Titel
Historische Generationen. Über einen sozialen Mechanismus kulturellen Wandels und kollektiver Kreativität


Autor(en)
Fietze, Beate
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 28,80
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Astrid Baerwolf, Graduiertenkolleg Generationengeschichte, Universität Göttingen

Gegen Ende der 1980er-Jahre erlebte „Generation“ als wissenschaftlicher Begriff und Zuschreibungsmodus die dritte Konjunktur seit Karl Mannheims bis heute grundlegender Abhandlung zum „Problem der Generationen“ in den 1920er-Jahren. Seither werden sozialstrukturelle und kulturelle Veränderungen, insbesondere der demographische Wandel und die politischen Umbruchprozesse um 1989 verstärkt aus der generationellen Erfahrungsperspektive diskutiert. Der Generationsbegriff – so Beate Fietze in ihrem Buch „Historische Generationen“ – ist „die zentrale Kategorie, wenn es darum geht, die Verbindung individueller und gesellschaftlicher Zeitverläufe darzustellen. Insbesondere die Verschränkung von biographischem Zeiterleben und dem Voranschreiten der Geschichte ist im Generationsparadigma begrifflich unverwechselbar aufgehoben. […] Nicht zuletzt dokumentiert sich in der Konjunktur des Generationsbegriffs selbst die Erfahrung beschleunigten Wandels“ (S. 14).

Jedoch, so begründet Fietze ihre Studie, habe die Begeisterung für das Generationsthema weder zu einer verbindlichen Generationstheorie noch zu einer Integration in allgemeine Theorien des sozialen Wandels geführt. Vielmehr konstatiert sie die (vor allem kultur-)theoretische Stagnation des Begriffs in der Generationssoziologie, die sie nicht nur terminologischen, sondern vor allem konzeptionellen Unsicherheiten zuschreibt. Ihre Studie will daher die Generationstheorie Mannheims weiterentwickeln und verdeutlichen, wie historische Generationen aus kulturellem Wandel heraus entstehen und diesen zugleich widerspiegeln. Ihr besonderes Anliegen ist es, die „vergessene“ kulturwissenschaftliche Dimension des „Zeitgeistes“, auf die sämtliche Kategorien in Mannheims Generationstheorie ausgerichtet seien, zu heben und für kulturtheoretische Fragestellungen konzeptionell weiterzuentwickeln.

Zunächst beginnt Fietze mit einer wissenschaftsgeschichtlichen Rekapitulation der Generationsforschung: vom genealogischen Prinzip, über lineare Zeitvorstellungen und der Erkenntnis der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, das heißt des Nebeneinanders mehrerer Generationen statt einer linearen Abfolge, bis hin zu den drei ursprünglichen Generationsbegriffen: Abstammung, Zeitgenossenschaft und Lebensalter im Sinne eines quantitativen Zeitmaßes der Lebensdauer eines Menschen. Sie zeigt dabei, dass sich Mannheims Theorie historischer Generationen von früheren Theorien insbesondere dahingehend unterscheidet, dass er Generationen als kulturelle Phänomene begreift, deren Zustandekommen maßgeblich von gesellschaftlichen Entwicklungen abhängt. In diesem Zusammenhang legt sie überzeugend dar, dass – nach der Verdrängung des Generationenkonzepts im Nationalsozialismus – das Kohortenkonzept von Norman Ryder als moderne Interpretation von Mannheim (miss)verstanden wurde. Weil aber Ryder sein Konzept gerade von der qualitativen Dimension, die Generation von Kohorte unterscheidet, also auch vom Zeitgeist „befreit“ habe, sei die theoretische Weiterentwicklung des Generationenkonzeptes als Instrument für die qualitative Analyse generationellen, mithin kulturellen Wandels zum Stillstand gekommen. Diese Weiterentwicklung strebt nun Fietzes Studie an, indem sie Mannheims Generationstheorie detailliert nachgeht und terminologische Unschärfen ins Visier nimmt.

In einem Exkurs zu seiner Wissenssoziologie führt sie Mannheims „begriffliche Entdifferenzierung“ (S. 98) – wie beispielsweise seinen eher emphatischen als konzeptionell genauen Begriff vom „generationsstiftenden Ereignis“ (vgl. S. 82) – auf seine Verankerung in der lebensphilosophischen Kulturtheorie zurück und plädiert für eine generationstheoretische und kultursoziologische Ausarbeitung.
So diskutiert Fietze zunächst ausführlich die Kernbegriffe von Mannheims Generationstheorie: „Generationslagerung“, „Generationszusammenhang“, „Generationseinheit“ – immer mit Blick auf den „Zeitgeist“. Dabei bezeichnet sie den Generationszusammenhang als Schlüsselbegriff des Konzepts. „Von uns aus gesehen ist der Zeitgeist die kontinuierlich-dynamische Verkettung der aufeinander folgenden ‚Generationszusammenhänge‘.“ (S. 85, nach Mannheim 1964) Die „Generationseinheiten“ seien dabei die „Interpreten des Zeitgeistes“. Indem Fietze den Zeitgeist im Lichte des Generationenkonzepts betrachtet, fragt sie vor allem nach Generationen als den Akteuren sozialen Wandels und nimmt aus kultursoziologischer Perspektive Mannheims Argumentationszirkel auseinander: „In Mannheims Generationskonzept ist es unmöglich, eine klare begriffliche Trennung zwischen der Ebene der sozialen Strukturen, der Ebene des Zeitgeistes und der sozialen Akteure zu ziehen“ (S. 88).

