F. Rumscheid (Hrsg.): Die Karer und die Anderen

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Titel
Die Karer und die Anderen. Internationales Kolloquium an der Freien Universität Berlin 13. bis 15. Oktober 2005


Herausgeber
Rumscheid, Frank
Erschienen
Anzahl Seiten
XIV, 538 S.
Preis
€ 90,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oliver Hülden, Institut für Klassische Archäologie, Ludwig-Maximilians-Universität München

Während der letzten beiden Jahrzehnte ist das Bemühen in den Altertumswissenschaften verstärkt worden, die indigenen Völkerschaften des antiken Kleinasiens selbst und in ihrem Umfeld besser zu verstehen. 2005 hat sich mit Frank Rumscheid ein ausgewiesener Kenner der Region der Karer angenommen. Er initiierte in Berlin ein Kolloquium, das sich im Wesentlichen mit der Frage beschäftigte, was die Karer „von anderen Ethnien unterschied und was nicht“ (S. VII). Vier Jahre später liegt nun der entsprechende Sammelband vor, der in drei thematische Blöcke unterteilt ist. Der erste geht den ‚Beziehungen zu den Anderen‘ nach, während die weiteren eher allgemein mit ‚Einzelne Kulturäußerungen‘ und ‚Topographische Studien‘ überschrieben sind.

Auf die Einleitung des Herausgebers folgt ein knapper Überblick von Michael Meier-Brügger über die indogermanischen Wurzeln der karischen Sprache; er bildet den Einstieg in den ersten Themenblock. Daran schließen Überlegungen von Wolf-Dietrich Niemeier zum Zusammenhang der Gründungsmythen von Milet mit den dortigen, vom Neolithikum bis zu den ‚Dark Ages‘ reichenden archäologischen Befunden an. Insbesondere anhand der minoischen Siedlungsreste möchte Niemeier einen historischen Kern des mit Kreta verbundenen Mythenstranges sowie eine Kontinuität von der späten Bronzezeit bis in die frühe Eisenzeit nachweisen. Die verlockende Deckungsgleichheit von mythischer Überlieferung und Archäologie kann freilich ebenso ein Produkt des Zufalls sein, ein Verdacht, der nicht zuletzt durch das von Niemeier selbst (S. 24) als auffällig bezeichnete Schweigen der Quellen über die jüngere mykenische Präsenz in Milet genährt wird.

Einer ähnlichen Problematik bei der Zusammenführung schriftlicher und archäologischer Quellen ist der Versuch von Alexander Herda unterworfen, die Prozesse von Akkulturation und Ethnogenese der Ionier und Karer in Milet-Stadt, in der Milesia und im übrigen Karien weiter zu erhellen. Herda geht von der Prämisse aus, dass die mythische Überlieferung zwar auf einer gräkozentrischen und retrospektiven Rekonstruktion von Geschichte basiere, sie aber dennoch als Erinnerung tatsächlicher historischer Ereignisse zu betrachten sei. Der Anmerkungsapparat beeindruckt durch die Fülle an Detailwissen und Einzeldiskussionen, was allerdings nicht darüber hinwegzutäuschen vermag, dass das entworfene Bild auf einer überschaubaren und schwer interpretierbaren Zahl von Texten und archäologischen Befunden bzw. Funden aufbaut.

Die folgenden Beiträge befassen sich mit kleineren Gebieten innerhalb Kariens sowie mit dem karischen Verhältnis zu orientalischen Großmächten und Nachbarregionen. Alain Bresson setzt sich mit der griechischen Kolonisation im Bereich des Golfes von Keramos auseinander und stellt insgesamt einen nur vergleichsweise geringen dorischen Beitrag zur Hellenisierung Kariens fest. Mit Loryma und Bybassos hat Winfried Held einen Teilbereich der Rhodischen Peraia untersucht. Er zeichnet anhand von Festungen, Gehöften und Gräbern das Bild einer in militärischer wie wirtschaftlicher Hinsicht konsequenten Durchsetzung rhodischer Interessen einerseits und einer raschen Inkorporierung der Karer in die hellenistische Polis Rhodos andererseits.

Dem Verhältnis zum Lyder- und zum Perserreich widmen sich im Anschluss Christopher Ratté und Hilmar Klinkott. Der Erstgenannte nimmt sein Survey-Projekt im Umfeld von Aphrodisias als Ausgangspunkt und streicht die unterschiedlichen kulturellen Einflüsse auf diese Grenzregion zwischen Karien und Lydien heraus. Klinkott geht dagegen der besonderen Stellung und Behandlung der Karer innerhalb des Perserreiches vor allem in hekatomnidischer Zeit nach und erklärt diese mit der Lage Kariens und seiner Funktion als diplomatischer wie strategischer Schaltstelle. Seine Ansicht, die Perser hätten geradezu aktiv die kulturelle und eigenstaatliche Identität der Karer vorangetrieben, um sich deren Loyalität zu versichern, vermag allerdings nicht ganz zu überzeugen. Werner Tietz wendet sich schließlich den komplexen Beziehungen zwischen Karien und Lykien zu. Eine These von Marc Domingo-Gygax 1 aufgreifend sieht er die Hekatomniden als entscheidende Kraft hinter der Hellenisierung Lykiens und dem Import von Strukturen der griechischen Polis. Während Tietz’ Beobachtungen im politischen Bereich in ihren Grundzügen sicherlich zutreffen, ist seine Skizzierung eines angeblichen und vor allem an Gräbern festgemachten Kulturtransfers von Karien nach Lykien jedoch zu stark verkürzt, als dass sie die tatsächlichen Beziehungen widerspiegeln würde.

