformen, die er zugleich vom Telefon, dem Rundfunkapparat und den mechanischen Musikinstrumenten abgrenzt. Diese Begriffswahl ist sinnvoll, denn wie Gauß zeigt, war es nach der Patentierung von Thomas A. Edisons Phonograph 1877/78 und Emile Berliners Grammophon 1887 noch keineswegs ausgemacht, welche technische Form sich durchsetzen würde. Die von Gauß nachgezeichnete Frühgeschichte der Phonoindustrie war auch die Geschichte der Herausbildung eines industriellen Standards, in deren Verlauf verschiedene technische Lösungen für die Schallaufzeichnung und -wiedergabe durchprobiert wurden. Dabei mussten sich auch die akzeptierten Gebrauchsweisen und Verwendungsformen erst herausbilden. So hatte etwa die von Edison zunächst vorangetriebene Vermarktung des Phonographen als Diktiergerät auch in Deutschland wenig Erfolg. Stattdessen verbreitete sich das Grammophon dann ab den 1890er-Jahren in erster Linie als Unterhaltungsmedium zum Abspielen von Musik. Anders als die Hobby-Photographie blieb die Hobby-Phonographie das Vergnügen weniger. Die Mehrzahl der Nutzer beschränkte sich auf die Schallwiedergabe professionell gefertigter Tonträger, weshalb sich schließlich das Grammophon und nicht der (auch eigene Aufnahmen erlaubende) Phonograph als Massenprodukt durchsetzte.

Im ersten Teil seiner Darstellung geht Gauß ausführlich auf diese Entwicklung der Phonoindustrie und der Phonoobjekte als industriellem Massenprodukt ein. Dabei thematisiert er nicht nur die Marktentwicklung für Phonoobjekte, sondern auch den damit verbundenen gesetzlichen Regelungsbedarf (Stichwort Urheberrecht), die Marketingstrategien zur „Aufladung [der Phonoobjekte] mit sozialem Prestige“ (S. 148), die Aufnahmetechniken und -praktiken, die technische und optische Ausgestaltung der Phonoobjekte und die Debatten um das spezifische „Klangbild“ (S. 283) technisch reproduzierter Musik. Im zweiten Teil geht es dann um die „Umgangsformen, Aneignungen und Gebrauchsweisen“ (S. 295), wobei Gauß zwischen der Nutzung der Phonoobjekte in der Freizeit, im Arbeitsleben und in Wissenschaft und Bildung unterscheidet.

Bei aller Breite der damit behandelten Aspekte zeigt die Arbeit auch einige Schwächen. Die vielleicht gravierendste besteht in der zu schmalen Quellenbasis. Gauß konzentriert sich in erster Linie auf die Auswertung der Veröffentlichungen der Phonoindustrie selbst. Dazu zählen besonders die beiden Fachzeitschriften „Phonographische Zeitschrift“ (1900-1933, 1933-1938 fortgeführt als „Phonographische und Radio-Zeitschrift“) und „Die Sprechmaschine“ (1905-1914). Indem er sich hauptsächlich auf diese beiden Zeitschriften stützt, bleibt er notwendigerweise der Perspektive der Phonoindustrie verhaftet. Das zeigt sich etwa bei der Rekonstruktion gesellschaftlicher Debatten wie der um den Lärm (S. 319-328), die im Kaiserreich einen nicht unerheblichen Umfang angenommen hat. Hierzu zitiert Gauß ausschließlich die einschlägigen Artikel aus der „Phonographischen Zeitschrift“, statt auch einmal direkt die von ihm erwähnten Veröffentlichungen des von Theodor Lessing geleiteten Antilärm-Vereins heranzuziehen. Ebenso kann er bei der Frage nach den Gebrauchsweisen letztlich immer nur den „geplanten Gebrauch“ (S. 298) erfassen, das heißt den von der Phonoindustrie empfohlenen und in ihren Publikationen beschriebenen Gebrauch der Phonoobjekte. Zusätzliche Quellen, die tatsächliche Gebrauchsweisen dokumentieren, hat er nicht erhoben.