Das unscharfe Konzept des Zeitgeistes ersetzt Fietze durch Habermas’ Konzept der Öffentlichkeit, wonach vermittelt durch Massenmedien generationenspezifische Sprecher um die Anerkennung ihrer Situationsdeutungen streiten. Diese generationsspezifischen Akteure konzipiert sie als politische Eliten und schafft damit eine Cross-Cutting-Kategorie, in der sich altersspezifische Situationsdeutungen und gesellschaftliche Akteurspositionen begegnen. Sodann plädiert sie dafür, das Generationenkonzept mit dem theoretischen Ansatz des analytischen Dualismus (Archer) zu verbinden, wonach kultureller Wandel beziehungsweise Stabilität an der Schnittstelle zwischen kulturellem System und soziokultureller Interaktion entsteht. Dadurch beginne ein „morphogenetischer Zyklus“, der die beiden Ebenen als zeitlich getrennt konzeptionalisiert. Damit versucht Fietze den Brückenschlag zwischen der Konstitution historischer Generationen, die ihrer Ansicht nach ein besonderer Mechanismus nicht intendierten kulturellen Wandels sind, und dem Zeitgeist, in dessen kultureller Sphäre laut Mannheim die Genese historischer Generationen situiert ist.

Für die Verbindung zwischen Biographie und Geschichte im Prozess der Generationsbildung diskutiert Fietze in einem weiteren Kapitel verschiedene Konzepte zur Identitätsentwicklung, unter anderem zur Adoleszenztheorie und Lebensverlaufsforschung, und verweist insbesondere auf narrative Identitätskonstruktionen in der Biographieforschung als nützliches Analyseinstrument in generationellen Untersuchungen. In Abgrenzung zur Kohorteneinteilung nach Geburtsjahrgängen wird in biographischen Narrationen nach Fietze für die Konstitution von historischen Generationen eines besonders deutlich: „Der biographische Zeitpunkt, zu dem altersverwandte Individuen sich über die Konstitution eines Generationszusammenhangs zu einer historischen Generation zusammenschließen, ist hingegen historisch kontingent“ (S. 128). Sind die Dauer einer Generation und die Lebensdauer ihrer Mitglieder identisch, müssen Lebensdauer und Wirkungsdauer von Generationen jedoch unterschieden werden. Hier wiederum kommt der generationelle Blick auf den biographischen Zeithorizont und die Wirkungsdauer einer Generation zusammen – denn gerade nicht das Geburtsjahr der späteren Generationsmitglieder definiere den Ursprung historischer Generationen, sondern Emergenzphänomene im Medium öffentlicher Deutungs- und Kommunikationsprozesse, die von den sogenannten „Umschwüngen des Zeitgeistes“ (S. 180) ausgehen.

Abschließend exemplifiziert Fietze ihre Theorie der historischen Generationen an zwei Fallstudien: den amerikanischen Progressivisten, einer „Generationselite“ (S. 210), die sich zwischen 1880 und 1920 zur Zeit der Industriellen Revolution bildete, und der weltweiten Studentenbewegung von 1968, die aus der Überschneidung nationalgesellschaftlicher und weltpolitischer Dynamiken als erste globale Generation hervorgegangen sei.

Insgesamt bietet die Studie eine sorgfältige Aufarbeitung und begriffliche Differenzierung von Mannheims Generationentheorie, in der sein Pioniertext trotz der diskutierten terminologischen und konzeptionellen Unschärfen recht positiv evaluiert und konsequent weitergedacht wird. Nicht alle Konzepte sind dabei überzeugend. So leuchtet nicht recht ein, warum der analytische Dualismus nach Archer einen Ausweg aus der „kulturtheoretischen Sackgasse“ (S. 141) bieten sollte. Es erscheint anachronistisch, Kultur, die performativ, prozesshaft und vor allem handlungsgebunden ist, in dem Bemühen, soziale Interaktion und „das Kultursystem“ analytisch zu trennen, als etwas Statisches festzuschreiben. Einigermaßen erstaunlich angesichts ihres Vorhabens ist Fietzes begriffliche Unschärfe in Titel und Thema der Studie, wo sie von „historischen Generationen“ und „sozialem Wandel“ spricht, doch eigentlich politische Generationen und politischen Wandel thematisiert, was sowohl an den gewählten Beispielen der Progressivisten und der 68er deutlich wird als auch an Fietzes Konzeption der generationsspezifischen Akteure als politische Eliten. Dennoch ist Fietzes textnahe Interpretation von Mannheims Theorie und ihr spezifisches Modell, seinen Generationsentwurf für die Erforschung politischer Generationen im öffentlichen Raum zu rehabilitieren und in die Gegenwart zu transformieren, ein wichtiger Beitrag für die Generationsforschung, nicht nur in der Soziologie.1

Anmerkung:
1 Die Rezension wird auch in der Zeitschrift „Kulturen“ in Ausgabe 4 (2010), 2 erscheinen.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/