B. Schmidt-Czaia u.a. (Hrsg.): Das Historische Archiv der Stadt Köln

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Titel
Gedächtnisort. Das Historische Archiv der Stadt Köln


Herausgeber
Schmidt-Czaia, Bettina; Soénius, Ulrich S.
Erschienen
Köln 2010: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
197 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Schlemmer, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland

Am 3. März 2009 fand mit dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs eines der größten und bedeutendsten Kommunalarchive nördlich der Alpen ein abruptes (vorläufiges) Ende. Die daraus resultierenden Konsequenzen für Archivwesen und Geschichtswissenschaft sind Gegenstand des von der Leitenden Archivdirektorin des Historischen Archivs der Stadt Köln, Bettina Schmidt-Czaia, gemeinsam mit dem Direktor und Vorstand der Stiftung Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln, Ulrich S. Soénius, herausgegebenen Sammelbands. Zu Wort kommen ausgewiesene Kenner der Materie aus Archiven und Forschungseinrichtungen. Insgesamt 12 Beiträgerinnen und Beiträger konnten für das Projekt gewonnen werden.

Der Sammelband, im übrigen nicht die erste fachlich fundierte Reflexion der Geschehnisse 1, gliedert sich in zwei Hauptteile: Die ersten sechs Beiträge sind dem "Gedächtnisort Archiv" gewidmet, während die übrigen sechs Beiträge "Das Kölner Stadtarchiv und die Geschichtswissenschaft" thematisieren. Dementsprechend wurde, wie die Herausgeber eingangs betonen (S. 8), der erste Teil von Archivaren verfasst, während für den zweiten Teil Historiker verantwortlich zeichnen. Bewusst haben sich die beiden Herausgeber für eine Abfassung der Beiträge im Essay-Stil entschieden, da neben der fachlichen auch die emotionale Seite der Katastrophe beleuchtet werden soll.

Bereits die Einleitung von Bettina Schmidt-Czaia und Ulrich S. Soénius macht die Tragweite des Unglücks transparent: „Noch nie war seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Westeuropa Kulturgut in einer solchen Quantität und von einer solchen Qualität von der Vernichtung bedroht“, gilt das Kölner Stadtarchiv doch als Archiv von internationaler Bedeutung (S. 7).

In ihrem Beitrag „Das Historische Archiv der Stadt Köln. Geschichte – Bestände – Konzeption Bürgerarchiv“ schreitet Schmidt-Czaia kurz die Schadensbilanz ab, um sich dann ausführlicher dem Status quo ante zuzuwenden. Sie bietet einen Überblick über die Geschichte von Archiv und Beständen und markiert den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit, die Entwicklung des Historischen Archivs weg von der selbst forschenden Einrichtung hin zum modernen Dienstleistungsinstitut, zum „Bürgerarchiv“, das auf Vernetzung, Transparenz und Außendarstellung großen Wert legt.

Ulrich Fischer (Köln) bietet in seinem Beitrag „Einsturz – Bergung – Perspektiven. Ansichten und Einsichten“ (S. 39-65) einen vertiefenden Einblick in das immense Ausmaß der Schäden, aber auch der Aktivitäten zur Rettung des unterschiedlich stark beschädigten, zum Teil sogar unbeschädigten Archivgutes. Allein die nackten Zahlen sind mitunter Schwindel erregend: Bereits in den ersten Monaten nach dem Archiveinsturz konnten circa 12.000 Bergungseinheiten identifiziert und bearbeitet werden. Die Bedeutung einer auf längere Zeiträume ausgerichteten Unterstützung wird angesichts einer weiteren Zahl offenkundig: Den Berechnungen eines Unternehmensberaters zufolge hätten 200 Restauratoren mehr als 30 Jahre lang durchgehend zu arbeiten, um die Schäden am Kölner Archivgut zu beheben. Neben der Einrichtung provisorischer Archiv- bzw. Magazinräumlichkeiten sowie dem Archivneubau kommt hinsichtlich der Reorganisation des Historischen Archivs vor allem zwei Aspekten grundlegende Bedeutung zu: dem Erhalt der geborgenen Unterlagen (Restaurierung / Konservierung) sowie der Gewährleistung einer elektronischen Zugänglichkeit von Archivalien mittels Retrokonversion von (analogen) Findmitteln und Digitalisierung der auf Mikrofilm vorliegenden Sicherungsverfilmung.

