P. Corner (Hrsg.): Popular Opinion in Totalitarian Regimes

Cover
Titel
Popular Opinion in Totalitarian Regimes. Fascism, Nazism, Communism


Herausgeber
Corner, Paul
Erschienen
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
£ 55,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Árpád von Klimo, History Department, University of Pittsburgh

Der Titel dieses schmalen Sammelbandes, der neben der Einleitung des Herausgebers zehn Einzelbeiträge umfasst, verweist auf die zentrale Fragestellung der historischen Diktaturforschung in den letzten 20 Jahren: Wie lassen sich die Entstehung und vor allem die Dauerhaftigkeit der europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts erklären, wenn sowohl der Terror des Staatsapparats als auch das Alltagsleben der Bevölkerung bei der Untersuchung berücksichtigt werden? Lange Zeit schlossen sich Forschungsansätze und Erklärungsmodelle gegenseitig aus, die sich entweder mit Machteliten und Entscheidungsträgern bzw. deren Gegnern beschäftigten und eher dem Modell eines „totalitären“ Systems anhingen, oder aber sich mit der Frage befassten, warum so viele „ganz normale“ Menschen die Diktaturen stillschweigend duldeten oder gar unterstützten. Die Gegensätze zwischen beiden Richtungen hatten auch politische (konservativ versus progressiv) oder methodische (Politikgeschichte versus Sozial-, Alltags- oder Kulturgeschichte) Implikationen. Man konnte die Diktaturen nicht gleichzeitig „von oben“ als auch „von unten“ betrachten, dies wurde entweder als „Verharmlosung“ angesehen (so etwa die Alltagsgeschichte) oder als Blindheit gegenüber der (sozial)historischen Realität der Diktaturen. Zudem glich das Totalitarismusmodell ironischerweise der Realitätswahrnehmung der herrschenden Eliten der Diktatur, so wie auch der Begriff des „totalen Staates“ der (italienischen) faschistischen Rechtsschule der 1920er-Jahre entstammt.

In seiner Einleitung verweist Paul Corner auf die Schwächen beider Ansätze und auf die Notwendigkeit, die Diktaturen sowohl von ihrem Machtapparat und dessen Durchsetzung als auch von der Seite der breiten Bevölkerungsmehrheit her zu betrachten. Besonders der Begriff „öffentliche Meinung“, der aufgrund seiner Nähe zum Begriff „Öffentlichkeit“ noch Aspekte eines normativen, mit Emanzipation, Demokratisierung und bürgerlicher Freiheit assoziierten Verständnisses transportiert, scheint geeignet, die vom Totalitarismusmodell vernachlässigte Nachfrageseite der Diktatur offenzulegen (S. 2f.). Es waren zudem die Diktaturen selber, vom italienischen Faschismus angefangen, über den Nationalsozialismus und Stalinismus bis hin zu den bürokratischen Parteidiktaturen der sowjetischen Einflusssphäre, die sich zunehmend für die „Meinung“ oder zumindest die „Stimmung“ der Mehrheitsbevölkerung interessierten und die nicht unbedeutende finanzielle und vor allem institutionelle Mittel einsetzten, um realitätsnahe Informationen zu erhalten, was für die ideologisch durchdrungenen und selbst nicht auf Vertrauen sondern auf Misstrauen gründenden Kontroll-, Propaganda- und Überwachungsapparate eine schwierige Aufgabe darstellte. Leider verzichtet Paul Corner in seiner ansonsten sehr lesbaren, knappen Einleitung auf eine klare Definition oder Klärung der Begriffe.1 Statt dessen wird nur Habermas’ Definition von Öffentlichkeit erwähnt, die aufgrund ihrer normativen Ausrichtungen in der Tat nur schwer auf Diktaturen anzuwenden ist.

