S. Lachenicht u.a. (Hrsg.): Diaspora Identities

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Titel
Diaspora Identities. Exile, Nationalism and Cosmopolitanism in Past and Present


Herausgeber
Lachenicht, Susanne; Heinsohn, Kirsten
Erschienen
Frankfurt am Main 2009: Campus Verlag
Anzahl Seiten
164 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Miriam Rürup, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Universität Göttingen / Deutsches Historisches Institut Washington

Auf den ersten Blick mögen die im Titel dieses Bandes gebündelten Begrifflichkeiten wie eine möglichst breite Klammer für einen weit gefächerten Sammelband wirken oder gar inhaltlich widersprüchlich erscheinen. Sind die darin vereinten Konzepte doch sehr unterschiedlich konnotiert: Diaspora und Exil werden – sowohl analytisch als auch in den Quellendiskursen – meist mit erzwungener Migration und Verlusterfahrung verbunden, Nationalismus erscheint als die dies forcierende Ideologie und Kosmopolitismus womöglich als die Überwindung der historischen Nationalstaatsentwicklung. Genau zu diesen vermeintlich gegenläufigen Vorannahmen querzudenken, laden uns die Herausgeberinnen gleichwohl ein. Sie legen hier einen kompakten und sehr lesenswerten Band vor, der auf eine Tagung im Jahr 2007 zurückgeht. Die Beiträge suchen aus verschiedenen Richtungen und Perspektiven nach Entstehungsformen und -bedingungen kosmopolitischer Einstellungen, diasporischer Zugehörigkeitsmodelle und im Exil entstehender transnationaler Identitäten und setzen diese (Selbst-)Verortungsdiskurse immer in Kontrast zu Fragen von Nationalismus und damit eher un-kosmopolitischen Denkweisen.

In ihrer Einleitung betonen die Herausgeberinnen, dass sie mit dem Begriff Kosmopolitismus eine Kategorie wieder aufgreifen, die bereits vielfach wissenschaftlich verwendet worden sei. Trotz dieser neuerlichen Konjunktur eines an sich schillernden Begriffes seien vergleichende Studien über die Verbindungen von Exil und Diaspora, Kosmopolitismus und Nationalismus, weiterhin selten. Dass es der Blick auf verschiedene Diasporas möglich macht, den Nationalstaat als nur eine Option unter vielen zu sehen, übernehmen sie von Daniel und Jonathan Boyarin, verweisen aber zu Recht darauf, dass Diaspora-Zuschreibungen zuweilen auch dazu beitragen können, den Nationalstaat gerade zu stärken – durch eine Hyperstasierung des nationalen Bezugs auf ein „Heimatland“.

So kommen Lachenicht und Heinsohn auch zu ihren Hypothesen, die den Band wie ein roter Faden durchziehen (und das muss bei einem Sammelband unbedingt positiv hervorgehoben werden): Kosmopolitismus und Nationalismus seien nicht als sich gegenseitig ausschließend zu betrachten, sondern könnten auch komplementäre und sich damit gegenseitig bedingende Konzepte sein. Die Herausgeberinnen sprechen hier sehr zugespitzt von einer „creative tension“ (S. 9). Gerade auch Gruppen, die von in Entstehung befindlichen Nationalstaaten als nicht zugehörig betrachtet wurden, können somit ihren Teil zur Nationalstaatsbildung beigetragen haben, wie beispielsweise die Beiträge zu Hugenotten oder sephardischen Juden zeigen.

Liam Chambers betrachtet in seinem Beitrag die sich verändernden Identitätsbeschreibungen von Studenten und Angehörigen irisch-katholischer Colleges in Paris im 18. und 19. Jahrhundert. Diese konnten – je nach politischer Notwendigkeit – zwischen irischen, französischen und sogar britischen Nationalbezügen wechseln. Die Colleges, die Chambers in den Blick nimmt, entstanden infolge der großen Migrationsbewegungen irischer Katholiken auf das europäische Festland seit dem 17. und 18. Jahrhundert. Die stetige Spannung zwischen der nationalen, irischen Identität und den örtlichen Realitäten, die Anpassungen verlangten, führten zu der erwähnten Vielfalt von changierenden kollektiven Bezügen. Häufig waren sie jedoch eher rhetorisches Mittel als praktische Realität. Chambers spricht hier durchaus einleuchtend von „adaptable […] identities“ (S. 28).

