Cover
Titel
Briefsteller. Das Medium "Brief" im 17. und frühen 18. Jahrhundert


Autor(en)
Furger, Carmen
Erschienen
Köln 2010: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
233 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heiko Droste, Institute for Gender, Culture and History, Södertörn's University College Stockholm

Carmen Furger untersucht in ihrer Baseler Dissertation die Gattung der Briefsteller für den Zeitraum von ca. 1650 bis 1750. Diese Eingrenzung ergibt sich durch das Ende des Dreißigjährigen Krieges, auf den ein starkes Anwachsen der Briefsteller folgte, sowie die in der Mitte des 18. Jahrhunderts erfolgte Neudefinition des Briefs durch die Arbeiten von Christian Fürchtegott Gellert. Die Periodisierung ist überzeugend und deckt sich mit Ergebnissen früherer Studien. Der solchermaßen entstandene Zeitraum von ungefähr 100 Jahren sah einen gewaltigen Aufschwung der Briefkultur und in der Folge davon einen ebensolchen der dazu veröffentlichten Anleitungsbücher – der Briefsteller. Letztere erschienen nicht nur in großer Zahl, so dass Furger notwendig nur eine Auswahl analysieren kann; die einzelnen Ausgaben wurden auch immer wieder neu aufgelegt. Furger untersucht somit die Anfänge der frühneuzeitlichen Briefkultur, die mit der Briefkultur der Romantik – die nach der Neudefinition durch Gellert anzusetzen ist – ihren Höhepunkt im so genannten klassischen Briefzeitalter erreichte.

Furgers Anspruch ist dabei einerseits, diese Briefsteller als Gattung mitsamt ihren brieftheoretischen Grundlagen vorzustellen. Andererseits soll die soziale Praxis der Briefkultur in ihren höfischen wie bürgerlichen Kontexten auf der Grundlage der Briefsteller erarbeitet werden. Die Analyse normativer Anleitungen mit Blick auf die soziale Praxis ist nicht unproblematisch, wie Furger selbst feststellt. Sie geht allerdings mit überzeugenden Gründen davon aus, dass die Briefsteller sich als ein Marktprodukt den konkreten Bedürfnissen einer sich ändernden Klientel anpassten. Briefsteller können damit als Beleg realer Briefschreibepraktiken interpretiert werden.

In den einzelnen Kapiteln des Hauptteils untersucht Furger die kulturelle Praxis des Briefschreibens, den engen Zusammenhang von Briefrhetorik und Zeremoniell – als Ausdruck ständischer Ordnungen –, die Brieftheorie mit ihren Folgen für die Briefgestaltung sowie abschließend die Frage der in Briefen ausgedrückten Gefühle und damit ihrer Emotionalität. Hierbei arbeitet Furger mit zahlreichen Beispielen aus den Briefstellern dieser Zeit, die ausführlich referiert werden. Der Leser gewinnt dadurch einen guten Eindruck von den konkreten Anweisungen, die der zeitgenössische Nutzer bei der Gestaltung seiner Briefe erhielt. Strukturiert wird dieses Referat durch vier Entwicklungsstränge, auf die Furger wiederholt zurückkommt.

1) Der Übergang von einer vorwiegend vom Kanzleistil und damit den Bedürfnissen der öffentlichen Verwaltung geprägten zu einer höfischen bzw. galanten Briefkultur: Dieser Übergang markierte einerseits die Herausarbeitung der modernen Idee vom Brief als einer persönlichen/intimen Mitteilung. Bis weit in das 17. Jahrhundert hinein bezeichnete der „Brief“ auch offizielle Dokumente, Urkunden, Verträge und andere Formen papiergebundener Kommunikation. Andererseits öffnete sich das Medium Brief weiten Schichten der Bevölkerung, wobei Furger deutlich auf die parallele Etablierung der öffentlichen Post als einer wichtigen Voraussetzung für diese Entwicklung hinweist.

2) Der allmähliche Übergang von einer stark formalisierten und zeremoniell geprägten Briefsprache, die selbst von den Zeitgenossen zunehmend als steif und unpersönlich empfunden wurde, hin zu einem freieren, „natürlichen“ Schreibstil, der persönliches Engagement anzeigte: Furger setzt den Begriff des Natürlichen stets in Anführungszeichen, denn selbstverständlich ist auch diese Natürlichkeit ein Ergebnis rhetorischer Gestaltung. Gleichwohl gewann der Schreibstil an Lebendigkeit und Vielfältigkeit des Ausdrucks. Gellerts Briefsteller aus der Mitte des 18. Jahrhunderts forderten diese Natürlichkeit dezidiert ein, wobei Gellert seine Anleitungen mit einer deutlichen Kritik an früheren Briefstellern verband. Diese Polemik Gellerts kann freilich nicht darüber hinweg täuschen, dass wesentliche Teile seiner Briefrhetorik bereits von anderen Autoren entwickelt worden waren – freilich mit einer auf wenige Briefgattungen beschränkten Gültigkeit.

3) Insgesamt verschob sich der Fokus der Briefsteller von den öffentlichen Korrespondenzen immer mehr zu den privaten Briefen. Letztere können gerade durch den Verzicht auf elaborierte Anrede- und Grußformeln wie andere formalisierte Elemente charakterisiert werden. Das galt vor allem für Liebesbriefe und für Briefe zwischen nahen Freunden, die in älteren Briefstellern oft stiefmütterlich behandelt wurden, weil ihnen nicht derselbe Gestaltungsbedarf zugemessen wurde.