Souverän umschreibt Johannes Kistenich (Münster) in seinem Beitrag „Bestandserhaltungsmanagement ,nach Köln’“ (S. 66-83) die Herausforderungen eines modernen Bestandserhaltungsmanagements, das die Aufgabe habe, „in einem integrativen Konzept alle Bereiche archivischer Bestandserhaltung in den Blick zu nehmen, zueinander in Beziehung zu setzen und die operative Umsetzung zu planen und zu steuern“ (S. 72). Bestandserhaltung habe grundsätzlich der Benutzung zu dienen. Kistenich leitet aus seinen allgemeinen Überlegungen Konsequenzen für den Wiederaufbau ab. So könne das Historische Archiv das Potential der Rationalisierung von Arbeitsprozessen im Bereich der Bestandserhaltung zur Gänze ausschöpfen.

Der Themenkomplex „Digitalisierung“ ist Schwerpunkt des Beitrages „Digitalisierung – Zukunft des Archivs?“ (S. 84-95) von Andreas Berger (Köln). Die mittlerweile verwirklichte Einrichtung eines „digitalen Lesesaales“ am Heumarkt2 ermöglicht dem Benutzer wieder eine Arbeit mit Beständen des Historischen Archivs – wenngleich unter großen Einschränkungen. Immerhin wurden gut 6.000 Sicherungsfilme mit über 10.000.000 Einzelaufnahmen durch einen externen Dienstleister digitalisiert und mit Metadaten ausgestattet. Berger nennt als Chance und Ziel die Entwicklung des Stadtarchivs hin zu einer dialogischen Institution, die eine Kommunikation zwischen Nutzern und Archiv ermöglicht. Die vielfältigen Optionen des „Web 2.0“ werden hier nur angedeutet, doch dürfte die künftige Entwicklung des Archivwesens genau in diese Richtung weisen. Einen ersten Schritt haben die Initiatoren des Internet-Portals „Das digitale Historische Archiv Köln“3 gesetzt.

Ulrich S. Soénius wies bereits kurz nach dem Kölner Unglück darauf hin, dass – bei aller Bedeutung des Stadtarchivs – die Geschichte der Stadt nicht nur auf Grundlage der Bestände des Stadtarchivs erforscht werden könne, sondern zahlreiche andere Archive hierbei einen Beitrag zu leisten imstande seien. Diese breit gefächerte Kölner Archivlandschaft stellt Soénius in seinem Beitrag „Köln – Stadt der Archive“ (S. 96-116) vor.

Der ehemalige Vorsitzende des Verbandes deutscher Archivarinnen und Archivare (VDA) und Präsident des Landesarchivs Baden-Württemberg, Robert Kretzschmar, skizziert in seinem Beitrag „Der Einsturz. Längerfristige Folgen und Perspektiven für die deutschen Archive“ (S. 117-127) mögliche Konsequenzen und Aussichten für das deutsche Archivwesen. Zunächst habe der Archivsturz das öffentliche Interesse auf das Archivwesen in seiner Gesamtheit gelenkt. Gleichzeitig warnt Kretzschmar vor einem Abflauen dieses Interesses (S. 119). Umso wichtiger ist in den Augen Kretzschmars die Schärfung des archivarischen Berufsbildes. Wie bereits in Schmidt-Czaias Beitrag werden die Aufgaben der Archive wesentlich weiter gefasst, als der Kanon der „klassischen“ Kernaufgaben – Sichern, Erhalten, Erschließen und Bereitstellen von Archivalien – vermuten ließe. Als Stichworte nennt Kretzschmar insbesondere die Funktion als „Speichergedächtnis“ und „Funktionsgedächtnis“ sowie als Ort der Identitätsstiftung und -pflege (S. 124). Neben dem Hinweis auf die Optimierung der Notfallvorsorge verdient der Fingerzeig auf mögliche rechtliche Aspekte der Katastrophe – namentlich der Haftungsklagen verschiedener Depositare – Beachtung.

Jost Dülffer (Köln) zeigt in seinem Beitrag „Der Einsturz: Folgen und Zukunftserwartungen“ (S. 128-131) auf, wie groß die Bandbreite der wissenschaftlichen Disziplinen ist, die sich in Forschung und Lehre der Bestände des Historischen Archivs bedien(t)en.