Susanne Lachenicht zeigt, wie verschiedene Akteure der sephardischen Diaspora seit dem 16. Jahrhundert darum bemüht waren, einen als unbeständig wahrgenommenen Umgang der ehemals portugiesischen Juden mit nationalen Identitätsangeboten zu verhindern. Der Begriff Kosmopolit wurde in der Vormoderne gerade auf diejenigen angewendet, die außerhalb der Gesellschaft standen bzw. sich zwischen verschiedenen Kulturen frei bewegten. In einem sehr klar strukturierten Beitrag skizziert Lachenicht, wie sich portugiesische Juden in den europäischen Städten Amsterdam, Bordeaux, London und in den nordamerikanischen englischen Kolonien niederließen. Sie zeigt, wie das Konzept einer „sephardischen Nation“ in diesen verschiedenen Lebenswelten ausgehandelt und situativ unterschiedlich, teilweise geradezu bewusst eingesetzt wurde. Um die Vielfalt der Adaptionsmöglichkeiten sogleich begrifflich zu verdeutlichen, spricht sie von Diasporas im Plural. Diese Vielfalt war durch den sich wandelnden historischen Kontext genauso bestimmt wie durch lokale Unterschiede und innerjüdische Diskussionen.

Eine weitere religiös bedingt entstandene Diaspora analysiert Bertrand Van Ruymbeke. Zunächst geht er auf die Konnotationen der Begrifflichkeit von Emigrant bzw. Flüchtling ein: Während Emigrant nach der Französischen Revolution eine abwertende Bezeichnung für diejenigen war, die unpatriotisch das Land verließen, wurden die hier im Fokus stehenden Hugenotten als Flüchtlinge und damit als Opfer des katholischen wie absolutistischen Regimes von dieser Negativbeschreibung ausgenommen. Der Autor stellt fest, wie gerade die Diasporaexistenz bereits im 17. Jahrhundert zur Formation einer protestantischen französischen Nationsvorstellung beigetragen hat. War zuvor die regionale Herkunft identitätsbildend, so wurde es in der Diaspora zunehmend die gesamtfranzösische Herkunft. Die Emigranten übernahmen mithin die ihnen in der Fremde zugeschriebene Identität.

In einem diskursgeschichtlichen Beitrag verfolgt Maurizio Isabella die Entstehung nationaler Bezüge im kosmopolitischen Umfeld europäischer Großstädte des 19. Jahrhunderts wie Brüssel, Paris und London. Er führt aus, wie die religiöse Sprache im nationalistischen Diskurs übernommen wurde. Auch hier zeigen sich also eine Vielschichtigkeit und verschiedene Optionen des Transfers – so konnte das Exil einer Pilgerreise gleichgesetzt werden. Die Exilierten wurden damit diskursiv zu den Vorkämpfern des Nationalen erklärt. Inwiefern diese religiöse Universalität vielleicht das meint, was in anderen Beiträgen des Bandes als Kosmopolitismus bezeichnet wird, bleibt gleichwohl offen.

Wie Anti-Kosmopolitismus als Abwehrbewegung zu einem politischen Argument werden konnte, zeigt Frank Grüner in seinem sehr präzise argumentierenden Artikel zur russischen extremen Rechten im 20. Jahrhundert. Bereits von seiner ersten nachweisbaren Nutzung an war der Begriff Kosmopolitismus, der schließlich zentraler Baustein einer antikosmopolitischen Ideologie wurde, antisemitisch konnotiert und wurde als jüdische Eigenschaft gedeutet. Der in Entstehung befindliche vorrevolutionäre russische Nationalismus schien diese Ideologie als Gegenpol zu benötigen, Kosmopolitismus war hier gleichgesetzt mit fehlender Loyalität und suspekter Vaterlandslosigkeit. Diese antisemitische Abwehrhaltung blieb auch in Sowjetrussland bestehen und war Teil der antizionistischen Politik.

