D. Engels u.a. (Hrsg.): Zwischen Ideal und Wirklichkeit

Cover
Titel
Zwischen Ideal und Wirklichkeit. Herrschaft auf Sizilien von der Antike bis zum Spätmittelalter


Herausgeber
Engels, David; Geis, Lioba; Kleu, Michael
Erschienen
Stuttgart 2010: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
363 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kristjan Toomaspoeg, Dipartimento dei beni delle arti e della storia, Università degli studi di Lecce

Der Band geht auf eine Tagung vom Februar 2009 in Aachen zurück und versammelt 16 Aufsätze von Wissenschaftlern verschiedener Institutionen, die im Bereich der griechischen, römischen, byzantinischen, islamischen sowie der mittelalterlichen Geschichte arbeiten. Es handelt sich um „junge“, zwischen 1969 und 1981 geborene Forscher, die teilweise aber bereits als Spezialisten und Kenner ihrer Studiengebiete bekannt sind und an einem gemeinsamen Projekt der RWTH Aachen und der Université Libre de Bruxelles teilgenommen haben. Das Projekt zur Herrschaft in Sizilien umfasst mehrere Epochen der Geschichte von der phönizischen Kolonisation bis zur Sizilianischen Vesper von 1282 und stellt die Insel in der Vielfältigkeit ihrer politischen und kulturellen Entwicklung vor. In der Einleitung (S. 7–12) stellen die Herausgeber als Sinnbild für die lange und wechselvolle Geschichte Siziliens die Kathedrale Santa Maria delle Colonne von Syrakus heraus, die ursprünglich ein griechischer Tempel war, um 600 in eine christliche Kirche umgewandelt und danach, bis zur normannischen Eroberung, als Moschee benutzt wurde. Dabei nennen sie als Anliegen des Sammelbands die Wirkung idealer, meist von außen eingebrachter Herrschaftskonzeptionen. Die Hauptfrage des Projekts und somit des Buches sei, mit welchen Vorstellungen, Konzepten und Idealen die Insel in Besitz genommen und in welchen Formen die Herrschaft etabliert wurde.

Was die einzelnen Vorträge betrifft, so behandelt Michael Kleu („Von der Intervention zur Herrschaft. Zur Intention karthagischer Eingriffe auf Sizilien bis zum Frieden von 405“, S. 13–36) den Zeitraum von 481/80 bis 406/05 v.Chr. Stefan Schorn („Politische Theorie, ‚Fürstenspiegel‘ und Propaganda. Philistos von Syrakus, Xenophons Hieron und Dionysios I. von Syrakus“, S. 37–61) betrachtet einen Xenophon-Dialog, der ein fiktives Gespräch zwischen dem Dichter Simonides und dem Tyrannen Hieron I. von Syrakus darstellt. Alexander Schüller („Warum musste Dion sterben? Quellenkritische Anmerkungen zum Untergang eines Tyrannen wider Willen“, S. 63–89) sucht die überraschende Ermordung Dions von Syrakus im Jahr 354, kurz nach seiner erfolgreichen Machtübernahme in Sizilien, zu erklären. Efrem Zambon („Authenticity and idealism in sicilian politics from Timoleon to Pyrrhus“, S. 91–119) erforscht die Folge von individuellen politischen Experimenten in Sizilien zwischen der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts v.Chr. Luca Guido („Encore à propos des débuts de l’administration romaine en Sicile. À mi-chemin entre idéalité et réalité“, S. 121–136) untersucht die noch ungenügend erforschte Geschichte der römischen Verwaltung in Sizilien. Thomas Bounas („Cicero und Verres. Die römische Provinzialverwaltung zwischen Fürsorge und Ausbeutung“, S. 137–157) bietet ein konkretes Beispiel der römischen Administration Siziliens anhand einer Studie des Prozesses gegen den Provinzialstatthalter Verres im Jahr 70 v.Chr. Julia Hoffmann-Salz („Augustus und die Städte Siziliens. Ideal und Wirklichkeit der Herrschaftsübernahme auf Sizilien“, S. 159–174) stellt die Möglichkeiten der Herrschaftsübernahme Oktavians auf Sizilien nach der Schlacht von Naulochos 36 v.Chr. gegen Pompeius dar. Carla Nicolaye („Sicily as pawn in vandal foreign policy“, S. 175–188) studiert die Quellen zu dieser Schlüsselepoche der Geschichte der Insel, besonders die Zeit des Königs Geiserich (428–477). Peter van Nuffelen („Episcopal succession in Sicily during the sixth century A.D.“, S. 189–199) bietet eine Studie der Geschichte des sizilianischen Klerus und seiner Beziehungen zur römischen Kurie. Vivien Prigent („La Sicile byzantine, entre papes et empéreurs (6ème–8ème siècle“), S. 201–230) stellt die zwei unterschiedlichen Herrschaftssysteme der Insel in byzantinischer Zeit, das des Kaisers und das des Papstes, dar. Erik Lipperts („Papst Gregor II. und Kaiser Leon III. Die Abtretung Siziliens im Licht der neueren Forschung“, S. 231–245) analysiert die große Auseinandersetzung zwischen Papsttum und Byzanz in Sizilien im ersten Drittel des 8. Jahrhunderts. Die islamische Herrschaft über die Insel wird von David Engels („L’insurrection d’Ibn Qurhub. La Sicile entre Fatimides et Abbassides“, S. 247–264) untersucht. Julia Becker („Graf Roger I. von Kalabrien und Sizilien. Eine realistische Herrschaft zwischen drei Kulturen?“, S. 265–281) erforscht die Verwaltung Siziliens unter Roger I. nach der Eroberung der Insel. Lioba Geis („Die Hofkapelle als Herrschaftsinstrument Rogers II. für Sizilien?“, S. 283–305) bietet eine nach den Grundlagen fragende Studie über die Hofkapelle im Dienst des ersten Königs von Sizilien. Georg Vogeler („Die Urkunden Kaiser Friedrichs II. für Empfänger auf der Insel Sizilien. Herrschaftspraxis zwischen Zentrum und Peripherie“, S. 307–324) untersucht den Kontrast zwischen Rhetorik und Wirklichkeit in der Urkundenemission Friedrichs II. Wie Christian Friedl („Herrschaftskonzeption bei König Manfred. Staufisches Ideal und Scheitern der realpolitischen Ansätze“, S. 325–335) zeigt, spielte die Insel Sizilien zwischen 1250 und 1266 im Vergleich zum Rest des Regnum Siciliae nur eine untergeordnete Rolle. Schließlich thematisiert Philipp M. Schneider („Die sizilianische Vesper und die Communitas Siciliae von 1282. Über den Versuch eines sizilianischen Städtebundes“, S. 337–350), wie zwischen März und August 1282 die Sizilianer ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen versuchten.