Frank Rumscheid legt den Fokus wieder auf Karien selbst und nimmt sich des nebulösen Volkes der Leleger an. Dieses soll ursprünglich in der südlichen Troas gesiedelt haben und im Zuge der griechischen Kolonisation auf die Halikarnassos-Halbinsel verdrängt worden sein. Im Gegensatz zu Bresson etwa betrachtet er die Leleger nicht als „gedankliche Konstruktion der griechischen Mythographen und Geschichtsschreiber“ (S. 112–113), sondern begibt sich – nicht ohne eigene Zweifel – auf eine archäologische Spurensuche. Als Ausgangsbasis dienen ihm bestimmte Bauformen (‚Compounds‘ und steinerne Tumuli), aber auch Organisationsformen (zum Beispiel die Siedlungsstruktur), wie sie im Bereich des als lelegisch überlieferten Hauptortes Pedasa festzustellen sind. All dies findet, jedenfalls bislang, in der südlichen Troas keine Entsprechungen. Das gesamte Gebiet zwischen Troas und Karien lässt Rumscheid beiseite.2 Merkwürdigerweise begegnen aber in Zentrallkyien Steintumuli, die eine erstaunliche Übereinstimmung mit ihren ‚lelegischen‘ Pendants zeigen – wie auch andere der dortigen Grabtypen.3 Ginge man also den von Rumscheid eingeschlagenen Weg konsequent weiter, so müssten die Leleger eigentlich bis nach Zentrallykien gelangt sein, weshalb es fragwürdig erscheint, ob bestimmte Phänomene der materiellen Kultur tatsächlich mit ihnen zu verbinden sind.

Herkunftsfragen stellt auch Bernhard Schmalz. Er bezieht sich auf zwei grundverschiedene Materialgattungen, die klassischen Tempelfassadengräber und die subgeometrische Keramik von Kaunos. Im Falle der Gräber lehnt er eine Anbindung an Bauten in Karien selbst (etwa die Andrones in Labraunda) und im benachbarten Lykien (Xanthos) ebenso ab wie eine Abhängigkeit von Athen. Stattdessen denkt er an eine Beeinflussung aus der kykladischen und ionischen Architektur. Hier muss man sich allerdings fragen, ob das Negieren der angesprochenen Einflüsse nicht auf dem Postulat von Eins-zu-eins-Kopien beruht und ob Einzelelemente hier gegenüber generellen und kaum zu übersehenden Übereinstimmungen nicht zu stark aufgewertet sind. Vincenzo Ruggieri führt den Leser danach wieder auf eine allgemeine Ebene zurück und beendet den ersten Themenblock mit einem Sprung, der unmittelbar in die frühbyzantinische Zeit führt. Diese Auslassung der Kaiserzeit, die für den gesamten Sammelband gilt, lässt vermuten, dass es um die Identität der Karer nach der Übernahme der römischen Herrschaft nicht gut bestellt gewesen ist – ein Eindruck, den Ruggieri erwartungsgemäß auch für die Nachantike bestätigt.

Zwei eng miteinander verbundene Beiträge zu den karischen Sprachdenkmälern leiten den zweiten, vom Umfang her gleichgewichtigen Teil ein. Wolfgang Blümel resümiert den aktuellen Forschungsstand und stellt fest, dass es den Karern nicht gelungen ist, „ein einheitliches, verbindliches Alphabet zu entwickeln“ (S. 226), und dass der entscheidende Fortschritt bei der Entschlüsselung des Karischen nach wie vor aussteht. Daniela Piras ordnet danach die karischen Schriftzeugnisse, soweit möglich, den jeweiligen Fundorten und archäologischen Kontexten zu. Dabei gelingt es ihr jedoch nicht, den selbst auferlegten Anspruch zu erfüllen, durch sie „den zeitlichen Ablauf und die Modi des Hellenisierungprozesses in seinen regionalen Unterschieden zu erfassen sowie seine Auswirkungen auf das Medium Sprache und auf die kulturelle Identität der Karer zu erhellen“ (S. 229).

Zwischen allgemeinem Überblick, speziellen Einzelstudien und Materialvorlagen bewegen sich nahezu sämtliche der folgenden Beiträge, von denen daher nur einzelne herausgegriffen seien. So stehen etwa karische Heiligtümer und Kulte im Vordergrund der Untersuchungen von Pierre Debord und Pontus Hellström, wobei der eine die jahrzehntelange Forschung einer kritischen Bilanz unterzieht und versucht, die allgemeinen Strukturen der alles andere als einheitlichen karischen Religion offenzulegen, während der andere dem Zusammenhang zwischen sakraler Architektur und karischer Identität anhand des Zeusheiligtums von Labraunda und des offenbar jetzt in ionischer Ordnung zu rekonstruierenden Artemisheiligtums von Amyzon nachgeht.