Ganz anders findet Anna Holian in ihrem Beitrag eine deutlich positive Bezugnahme auf Ideen von Internationalismus und Kosmopolitismus. An der Universität der United Nations Relief and Rehabilitation Administration, die im Sommer 1945 von und für displaced persons in München eingerichtet wurde, studierten Angehörige einer Vielzahl teils gar nicht mehr bestehender Staaten. Sie kreierten eine „imagined international community of displaced persons“ (S. 111), die den Repatriierungsbemühungen der Alliierten bald zuwiderlief. Der Internationalismus war aber nicht nur Idee, sondern durchaus auch funktionales Argument für die Begründung und im Kampf um deren Fortbestand. Zugleich verharrten die Akteure jedoch im nationalen Definitionsrahmen, wenn sie von der Universität als „family of nations“ sprachen, wie Holian schlüssig herausarbeitet.

Am Beispiel einer liberalen deutschen Jüdin untersucht Kirsten Heinsohn, wie trotz der Erfahrung von Vertreibung und Exil sowie trotz der Errichtung der „jüdischen Heimstatt“ im Staat Israel ein bewusster und positiv gedeuteter Diasporabezug bestehen bleiben konnte. Sie führt dies ausgehend von einem programmatischen Artikel von Eva Reichmann aus, die im Centralverein der deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) aktiv und damit einer assimilatorisch ausgerichteten Organisation verbunden war. Reichmann unterstützte zwar den Zionismus, wandte sich aber gegen die zionistische Programmatik, die Diaspora aufheben zu wollen. Die Diaspora schließlich sei die Garantie für den Fortbestand des Judentums – gerade das „space of exile“ (S. 143) stelle Kontinuität her.

Ebenfalls über einen positiven Bezug auf ein kosmopolitisches Milieu, zugleich vor dem Hintergrund politischen Exils reflektiert Kate Daniels. Sie analysiert hier das Werk von Mahmud Darwish, in dem Beirut als lieu de mémoire eine wesentliche Rolle spielt. Darwish versuchte als palästinensischer Flüchtling seine Diasporaerfahrungen in weltbürgerliche Erklärungsmuster zu formen, und wurde doch zeitlebens als palästinensischer Nationaldichter gefeiert.

Auch in diesem Beitrag also findet sich die Spannung wieder, die die Herausgeberinnen in ihrer Einleitung skizziert haben: Nationale (Selbst-)Entwürfe bedienen sich teilweise kosmopolitischer, weltbürgerlicher, internationalistischer oder anders definierter post-nationaler Begrifflichkeiten, die sie als einen Gegenpol benötigen.

Am Schluss der Einleitung bieten die Herausgeberinnen zwar einige Definitionen von Kosmopolitismus an: Kosmopolitismus als Idee, Praxis/Praktik, wie auch als Haltung/Einstellung. Aber gerade weil die Vielschichtigkeit der möglichen Verständnisse von Diaspora, Identitäten und Kosmopolitismus vermutlich Programm ist, wäre es zuträglich gewesen, wenn alle Beiträger gleichermaßen darum bemüht gewesen wären, vor dem Einstieg in die Empirie ein paar Gedanken auf die Verwendung der jeweiligen Begrifflichkeit zu verschriftlichen.

Besonders der häufig gewählte Begriff der Diaspora erlebte in der englischsprachigen Forschung bereits in den 1970er-Jahren eine Konjunktur. In der deutschsprachigen Forschung entstanden Arbeiten in diesem Bereich seit den 1990er-Jahren, verstärkt fand nun auch eine kritische theoretische Auseinandersetzung mit der Begrifflichkeit statt. Diaspora wurde dabei lange als Ergebnis von Konfessionsmigration betrachtet, Arbeiten zu nichtreligiösen Diasporas entstanden bislang in Deutschland vor allem in der außereuropäischen Geschichte. Erst in jüngerer Zeit lässt sich die Herausbildung einer „komparatistischen Diasporaforschung“ ausmachen, wie Susanne Lachenicht in einem Diskussionsforum in sehepunkte einforderte.1 Dass dies gelingen kann und tatsächlich zu neuen Fragen und Sichtweisen anregt, haben die beiden Herausgeberinnen mit diesem Sammelband eindrucksvoll gezeigt.

Anmerkung:
1 Susanne Lachenicht, Einführung Forum Diasporen, Sehepunkte 9 (2009) Nr. 6 <http://sehepunkte.de/2009/06/forum/diasporen-54/> (24.08.2010).

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