Die Schlussbemerkungen der Herausgeber („Herrschaft auf Sizilien zwischen Ideal und Wirklichkeit. Bilanz und Perspektiven“, S. 351–360) lassen noch einmal alle Aufsätze hinsichtlich ihrer Originalität und ihrer Fragestellungen Revue passieren, bieten aber keine eigene Synthese des Themas, denn die zeitliche und inhaltliche Streuung sowie die methodologische Diversität dieser Texte „machen es unmöglich […] anwendbare historische Modelle zu erstellen“ (S. 351). Was alle Autoren deutlich machen, ist, dass die Herrschaft auf Sizilien sich immer den Gegebenheiten anpasste, ansonsten werfen sie neue Fragen auf, zum Beispiel jene nach Zentrum und Peripherie oder auch nach einer spezifisch sizilischen Identität. Nach Ansicht des Rezensenten sind die Schlussfolgerungen plausibel und angemessen. Der Band bietet von Spezialisten geschriebene, ausführliche und teilweise innovative Texte zur Geschichte Siziliens vom Altertum bis zum Spätmittelalter. Es bleibt jedoch bei einer Zusammenstellung verschiedenartiger Studien. Was aber ist eigentlich Herrschaft? Ein abstraktes Konzept oder eine Rückkehr zur histoire événementielle? Die politische Geschichte Siziliens kann nicht einfach als eine Reihe von Fremdherrschaften betrachtet, sondern muss als Integration der fremden Mächte in eine starke, lokale Gesellschaft angesehen werden. Eine Studie der Herrschaft allein ist ohne eine tiefere Beschäftigung mit der Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Insel kaum fähig, die komplexe Realität Siziliens zu erklären. Dass es sich um Aspekte einer größeren Problematik handelt, bringen die einzelnen Autoren jeweils zum Ausdruck. Es wäre interessant gewesen, diese Sammlung nicht nur auf das Altertum und das Mittelalter zu begrenzen, sondern auch eine interdisziplinäre, bis in die Nachkriegszeit reichende Veröffentlichung zu bieten. So ist etwa die Frage nach der sizilischen Identität keineswegs auf das Mittelalter begrenzt, und es bleibt unbeantwortet, weshalb weder in Sizilien noch in ganz Süditalien ein Ethnogeneseprozess stattgefunden hat. Ebenso ist auch jene Frage nach Zentrum und Peripherie eine ewige Frage in der Geschichte der Insel. Trotz aller behutsamen Kritik an der Gesamtkonzeption des Bandes handelt es sich um ein gut lesbares und interessantes Werk zu den Wendepunkten der Geschichte Siziliens.

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