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Titel
„Per verba magistri“. Anselme de Laon et son école au XIIe siècle


Autor(en)
Giraud, Cédric
Reihe
Bibliothèque d'histoire culturelle du Moyen Âge 8
Erschienen
Turnhout 2010: Brepols Publishers
Anzahl Seiten
631 S.
Preis
€ 85,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sita Steckel, Exzellenzcluster ‚Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne‘, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Anselm von Laon (gestorben 1117), der Scholaster, frühscholastische Theologe und „Lehrer der zukünftigen Lehrer“ (Southern) ist eine zentrale Figur der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte des europäischen Hochmittelalters. Nicht nur die Anfänge der Glossa ordinaria zur Bibel, sondern auch ein neuer Umgang mit den Autoritäten der patristischen Tradition wurden wesentlich in seinem Umfeld geprägt. Anselm stand klar an einem Punkt des Übergangs von älteren Idealen der geistlichen Lehre zu einem neuartigen gelehrten Expertentum und zu Anfängen wissenschaftlich ausgerichteter Theologie.

Dass trotz dieser unbezweifelten Bedeutung bislang keine Monografie zu ihm vorlag, war eine beklagenswerte Forschungslücke. Der Grund lag in der Überlieferung: Im Gegensatz zu seinem ungebärdigen Kurzzeit-Schüler Peter Abaelard ist Anselm von Laon als Person in den Quellen kaum zu greifen. Seine theologischen Werke, denen sich im Detail fast nur dogmengeschichtliche Forschungen des früheren 20. Jahrhunderts gewidmet hatten, sind dagegen bis heute nicht vollständig ediert. Kaum ein mit Anselm von Laon assoziierter Bibelkommentar ist zudem in seiner Zuschreibung unumstritten geblieben, und auch die Überlieferung seiner Sentenzen führte zu Diskussionen. Valerie Flint bezweifelte etwa schon 1976, dass es eine frühscholastische ‚Schule von Laon‘ um Anselm überhaupt gegeben habe. Sie vertrat die Meinung, dass die Überlieferung des Anselmschen Gedankenguts eher in Richtung der Monastik als der Scholastik weise. Wie schon Heinrich Weisweiler und Peter Classen festgestellt hatten, rezipierte man ihn zudem nicht nur in Frankreich, sondern auch im Reich.1

Die anzuzeigende Studie von Cédric Giraud, aus einer Pariser Dissertation bei Jacques Verger entstanden, füllt diese seit langem bestehende Lücke nun äußerst kompetent und sehr weitgehend aus. Sie ist in drei klar abgegrenzte, einander ergänzende Teile gegliedert. Abschnitt I widmet sich Person und Umfeld Anselms von Laon (S. 35–184), Abschnitt II Inhalt und Tendenz seines theologischen Unterrichts (S. 185–338) und Abschnitt III schließlich Rezeption und Bedeutung seiner Schule im größeren Kontext (S. 339–492). Die Quellen zu Anselms Person, der Inhalt der ihm zugeschriebenen Sentenzen (II) und schließlich die Überlieferung und Zusammensetzung der größeren, nicht auf ihn zurückgehenden Sentenzensammlungen liefern die Quellengrundlage für diese unterschiedlichen Kapitel. Erstmals werden also gleichzeitig nicht nur praktisch alle Äußerungen zu Anselm und seiner Lehre genauestens erfasst, kontextualisiert, in Zusammenschau gebracht und interpretiert, sondern auch seine theologischen Sentenzen auf Themen und Methoden untersucht und eine handschriftenkundlich versierte Einordnung der Sentenzensammlungen vor dem Hintergrund der intellectual history des 12. Jahrhunderts geboten.

Während sich Giraud notgedrungen auf die detaillierte Untersuchung der acht wichtigsten Sentenzensammlungen konzentrieren muss, wird die Zuschreibung von Kommentaren und die Überlieferung weiterer Sentenzen zumindest gründlich diskutiert; die Auseinandersetzung mit dem dogmatischen Inhalt und der methodischen Ausrichtung der Sentenzen Anselms von Laon liefert in sich einen wertvollen Überblick über zeitgenössische Theologie. Weiteren Forschungen wird auch die im Anhang abgedruckte Übersicht zu Überlieferung und Quellen (!) aller Einzelsentenzen der großen Sammlung des sogenannten Liber pancrisis nützlich sein (Annex, S. 503–557).

Auch in den anderen Teilen der Arbeit gelingt es Giraud, neue Themen und unbekannte oder bislang ungenau erfasste Nuancen bekannter Phänomene zu fokussieren. Die Untersuchung der Person Anselms und der historischen Realität der ‚Schule in Laon‘ bietet nicht nur eine präzise Diskussion der tatsächlich bekannten Schüler und der Beschreibungen der Stadt, sondern rückt auch den stadtgeschichtlichen Kontext in neuer Weise in den Vordergrund. In äußerst geschickter Interpretation analysiert Giraud durchgehend den ‚guten Ruf‘ des Meisters Anselm von Laon: Wie er deutlich macht, ist Anselms fama als eigenständiges Konstrukt zu sehen, das lokal von Vertrauten, Schülern und Feinden und (in abweichender Akzentuierung) überregional aus Eigeninteressen und gemäß den Eigenlogiken der zeitgenössischen Diskussion produziert und weitergetragen wurde. Die Formen magistraler Autorität, die man Anselm zuschrieb, reichten dabei von einer hohen Bedeutung als moralischem Vorbild (exemplum) über Anklänge des Prophetentums zu einem Status als orthodoxer Gelehrter und Hüter eines theologischen Lehramts (magisterium) – letzteres ein Thema, das Giraud wiederholt und in vielen Facetten anspricht.