Das Buch versammelt die großen Namen der internationalen englischsprachigen Forschung zu italienischem Faschismus, Stalinismus, Nationalsozialismus und DDR. Neben sehr souveränen historiographischen Überblicksbeiträgen von Fitzpatrick und Ian Kershaw sind neuere Detailstudien von jüngeren Forschern wie Jill Stephenson, Jochen Hellbeck oder Jan Plamper wie auch eher essayistische Überlegungen von etablierten Historikern wie Otto Dov Kulka, Marcin Kula oder Mary Fulbrook im Band zu finden. Das ist sehr viel und sehr eindrucksvoll für einen nur knapp 200 Seiten langes Buch. Es macht es aber auch schwierig, jeden Einzelbeitrag entsprechend zu würdigen.

Die beiden Überblicksdarstellungen von Fitzpatrick und Kershaw zeigen erstaunliche Ähnlichkeiten in der Entwicklung der NS- bzw. Stalinismusforschung auf. Dies hängt vermutlich mit der starken Prägung der früheren Forschung durch den Kalten Krieg zusammen, noch mehr aber mit der damaligen Vorherrschaft der Totalitarismustheorie, die einem stark normativen, vom westlichen Demokratiemodell – weniger von der Realität – geprägten Denken entsprang.

Lesenswert ist auch der Beitrag von Paul Corner zum italienischen Faschismus in den 1930er-Jahren. Überzeugend fasst er im ersten Teil den Forschungsstand zusammen und erläutert die Politisierung des Themas besonders in Italien. Er verweist zudem auf weiterhin bestehende Schwierigkeiten mit dem Thema „Konsens“ im Faschismus, das seit Renzo De Felice’ Monumentalwerk über Mussolini die Debatte bestimmt hat. Zwar wurde das Thema seit den 1990er-Jahren von der kulturalistischen Schule übernommen, diese blieb allerdings sehr stark auf Eliten ausgerichtet. Im zweiten Teil seines Aufsatzes stützt sich Corner auf Spitzel- und Stimmungsberichte, die im Auftrag lokaler faschistischer Behörden und Parteistellen in den Provinzen Ferrara, Neapel oder Reggio Calabria in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre zusammengetragen worden waren. Der Faschismus scheint in dieser Zeit an Attraktivität verloren zu haben. Es gibt zahlreiche Klagen über den Mangel an kompetentem Personal aus der Partei, über Korruption und Vetternwirtschaft. Häufig wurde auch der Vorwurf erhoben, hohe faschistische Funktionäre forderten sexuelle Gefälligkeiten für ihre Dienste (S. 131). Verbargen sich dahinter faschistische Maskulinitätsvorstellungen der Funktionäre oder, damit zusammenhängend, Phantasien des Publikums? Leider geht Corner diesem Thema nicht weiter nach. Er betont, dass aus den Berichten eine weitverbreitete, anhaltende Verehrung für Mussolini herauszulesen ist, die sich von der generellen negativen Haltung gegenüber dem Regime abhebt. Das erinnert an den deutschen Fall („wenn das der Führer wüsste“), was auf die anhaltende Wirkung charismatischer Herrschaft verweisen würde. Hier hätte ein theoretisch untermauerter und vergleichend angelegter Ansatz sicher mehr Ergebnisse zutage fördern können.

Otto Dov Kulka kann anhand von digitalisierten Stimmungsberichten aus dem NS zeigen, dass die Nürnberger Gesetze unter anderem den Versuch darstellten, die teilweise spontane, teilweise von der Partei geschürte antisemitische Stimmung, die sich mehr und mehr in gewalttätigen „Einzelaktionen“ bis hin zu Pogromen entlud, unter Kontrolle zu bringen. Und dies nicht, weil ein Teil der „öffentlichen Meinung“ aus humanitären oder religiösen Gründen dagegen protestierte, wie etwa die katholische Bevölkerung in Aachen, welche „die Juden als Menschen“ sah, wie ein NS-Funktionär indigniert feststellen musste (S. 91). Sondern weil man sich um „Ruhe und Ordnung“ bzw. „Recht und Gesetz“ sorgte. Dies verweist auf das komplexe Verhältnis zwischen Bevölkerung und Staat ein halbes Jahr vor dem als „Reichskristallnacht“ betitelten 9. November.