Eine zweite Schwäche besteht in der mangelnden Einbindung der Untersuchung in die breitere Forschungsdebatte. Gauß spricht eine Vielzahl von Problemzusammenhängen an, in die die Kulturgeschichte der Phonoobjekte eingelagert ist. Dazu gehören neben der Konsumgeschichte und der Geschichte der industriellen Massenkultur auch die Geschichte der Populär- und Vergnügungskultur, die Geschichte der Öffentlichkeit, die Geschichte von Arbeit und Freizeit, die Wissenschafts- und Musikgeschichte und nicht zuletzt die Geschichte der auditiven Wahrnehmung 4 und der „Körperpolitik“ (S. 301). Diese Hinweise werden vom Autor aber leider zu wenig ausgeführt. Zudem bleiben sie zumeist ohne Querverweise auf die einschlägige Forschungsliteratur. Ferner wird die englischsprachige Literatur kaum zitiert, obwohl etwa zur Geschichte der Phonographie in Amerika mehrere Arbeiten vorliegen, die einen vergleichenden Blick erlaubt hätten.5 Schließlich ist auch die historische Entwicklung innerhalb des Untersuchungszeitraums zu wenig in die Analyse einbezogen. Der Zäsurcharakter des Ersten Weltkriegs wird mehrfach betont, und in diesem Zusammenhang finden sich auch anschauliche Beschreibungen der Nutzung der Phonoobjekte im Krieg. Darüber hinaus kommen die historische Entwicklung und besonders der Übergang von der Weimarer Republik in den Nationalsozialismus aber etwas zu kurz. Die „‚Arisierung’ der Musikkultur“ (S. 215) im „Dritten Reich“ ist nur ein Stichwort, ein Verweis etwa auf die Arbeiten Michael Katers oder Pamela Potters fehlt.6

Angesichts dieser Kritikpunkte bleibt nach der Lektüre ein zwiespältiger Eindruck. Einerseits hat Stefan Gauß eine willkommene Studie zu einem bisher vernachlässigten Gegenstand vorgelegt, die als Beitrag nicht nur zu einer eng verstandenen Mediengeschichte, sondern zur Geschichte des audio-visuellen und massenkulturellen Zeitalters im Sinne Thomas Lindenbergers gelesen werden sollte. Andererseits führt Gauß sein Thema zu eng und expliziert die Bezüge zu diesem Forschungskontext nicht hinreichend. Es bleibt damit die Aufgabe der Leserinnen und Leser, diese Kontextualisierung selbst herzustellen.

Anmerkungen:
1 Friedrich Kittler, Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986, S. 29.
2 Thomas Lindenberger, Vergangenes Hören und Sehen. Zeitgeschichte und ihre Herausforderung durch die audiovisuellen Medien, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 1 (2004), H. 1 <http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Lindenberger-1-2004> (06.08.2010).
3 Vgl. Wolfgang Ruppert (Hrsg.), Fahrrad, Auto, Fernsehschrank. Zur Kulturgeschichte der Alltagsdinge, Frankfurt am Main 1993; ders. (Hrsg.), Chiffren des Alltags. Erkundungen zur Geschichte der industriellen Massenkultur, Marburg 1993.
4 Vgl. dazu den Tagungsbericht von Brían E. Hanrahan zu „Hearing Modern History: Auditory Cultures in the 19th and 20th Century”. 17.06.2010-19.06.2010, Berlin, in: H-Soz-u-Kult, 13.07.2010 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3196> (06.08.2010).
5 Vgl. etwa William Howland Kenney, Recorded Music in American Life. The Phonograph and Popular Memory, 1890-1945, New York 1999; Andre Millard, America on Record. A History of Recorded Sound, Cambridge 1995; David Morton, Off the Record. The Technology and Culture of Sound Recording in America, New Brunswick 2000.
6 Michael H. Kater, The Twisted Muse. Musicians and Their Music in the Third Reich, New York 1997; Pamela M. Potter, Most German of the Arts. Musicology and Society from the Weimar Republic to the End of Hitler's Reich. New Haven 1998; vgl. die Rezension von Michael Walter, in: H-Soz-u-Kult, 11.01.1999, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=148> (13.08.2010).

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