M. Löblich: Die empirisch-sozialwissenschaftliche Wende

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Titel
Die empirisch-sozialwissenschaftliche Wende in der Publizistik- und Zeitungswissenschaft.


Autor(en)
Löblich, Maria
Reihe
Theorie und Geschichte der Kommunikationwissenschaft 7
Erschienen
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
€ 29,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang R. Langenbucher, Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Universität Wien

Sechsmal taucht der Name im „Personenregister“ auf; auch unter „Quellen und Literatur“ finden sich mehrere Werke von Otto Groth, darunter seine „Geschichte der deutschen Zeitungswissenschaft“ von 1948, aber Maria Löblichs Monographie liest sich so, als ob sie sich entschlossen habe, diesen Vorgänger souverän zu ignorieren. Das ist bedauerlich, weil dieses Werk in seiner wissenssoziologischen Vorgehensweise bis heute vorbildlich geblieben ist und gerade auch jene älteren empirisch-sozialwissenschaftlichen Wurzeln frei legte, die nach 1945 erst mühsam neu erfunden werden mussten und die hier das Thema sind. Ansonsten aber basiert diese Münchner Dissertation auf einer vorbildlichen Kenntnis und Auswertung der Fachliteratur, wofür allein schon die über siebzig Seiten des Literaturverzeichnisses sprechen. Löblich selbst hat seit Jahren durch viel beachtete Veröffentlichungen zu dieser Forschungslage beigetragen und bestätigt nun mit diesem Buch ihren Rang als eine lesenswerte Nachwuchswissenschaftlerin. Dies gibt der Lektüre des Rezensenten (und damit einer ganzen Generation des Faches) natürlich ihren besonderen Reiz: als Beteiligter hier in einer wissenschaftsgeschichtlichen Rekonstruktion zu erfahren, was man alles so getrieben hat! Dies vorweg: Maria Löblich hat sich ein differenziertes und tiefenscharfes Bild erarbeitet, in dem man kaum einmal Korrekturen aus der Sicht des Zeitzeugen anzubringen braucht – vielleicht auch, weil diese ohnehin zu den systematisch benutzten Quellen zählen.

Die Publizistik- und Zeitungswissenschaft hatte nach dem Ende des Nationalsozialismus einen schweren, gefährdeten Start, da das Fach auf selbstzerstörerische Weise mit dem Regime verbunden war. Seine erneute universitäre Etablierung konnte nur durch eine Umorientierung gelingen. Diese setzte in den 1960er-Jahren ein und war um 1980 abgeschlossen. Noch 1975 aber klagte Elisabeth Noelle-Neumann, dass das Fach „ganz unten“ in der akademischen Rangordnung stehe. Und doch hatte sich inzwischen ein „Fachverständnis“ entwickelt, das diese Klage langsam unnötig machte. Maria Löblich konstruiert dazu die „Idealtypen“ einer geisteswissenschaftlichen und einer empirisch-analytischen sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsauffassung (S. 26). Untersucht wird materialreich, „wie sich ein neues Fachverständnis bildet und ein älteres ablöst“ (S. 28) und wie fundamental diese Veränderung ist. Um diesen Wandel zu erklären, wird hier auf originelle Weise die Evolutionstheorie herangezogen. Daraus ergibt sich ein Kategoriensystem, das eine systematische Auswertung der Fülle der herangezogenen Quellen ermöglicht und die Ergebnisse häufig in graphischen Darstellungen transparent macht. Umfänglichster Teil der Arbeit ist der Teil „Umorientierung in der Fachgemeinschaft“, das spannend zu lesende Kapitel über die Auseinandersetzungen in den traditionellen Instituten der Universitäten Münster (wo nach der überraschenden aber gut begründeten Meinung der Autorin die „Wende“ schon in den 1950er-Jahren eingeläutet wurde!), München und Berlin offeriert. Mainz dagegen startete erst nach der „Wende“ und wurde zur Vorzeigeeinrichtung der neuen Epoche. Die Rede von einer „Mainzer Schule“ ist offensichtlich berechtigt. Förderlich war, dass etablierte Professoren sich trotz anderer wissenschaftlicher Sozialisation zur „Wende“ bekannten, ja sie förderten; aber folgenreicher war, dass eine neue Generation mit dem Nebenfachstudium der Soziologie disziplinär ganz anders und stärker als durch das eigene Fach geprägt wurde.