Werner Eck (Köln) legt in seinem Beitrag „,Die Geschichte der Stadt Köln’ in dreizehn Bänden“ (S. 132-150) dar, dass dieses Projekt trotz des gravierenden Einschnitts, den der Einsturz auch in dieser Hinsicht bedeutete, in seinem Voranschreiten nicht gefährdet ist. Je weiter man sich von der Gegenwart entferne, desto unproblematischer sei die Quellenlage, desto weniger sei man auf die (originalen, unveröffentlichten) Unterlagen des Historischen Archivs zwingend angewiesen.

Der Bonner Ordinarius für Rheinische Landesgeschichte Manfred Groten schildert in seinem Beitrag „Forschungen zur rheinischen Geschichte“ (S. 151-158) die Folgen der Kölner Katastrophe für die Erforschung der rheinischen Landes- und Regionalgeschichte. Er konstatiert für die Zeit vor dem Archiveinsturz ein geringes Interesse seitens der Forschung an den Kölner Archivbeständen. Als Ursachen hierfür macht er unter anderem den „schleichende[n] Schrumpfungsprozess der Landesgeschichte an den deutschen Universitäten“ (S. 152) sowie den „schlechte[n] Erschließungszustand“ (S. 154) einzelner Bestände, namentlich der Schreinsbücher, aus.

Die konkreten Auswirkungen der Kölner Katastrophe auf ein laufendes hilfswissenschaftliches Hauptseminar veranschaulicht Marita Blattmann (Köln) in ihrem Beitrag „Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte“ (S. 159-169). Sie stellt für das Mittelalter den intrinsischen Wert der archivalischen Originale heraus, die nur unter erheblichem Informationsverlust durch Mikrofilm oder Digitalisate zu ersetzen seien.

Das Historische Archiv der Stadt Köln zeichnet(e) sich durch verschiedene Alleinstellungsmerkmale aus. Zwei Beispiele der Frühen Neuzeit stellt Gerd Schwerhoff (Dresden) in seinem Beitrag „Frühneuzeitforschung“ (S. 170-180) vor: die etwa 2.500 Seiten umfassenden Gedenkbücher des Hermann von Weinsberg, ein einmaliges Ego-Dokument eines Kölner Bürgers aus dem 16. Jahrhundert, sowie die Vielzahl von „seriellen Quellen“ – etwa die sich über nahezu 400 Jahre erstreckenden Ratsprotokolle –, die ein „Charakteristikum der Frühen Neuzeit“ (S. 173) seien. Bezüglich der Bedeutung des Kölner Stadtarchivs kommt Schwerhoff zu dem Schluss: „Als Laboratorium für die internationale Frühneuzeitforschung ist es ein unersetzbarer Ort“ (S. 180).

Den Band beschließt der Beitrag „Kölngeschichte – Stadtgeschichte – Zeitgeschichte“ (S. 181-197) des Kölner Neuzeithistorikers Ralph Jessen. Dieser markiert vier Forschungsfelder für die künftige Kölner Zeitgeschichte: Migrationsgeschichte, De-Industrialisierungsgeschichte, Erfindung und Inszenierung Kölner Lokalidentität sowie den Themenkomplex „Zivilgesellschaft und lokale Öffentlichkeit“. Dass Geschichte nicht „fertig“, gleichsam als zum Konsum bereitliegendes Produkt, im „Gedächtnisort“ Archiv vorgefunden werden kann, wie sich das immer mehr Zeitgenossen vorzustellen oder zumindest zu wünschen scheinen, darauf verweist Jessen mit Recht (S. 181f.). Da die Bestände des 19. und 20. Jahrhundert nur zu geringen Teilen verfilmt wurden, sei die zeitgeschichtliche Forschung von der Kölner Katastrophe besonders hart getroffen. Kompensiert werde der Informationsverlust jedoch in gewissem Maße durch Parallelüberlieferungen in anderen Archiven, Berichten in Zeitungen und Zeitschriften, die technisch immer unproblematischer gewordene Reproduktion und Vermehrung von Information, besonders im 20. Jahrhundert, sowie die Möglichkeit zur Befragung von Zeitzeugen („oral history“). Ob es wirklich eine „kollektive Identität“ aller in Köln Lebenden gibt, und ob sich eine solche im Falle ihrer Existenz tatsächlich aus der Geschichte der Stadt speist (S. 181), müsste allerdings erst noch untersucht werden.