In einem der drei Beiträge zur DDR versucht Martin Sabrow sein anhand der DDR-Historiographie entwickeltes Modell der „Konsensdiktatur“ auf Lion Feuchtwangers Apologie der stalinistischen Schauprozesse von 1937 anzuwenden. Dies überzeugt nur teilweise. Wirkte sich hier wirklich der Konsens derjenigen, die im Regime, in der Realität des Stalinismus lebten, auch auf Feuchtwanger aus, der im westlichen Exil lebte? Thomas Lindenberger kritisiert das Konzept der „Konsensdiktatur“ in Bezug auf die DDR. Es sei zwar gut geeignet, um das Verhalten kommunistischer Eliten oder sympathisierender Intellektueller wie Feuchtwanger zu erklären, aber weniger für die breite Masse der Bevölkerung (S. 211). Dies gilt besonders im Unterschied zum nationalsozialistischen Deutschland, wo es weit mehr Zustimmung und Begeisterung für die Diktatur gab und man daher eher von einer Konsensdiktatur sprechen könne. Stattdessen plädiert Lindenberger in seiner glänzenden, knappen Synthese verschiedener Zugänge für eine andere Erklärung. Er spricht von einem „stillschweigenden Einverständnis“ zwischen SED-Führung und Bevölkerung im Bezug auf die Handhabung bestimmter Themen. Er zählt dazu unter anderem die Themen „Frieden“, „soziale Sicherheit“, „Frauenerwerbstätigkeit“ und „Arbeit“ , aber auch die Intoleranz gegenüber Anderssein (Diskurs über „Asoziale“, Fremdenfeindlichkeit). Das waren oft Themen, die nicht notwendig „sozialistisch“ oder „marxistisch“ waren, aber eine gewisse Stabilität des Regimes gewährleisteten, zumindest bis in die 1980er-Jahre. Eine Forschung, die nur nach ideologisch klar bestimmbaren Denkweisen im Verhältnis zwischen Regime und Bevölkerung sucht, wird dagegen oft keine zufriedenstellenden Antworten geben können.

Der Blick auf die oft nicht spezifisch ideologischen Vorstellungen, die das Regime mit der Bevölkerung teilte, zeigt hingegen, wie wichtig vergleichende Betrachtungen des Themas sind. Die Erwartungen, welche die SED – oder die italienischen Faschisten – bei ihrem Machtantritt und auch in späteren Phasen ihrer Herrschaft, etwa mit dem Machtantritt des „Reformers“ Honecker 1971 weckten, holten die Regime später ein. Andererseits trugen diese „stillschweigenden“ Vereinbarungen und Themen wiederum dazu bei, dass viele Ostdeutsche im Dezember 1989 ihre (später erneut enttäuschten) Erwartungen nach Stabilität, Wohlstand, Gemeinschaft auf die westdeutsche CDU und Helmut Kohl projizieren konnten.

Der Sammelband bietet einen sehr wichtigen Einstieg in das Problem der Bindekräfte von modernen, europäischen Diktaturen. Der Leser bekommt einen Überblick über die bisherige Forschung zu den verschiedenen Regimen, auch wenn sich nicht alle Beiträge wirklich mit „Totalitären Regimen“ oder mit „öffentlicher Meinung“, sondern oft eher mit dem Verhältnis zwischen breiter Bevölkerung und Staat befassen.

Anmerkung:
1 Für eine ausgezeichnete theoretische Einführung in das Problem vgl. Gábor T. Rittersporn / Malte Rolf / Jan C. Behrends (Hrsg.), Sphären von Öffentlichkeit in Gesellschaften sowjetischen Typs. Zwischen parteistaatlicher Selbstinszenierung und kirchlichen Gegenwelten. Public Spheres in Soviet-Type Societies. Between the Great Show of the Party-State and Religious Counter-Cultures, Frankfurt am Main 2003.

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