Auch mit der These Flints setzt sich Giraud produktiv auseinander, wiewohl er die deutsche Rezeption Anselms von Laon in seinem Rahmen nicht ausführlicher thematisieren kann. Eine Schule ‚von Laon‘ – also eine Überlieferung von Sentenzen aus eher schulisch als klösterlich geprägten Milieus und aus Frankreich neben den bekannten Überlieferungskontexten deutscher Klöster – hat es, wie er aufweist, aber durchaus gegeben. Nicht zuletzt spielte in ihr neben institutioneller Kontinuität durch die Schüler Anselms wiederum die fama des Meisters als eines orthodoxen, aber gelehrten Hüters des Erbes der Väter eine Rolle. Interessanter erscheint jedoch sein Befund, dass einige anselmianisch geprägte Sentenzensammlungen deutlich in schulische Kontexte gehören, andere aber in monastische. Nicht zuletzt verdankt sich der Liber pancrisis Initiativen aus Clairvaux (S. 193–210).

In diesem Punkt leistet Giraud, das sei abschließend deutlich gesagt, letztlich über die Darstellung Anselms von Laon hinausweisende forschungsgeschichtliche Grundlagenarbeit: Einige unserer Grundannahmen über die intellectual history des Hochmittelalters sind deutlich veraltet – nicht zuletzt die Gegenüberstellung von Scholastik und Monastik. Sie wurde schon länger hinterfragt und erweist sich an der Rezeption Anselms von Laon in verschiedensten Milieus ohne erkennbare Unterschiede wiederum großenteils als Konstrukt – zumindest für die Zeit vor circa 1150.2 Eine Auseinandersetzung mit den großen Linien der älteren Forschung ist von Giraud auch deutlich intendiert. Er lässt sein Buch etwa schon suggestiv mit einer Dekonstruktion des immer wieder an Peter Abaelard und Bernhard von Clairvaux durchexerzierten Zusammenstoßes von Schule und Kloster beginnen.

Einige Leser werden möglicherweise wünschen, dass Giraud noch etwas deutlicher auf Probleme älterer Ansätze und mögliche neue Perspektiven hingewiesen hätte. Tatsächlich gelingt es ihm auch nicht immer, sich von älteren Vorannahmen über vorhandene institutionelle und kulturelle Milieus zu lösen – was freilich kaum wundert, denn Alternativen zu den überkommenen Annahmen gibt es (noch) kaum. Hinweise auf interessante neue Themen jenseits etablierter Meistererzählungen vom Aufstieg der Wissenschaft gibt Giraud aber durchaus. Nicht nur bliebe der deutsche Umgang mit der Frühscholastik weiter zu erforschen. Die genauen Analysen der Autorität Anselms und seines magisterium lassen auch die Bedeutung von Gelehrten im Kontext religiöser Macht und Machtpolitik klar hervortreten. Die Bandbreite des zeitgenössischen Umgangs mit Autorität und Prestige von Gelehrten dürfte für weitere Forschungen tatsächlich weitaus interessanter sein als der sehr ausgetretene Pfad eines Widerstreits von Scholastik und Monastik.

Solche Forschungen können, was Anselm von Laon betrifft, nun auf einem äußerst soliden Fundament aufbauen. Auch wenn von Anselm kaum direkte Worte überliefert sein mögen, lässt Giraud in seiner genauso gründlichen wie nuancierten Studie insgesamt die Quellen sehr eloquent sprechen.

Anmerkungen:
1 Valerie J. Flint, The ‚School of Laon‘: A Reconsideration, in: Dies., Ideas in the Medieval West. Texts and their Contexts, London 1988 (urspr. 1976). Vgl. schon Heinrich Weisweiler, Das Schrifttum der Schule Anselms von Laon und Wilhelms von Champeaux in deutschen Bibliotheken, Münster 1936; Peter Classen, Zur Geschichte der Frühscholastik in Österreich und Bayern, in: Josef Fleckenstein / Carl J. Classen / Johannes Fried (Hrsg.), Peter Classen. Ausgewählte Aufsätze, Sigmaringen 1983 (urspr. 1959), S. 279–306.
2 Vgl. zuletzt z.B. Constant J. Mews, Scholastic Theology in a Monastic Milieu: The Case of Admont, in: Alison I. Beach (Hrsg.), Manuscripts and Monastic Culture. Reform and Renewal in Twelfth-Century Germany, Turnhout 2007, S. 217–239.