Das alles lässt sich dankenswerterweise auch in kleinen biographischen Passagen nachlesen, die für jüngere Generationen im Fach alte Zeiten lebendig machen, begleitet von einigen Fotos, denen man nicht ohne Rührung wieder begegnet. Allerdings neigt Maria Löblich nicht dazu, diese personellen Gegebenheiten zu überschätzen. So formuliert sie dezidiert, dass die Wende auch ohne zum Beispiel Elisabeth Noelle-Neumann oder Franz Ronneberger stattgefunden hätte, „wahrscheinlich nur etwas später. Denn es waren die Veränderungen in den gesellschaftlichen Umweltinstanzen nach 1945, die zum wissenschaftlichen Wandel in der Publizistikwissenschaft geführt haben.“ (S. 240) Das entsprechende Kapitel trägt die Überschrift „Anpassungsdruck aus der Gesellschaft“ und bringt in vielen Facetten auf den Punkt, wie sehr dieses Fach seit Mitte der 1970er-Jahre seinen Aufstieg – so muss man es wohl nennen – der Anwendungsorientierung verdankte, also einer Akzeptanz jeglicher Praxis. Dies änderte den Forschungsgegenstand des Faches „grundlegend“ (S. 245). Eine ernsthafte wissenschaftspolitische Debatte – etwa über den Regierungseinfluss auf die Forschungsthemen – hat es im Fach darüber nie gegeben und auch Maria Löblich problematisiert das nur am Rande, obwohl dieser Determinismus durch den externen Forschungsbedarf im Kontext ihrer Arbeit wohl ein spannendes Thema hätte sein können. Sie betont dagegen die das Fach stabilisierenden Wirkungen gerade des von ihr aus den Quellen analysierten Forschungsprogrammes der damaligen Bonner Bundesregierung, das ja durch die Schlüsselrolle von Walter J. Schütz tatsächlich publizistikwissenschaftlich fundiert und orientiert war. Kein Zweifel: „Finanzielle Ressourcen dienten der Ausbildung und Beschäftigung von qualifiziertem Personal sowie dem Reputationsgewinn des Fachs.“ (S. 275) Mit diesem Nachweis des Gewichtes der „Umweltinstanzen“ offeriert die Arbeit jedenfalls ein Ergebnis, dessen kritische Reflektion für die zukünftige Positionierung des Faches nicht ignoriert werden sollte.

Maria Löblich hat ein Buch verfasst, obwohl sie hier ihre Dissertation vorlegt; diese paradoxe Formulierung ist als Kompliment gemeint: akademische Abschlussarbeiten sind selten ein Lesevergnügen: Diese Arbeit ist es – (fast) frei von den üblichen Schlacken des gängigen Duktus von Dissertationen; lesbar und ohne sozialwissenschaftliches Kauderwelsch; den Stoff bändigend und in eine transparente Logik der Darstellung gebracht. Kritisch sei zweierlei angemerkt: Verständlich ist, dass die Entwicklungen in der DDR nicht einbezogen wurden, die unter ganz anderen Vorzeichen stattfanden; unverständlich ist dagegen, dass Österreich und die Schweiz mit dem Argument der Prägung durch den nationalen Rahmen ausgespart blieben. Das Fach hat sich in dieser Epoche seiner Wende in diesen drei deutschsprachigen Demokratien immer als ein einheitliches verstanden, weshalb die Kolleginnen und Kollegen auch ausnahmslos Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) waren (und bis heute sind); personell gab es einen regen Austausch und mit Ulrich Saxer profilierte sich ein Schweizer zum einflussreichsten Modernisierer, als Festredner gefragtesten Prominenten und in der Bundesrepublik allzeit präsenten Berater in der Politik, der Wirtschaft und den Universitäten. Auch unter Einschluss dieser Länder wäre die „Größe der Fachgemeinschaft überschaubar“ (S. 18) geblieben, weil auch die Zahl der einzubeziehenden Universitätsinstitute sich nur um ein paar erhöht hätte. So wird leider auch nicht zum Thema gemacht, warum sich aus der typisch „deutschen“, älteren Zeitungswissenschaft gerade im deutschsprachigen Raum eine neue sozialwissenschaftliche Tradition entwickelte, die es so in Europa nirgends gibt.

Zum anderen: gerne hätte man gelesen, wie Maria Löblich den allgemeineren, sozusagen gesamtgesellschaftlichen Ertrag der von ihr beschriebenen Wende beurteilt. Also: den Einfluss auf gesellschaftliche Debatten; das Verfassen von Standardwerken für ein gebildetes Publikum oder den Bestseller zu einer aktuellen Medienthematik. Ihr eigenes Buch ist eine solche Synthese – für die Fachwelt; einige hundert Einzelveröffentlichungen derart zu bündeln und die Lücken durch eigene Forschungen zu ergänzen, ist hohe monographische Kunst.

Unthematisiert bleibt, ob die empirisch-sozialwissenschaftliche Publizistikwissenschaft solche Wissensbestände auch für andere Themen akkumuliert hat, die nur auf ihre gekonnte Darstellung warten. Das wäre eine andere „Wende“ – hin zur Gesellschaft, zur gebildeten Öffentlichkeit. Wie das konkret aussehen kann, lehrt die Disziplin, der sich auch die Autorin angehörig fühlt: die Geschichtsforschung.

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