Mit möglichen lokalen Wurzeln des als ‚Ionische Renaissance‘ bezeichneten Bauprogramms der Hekatomniden befasst sich Abdulkadir Baran und stellt zu diesem Zweck sämtlichen datierbaren und bisher in Karien gefundenen Architekturschmuck aus vorhekatomnidischer Zeit zusammen. Während die eine oder andere Einzelbeobachtung durchaus Unterschiede zur aiolischen und ionischen Architektur offenbart, dürfte die Folgerung, dass die Entwicklung der karischen Architektur im 6. und 5. Jahrhundert v.Chr. ebenso konsistent und in gleichartiger Qualität verlief wie im griechischen Raum, den Befund etwas überstrapazieren. Dies trifft auch auf die Aussage zu, dass Karien als „one of the leaders for the development of Archaic Aeolic and Ionic architecture“ zu betrachten sei (S. 311).

In seinen punktuellen Beobachtungen als ebenso beachtlich, im Gesamtergebnis aber als ebenso wenig tragfähig dürfte sich die von Poul Pedersen postulierte indigene Tradition karischer Herrschersitze erweisen, die möglicherweise sogar eine Rolle bei der Entwicklung der hellenistischen Palastarchitektur im griechischen Raum gespielt haben soll.4 Zu fragmentarisch und architektonisch zu unspezifisch sind nämlich die Überreste des überbauten Palastes des Maussollos in Halikarnassos, deren Untersuchung den Ausgangspunkt von Pedersens Überlegungen bildet.

Frank Rumscheid und seinen Mitautoren ist es zweifellos gelungen, den aktuellen Stand der Forschungen zu Karien weitgehend zu bündeln. Ohne Frage wird der Band auch eine erste Anlaufstelle für all jene bilden, die sich speziell mit den Karern oder allgemein mit Kleinasien beschäftigen. Wer mit dem Thema weniger vertraut ist, dürfte indes etwas überfordert sein. Nimmt man zudem Titel und Einleitung zum Maßstab, so wird lediglich der erste Teil des Buches dem Anspruch einer ethnischen Abgrenzung der Karer von den Anderen wirklich gerecht, während die übrigen Aufsätze (von einzelnen Ausnahmen abgesehen) eine Sammlung von sicherlich interessanten, aber doch mehr oder weniger zusammenhangslosen Einzelstudien darstellen.

Insgesamt ist darüber hinaus festzustellen, dass gerade jene Untersuchungen, die sich mit der eigentlichen Thematik des Kolloquiums beschäftigen oftmals zu erheblichen Spekulationen neigen, die mitunter in dem Hinweis münden, das eigentliche Potential der Karien-Forschung liege in zukünftigen, insbesondere archäologischen Entdeckungen. Das grundsätzliche und sich durch fast alle diese Beiträge ziehende methodische Problem, die allzu überschaubare und zudem häufig nebulöse schriftliche Überlieferung mit archäologischen Befunden/Funden in Einklang zu bringen, dürfte allerdings tatsächlich nicht auf Quantitäten beruhen, sondern vielmehr an den kaum zu greifenden Karern selbst liegen und insofern zeitlos sein.

Anmerkungen:
1 Marc Domingo Gygax, Untersuchungen zu den lykischen Gemeinwesen in klassischer und hellenistischer Zeit, Bonn 2001, S. 92–122 bes. 115. Dieser überträgt damit freilich seinerseits eine Formulierung, die Simon Hornblower (Mausolus, Oxford 1982, S. 352) zuvor für Karien gebraucht hat, lediglich auf Lykien.
2 Dabei wären gerade dort, nämlich in Alt-Smyrna, zumindest einige Tumuli mit Bruchsteinaufschüttungen zu finden, siehe etwa Oliver Hülden, Gräber und Grabtypen im Bergland von Yavu (Zentrallykien). Studien zur antiken Grabkultur in Lykien, Bonn 2006, S. 134–135 mit Verweisen auf die ältere Literatur in Anm. 596. Wie diese Tumuli einzuordnen sind, ist bislang jedoch weitgehend unklar.
3 Siehe hierzu bereits Hülden (wie Anm. 2) S. 131–135, 149–150, 185–187, 215 und in Bälde die aktualisierte Zusammenfassung: Oliver Hülden, Considerations on the tumuli of Lycia in the pre-classical period, in: Mariaud, Olivier (Hrsg.), Carie et Lycie aux époques préclassiques. Identités croisées. Actes du colloque de Bordeaux, 5 décembre 2008 (im Druck).
4 In diesem Zusammenhang ist ein Blick in die Nachbarlandschaft Lykien lohnend, wo Thomas Marksteiner (Trysa. Eine zentrallykische Niederlassung im Wandel der Zeit, Wien 2002, S. 81–97) versucht hat, die dynastischen Wohn- bzw. Palastbereiche in einen größeren Kontext zu stellen.

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