Ein Anhang mit weiterführenden Hinweisen fehlt ebenso wie ein kompaktes Autor/innenverzeichnis mit Kontaktdaten, was vermutlich nicht zuletzt dem Zeitdruck geschuldet sein dürfte, unter welchem der Sammelband konzipiert und verwirklicht werden musste.

Die Schilderung einzelner Studierenden- und Forscherschicksale in vielen der Beiträge mag der ein oder die andere geflissentlich überblättern, doch gerade diese Beispiele verleihen den Folgen der Katastrophe für die aktuelle und künftige Nutzung bzw. Auswertung eine ganz konkrete Anschaulichkeit. Gelegentliche Redundanzen und Unstimmigkeiten im Vergleich einzelner Beiträge (so etwa die Angaben zur Digitalisierung von Findmitteln) können bei einem solchen Projekt – das letztlich ja nichts anderes als eine Momentaufnahme sein kann und will – nicht ausbleiben. Auch dürften sich schon bald einige der (insbesondere quantitativen) Angaben zum Schadensausmaß oder zum Procedere der Reorganisation anders darstellen. Dennoch bleibt festzuhalten: Wer sich künftig mit der „Kölner Katastrophe“ befasst, sollte einen Blick in dieses Buch werfen.

Abschließend bleibt zu hoffen, dass die ehrgeizigen Ziele aller in der Sache Verantwortlichen verwirklicht werden können und die Politik den wohlfeilen Worten großzügige und vor allem nachhaltige Taten folgen lässt.4 Zur Erinnerung: Im ehemaligen Hauptstaatsarchiv Düsseldorf arbeitet man noch heute an der Restaurierung der „Kahnakten“, die im Zweiten Weltkrieg Wasserschäden davongetragen haben. Der Wiederaufbau des Historischen Archivs der Stadt Köln ist, fürwahr, eine „Jahrhundertaufgabe“5.

Anmerkungen:
1 Mit der "Kölner Katastrophe" beschäftigten sich zuvor u.a. eine Expertenanhörung, deren Ergebnisse bereits publiziert vorliegen, sowie der Deutsche Archivtag in Regensburg, der am 24. September 2009 eine "Kölner Erklärung" verabschiedete: Wilfried Reininghaus / Andreas Pilger (Hrsg.), Lehren aus Köln. Dokumentation zur Expertenanhörung "Der Kölner Archiveinsturz und die Konsequenzen" (Veröffentlichungen des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen 25), Düsseldorf 2009; Kölner Erklärung, in: Archivar 62 (2009), S. 453. Über aktuelle Entwicklungen rund um das Kölner Stadtarchiv und die verschiedenen Auswirkungen des Ereignisses berichteten auch die archivische Fachzeitschrift „Der Archivar“ in den seit der Katastrophe erschienenen Heften sowie Bd. 56 der lokalhistorischen Zeitschrift „Geschichte in Köln“.
2 Vgl. <http://www.stadt-koeln.de/mediaasset/content/pdf44/digitaler_lesesaal_flyer.pdf> (05.08.2010).
3 Vgl. <http://www.historischesarchivkoeln.de> (05.08.2010).
4 In diese Wunde hat bereits das Feuilleton seinen Finger gelegt. Angesichts der Eröffnung des „Archivs für Künstlernachlässe“ in Brauweiler durch Ministerpräsident Jürgen Rüttgers schreibt Andreas Rossmann am 20. April 2010 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (S. 34): „Lauter große, goldene Sätze, die sehr viel glaubwürdiger wären, wenn das Land so viel Engagement auch in Sachen Kölner Stadtarchiv walten lassen und dessen Stiftung, die immer noch nicht zustande gekommen ist, nicht länger blockieren würde“.
5 Robert Kretzschmar, Auf dem Weg in das 21. Jahrhundert: Archivische Bewertung, Records Management, Aktenkunde und Archivwissenschaft, in: Archivar 63 (2010), S. 144-150, hier S. 148.

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