4) Parallel zu dieser Entwicklung und zugleich als eines ihrer wichtigsten Ergebnisse öffneten sich die Briefsteller für ein bürgerliches Publikum und damit insbesondere auch für Frauen. Letztere standen am Ende des Untersuchungszeitraums explizit für einen freieren, „natürlichen“ Briefstil und damit für die Kunst einer emotionalen Sprache. Furger kommt wiederholt auf die tragende Rolle der Frauen für diese Entwicklung zu sprechen, da Frauen eine höhere Emotionalität wie auch die rhetorischen Fähigkeiten der angemessenen Darstellung dieser Gefühle zuerkannt wurden. In dem abschließenden Kapitel zur Emotionalität in der Frühen Neuzeit weist Furger nachdrücklich auf die um 1650 noch sehr beschränkten Formen emotionalen Ausdrucks in den Briefen hin, die im 18. Jahrhundert stark weiter entwickelt wurden.

Insgesamt stellt Furger damit ein in sich schlüssiges, wenn auch wenig kontroverses Bild der frühneuzeitlichen Briefkultur vor. Ältere Studien haben ähnliche Schwerpunkte gesetzt. Es ist sicher verdienstvoll, dass Furger gerade das Jahrhundert vor dem klassischen Briefzeitalter in seiner Bedeutung noch einmal herausstellt. Weniger überzeugend ist freilich, dass ihre Arbeit wie die ihrer Vorgänger von einer deutlichen Fortschrittsperspektive geprägt ist. Danach war erst die Briefkultur der Romantik in der Lage, persönliche Gefühle adäquat auszudrücken und damit die formalisierte Barockrhetorik zu überwinden. Vor dem Hintergrund der von Gellert geschaffenen neuen Ausdrucksweisen muss die höfische Briefsprache der von Furger untersuchten Briefsteller defizitär erscheinen. Dabei wird oft übersehen, dass auch die von Gellert geforderte „Natürlichkeit“ Ergebnis rhetorischer Gestaltung war. Die „freiere“ Gestaltung und der „natürliche“ Ausdruck, die von Furger als Fortschritt verstanden werden, werden nicht überzeugend mit der übergeordneten theoretischen Perspektive verknüpft.

Furger stützt sich wesentlich auf das Konzept des Zivilisationsprozesses nach Norbert Elias. Danach sind die Briefsteller als eine Art Benimmbücher zu lesen, in denen die Gefühle der Zeitgenossen in zunehmendem Maße normiert wurden, was der verstärkten Selbstkontrolle des Individuums diente. Das ist an sich überzeugend. Bei Elias geht dieser Prozess auf die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols zurück. Das habe eine gesellschaftliche Umorganisation zur Folge, die das Individuum dazu zwinge, seine gewalttätigen Triebe zu beherrschen, um in sozial befriedeten Räumen zu funktionieren.

Auf diesen gesellschaftlichen Prozess geht Furger freilich nur am Rande ein. Ihr Augenmerk gilt dem Privatbrief, der in den Briefstellern immer stärker in den Vordergrund rückte. Im Gegenzug seien die Bedürfnisse der Kanzlei zurückgetreten, auf Kosten der höfischen Gesellschaft, deren Briefideal schließlich von bürgerlichen Kreisen übernommen wurde. Kanzlei und Hof waren freilich auch um 1750 eng aneinander geknüpft. Der Übergang von den öffentlichen Briefen zur privaten Korrespondenz wird dadurch überbewertet, denn selbstverständlich ist der „private“ Brief eines Mitglieds der sozialen Eliten – und nur an diese wenden sich Briefsteller – stets durch seine öffentliche Rolle bestimmt. Hierauf macht Furger auch aufmerksam, wobei sie auf das komplizierte Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit verweist.

Im Übrigen verschwand der Bedarf der Kanzleien nicht. Vielmehr wurde er nicht länger in gleicher Weise durch Briefsteller befriedigt. Gellerts Brieftheorie behandelte eben nur einen Teil der zeitgenössischen Briefformen. Er konnte die Rezeption der vermeintlich überholten Briefsteller älteren Zuschnitts nicht beenden. Der Markt für Briefsteller wurde vielmehr unübersichtlicher, diversifizierter. Furger extrapoliert daher eine Entwicklung, die nur einen Teil einer wesentlich umfassenderen Briefkultur betrifft: den privaten Brief. In der Rückschau hat dieser das Verständnis der Gattung Brief nachhaltig beeinflusst. Der Bedarf an Briefen im Kanzleistil nahm freilich nicht ab, sondern stieg ebenso rasch wie der an privaten Briefen. Diese Briefe wurden jedoch nicht mehr in gleicher Weise durch die von Furger untersuchten Briefsteller normiert. Damit stößt ihre Untersuchung letztlich an eine Grenze, was die Aussagekraft für die soziale Praxis der Briefkultur betrifft.

Insgesamt jedoch bietet Furger eine überzeugende Darstellung der Entwicklung des Privatbriefs, der sich auf der Grundlage des Kanzleibriefs und mit Hilfe immer weiter verfeinerter rhetorischer Anleitungen im untersuchten Zeitraum entfaltete. Er war insbesondere seit den Arbeiten Gellerts in der Lage, eine größere Vielfalt sozial akzeptierter Emotionen zu transportieren und damit einer Kultur der Natürlichkeit und Innerlichkeit eines ihrer zentralen Medien zu geben. Das klassische Briefzeitalter ist ohne diese Entwicklung nicht vorstellbar.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch