M. Ackermann: Wissenschaft und nationaler Gedanke

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Titel
Wissenschaft und nationaler Gedanke im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Eine Studie zum Nationalismus am Beispiel des Gedankenguts der deutschen Forscher Johann Beckmann und Johann Friedrich Ludwig Hausmann im Kontakt mit schwedischen Gelehrten 1763 bis 1815


Autor(en)
Ackermann, Mario
Reihe
Nordische Geschichte 9
Erschienen
Berlin 2009: LIT Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heiko Droste, Institute for gender, culture and history, Södertörn’s University College, Stockholm

Mario Ackermann hat eine Studie zum deutschen Nationalismus im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation vorgelegt. Sie verortet sich ausdrücklich in der Diskussion zur Entstehung eines deutschen Nationalismus vor den Napoleonischen Kriegen, wobei Ackermann sich auf die Seite jener Historiker stellt, die dem Siebenjährigen Krieg eine entscheidende Rolle für die Herausbildung des deutschen Nationalismus beimessen.

In seiner Analyse dieses neuen Nationalismus konzentriert Ackermann sich bewusst auf die Vertreter einer neuen Gruppe sozial hoch angesehener Experten mit öffentlichem Einfluss: Naturwissenschaftler. Die Naturwissenschaften erlebten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen Aufschwung und gewannen Ansehen weit über das Feld ihrer eigentlichen Expertise hinaus. Das erklärt sich durch die wachsende Bedeutung von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen für neue Produktionsformen in einer entstehenden industrialisierten Wirtschaft, die wiederum den merkantilistischen bzw. kameralistischen Vorstellungen der Regierungen entsprach. Naturwissenschaftler unterschiedlicher Fachrichtungen wuchsen somit beinahe selbstverständlich in öffentliche Ämter in den Verwaltungen wie den Universitäten hinein.

Diese Wissenschaftler reisten, vor allem als Teil ihrer Ausbildung, oft über Jahre und ganz gezielt in Länder, denen ein Vorbildcharakter zugewiesen wurde. Diese Reisen waren nicht nur seit Jahrhunderten Bestandteil einer umfassenden Bildung – ihnen wurde auch für die umgebende Gesellschaft ein hoher Stellenwert zugemessen. Die Reisen wurden daher regelmäßig in mehr oder weniger ausführlicher Form publiziert, so dass auch das allgemeine Publikum von den Erfolgen benachbarter Länder profitieren konnte.

Schweden genoss am Ende des 18. Jahrhunderts ein hohes Ansehen bei deutschen Reisenden, nicht zuletzt aufgrund der bahnbrechenden Arbeiten Carl von Linnés sowie der seit dem 17. Jahrhundert mustergültig ausgebauten Metallindustrie. Schweden verfügte auch über einen seit Gustav I. Wasa kulturell, politisch wie konfessionell homogenen Staat, ein Umstand, der den deutschen Reisenden insbesondere vor dem Hintergrund staatlicher Zersplitterung des Heiligen Römischen Reichs anziehend erschien. Dieser funktionierende Nationalstaat konnte als Folie der deutschen Diskussion über einen Nationalstaat dienen. Das macht die Reisebeschreibungen dieser Gelehrten für die deutsche Debatte so interessant.

Ackermann untersucht zwei Reisebeschreibungen von deutschen Wissenschaftlern. Johann Beckmann (1739-1811), seit 1770 Professor für Ökonomie an der Universität Göttingen, war stark an Fragen der Bergwerke und Fabriken interessiert. Er reiste von 1765-1766 durch Schweden. Sein ausführlicher Reisebericht blieb unpubliziert. Johann Friedrich Ludwig Hausmann (1782-1859) war Nachfolger Beckmanns in Göttingen und an ähnlichen Fragen interessiert. Er reiste in den Jahren 1806-1807 durch Skandinavien, wobei er einige Jahre später eine mehrteilige Reisebeschreibung veröffentlichte.

Ackermann nutzt beide Texte, um in ihnen Vorstellungen und Ideen aus dem Umfeld nationaler und patriotischer Gedankengänge zu analysieren. Er ist sich dabei bewusst, dass weder die Zeitgenossen, noch die von ihm untersuchten Wissenschaftler oder gar die moderne Forschung überzeugende Definitionen dieser Begrifflichkeiten vorgelegt hat. Diese hatten im Gegenteil den schillernden Charakter von sich selbst erklärenden Konzepten. Ihrem fleißigen Gebrauch standen somit keine klaren Inhalte gegenüber. Ackermann fragt daher nach den jeweiligen Begriffsfeldern und zugehörigen Vorstellungen, die kategorisiert werden sollen. In einem zweiten Schritt sollen diese Kategorien bei Hausmann und Beckmann verglichen werden.

Vor dieser inhaltlichen Analyse der Reisebeschreibungen bietet Ackermann umfangreiche Hintergrundinformationen. Nach einer einleitenden Diskussion des Forschungsstands folgen eine historische Einführung zur europäischen Geschichte des ausgehenden 18. Jahrhunderts, eine Einführung in den wachsenden Stellenwert der Naturwissenschaften wie ihrer Organisation in den Universitäten, deren Bedeutung für Schweden sowie die Kontakte schwedischer Wissenschaftler zu Kollegen im Heiligen Römischen Reich. Diese einführenden Kapitel werden durch eine biographische Skizze der beiden Protagonisten abgerundet, die besonders auf deren Schwedenkontakte wie Reisetätigkeit eingeht.

Auf S. 151 beginnt dann die rund hundertseitige Untersuchung der beiden Texte, die ausführlich paraphrasiert und anhand von thematischen Schwerpunktsetzungen analysiert werden. Letztere sind aufgrund der jeweiligen Zeitumstände der vier Jahrzehnte auseinander liegenden Reisen sehr verschieden. Für Beckmann war der Siebenjährige Krieg ein wichtiger Ansatzpunkt im nationalen Denken, während Hausmanns Reise auf dem Höhepunkt napoleonischer Machtentfaltung stattfand. Sie gab seinem Bericht einen ausgeprägt antifranzösischen Charakter.

In beiden Berichten findet Ackermann nun Ansatzpunkte für seine Analyse nationalen Gedankenguts, wobei diese aufgrund der definitorischen Unschärfe schwer zu fassen sind. Sie spielen bei Hausmann eine ungleich größere Rolle, was angesichts der Zeitumstände wie der seit Jahrzehnten anhaltenden Debatte über eine deutsche Nation wenig verwunderlich ist. Im Übrigen sieht Ackermann die eingangs aufstellte These von der Existenz eines deutschen Nationalismus vor der Napoleonzeit bestätigt.

Der Rezensent hat freilich nicht verstanden, wie Ackermann zu diesem Ergebnis gekommen ist. Die Studie illustriert diese These eher als dass sie sie bestätigte, zumal Ackermann die Gültigkeit seiner Quellen für die eigene Untersuchung schlicht postuliert: „Denn dass Reiseerfahrungen eine große Wirkung auf das Selbstverständnis ausübten, darf ohne Zweifel vorausgesetzt werden.“ (S. 33). Die Textanalyse leider darüber hinaus unter einer wenig expliziten Methode bei der Quellenarbeit. Ackermann bietet nur Ansätze einer systematischen Textinterpretation, zumal neben den Reiseberichten auch andere Quellen, bevorzugt Briefe, herangezogen werden. Letztere sind für das Denken von Forschern des 18. Jahrhunderts offenkundig eine wichtige Quelle. Sie funktionierten aber wohl nicht äquivalent den Reiseberichten und hätten daher anders gewichtet werden müssen. Dass nur Hausmann seinen Bericht gezielt veröffentlichte, veranlasst Ackermann zum Hinweis, dass dieser Bericht „eine andere Wertigkeit“ (S. 34) habe. Von dieser Erkenntnis ist der Arbeit freilich nichts anzumerken. Alle Quellengattungen mit ihrer intendierten, zufälligen oder fehlenden Publizität sind für Ackermann gleichermaßen verlässliche Zeugnisse für das nationale Gedankengut der beiden Wissenschaftler.

Ackermann hat sich mit der Rekonstruktion der Reisen wie der Reisenden große Mühe gemacht. Wie er ausgehend von diesen Reisen zu seinem Ergebnis kommt, ist hingegen unklar geblieben. Er entsteht vielmehr der Eindruck, dass ein a priori gewusstes Ergebnis hier nur bestätigt wird. Das in der Einleitung formulierte Ziel der Arbeit nimmt das Ergebnis daher konsequent vorweg: „Die vorliegende Arbeit setzt sich demnach das Ziel, verschiedenste Aspekte im deutsch-schwedischen Wissenschaftsverhältnis zu analysieren, um einerseits die erläuterte These der Existenz eines zumeist als Protonationalismus determinierten Bewusstseins im 18. Jahrhundert zu unterstützen. Zum anderen unternimmt sie den Versuch, diese frühnationalen Kennzeichen implizit im Milieu von Naturforschern zu dokumentieren.“ (S. 21-22).

Solchermaßen vergibt Ackermann Chancen der Interpretation, die den besonderen Stellenwert des Nationalismus im Denken gerade von Wissenschaftlern in den Blick genommen hätte. Gleichwohl lassen sich aus der Lektüre der Reisetagebücher wichtige Einblicke in die spezifischen Denkformen einer aufstrebenden Funktionselite gewinnen, die langfristig prägend auf den nationalistischen Diskurs gewirkt haben.

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