Ch. Frateantonio: Religion und Städtekonkurrenz

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Titel
Religion und Städtekonkurrenz. Zum politischen und kulturellen Kontext von Pausanias’ Periegese


Autor(en)
Frateantonio, Christa
Reihe
Millennium-Studien 23
Erschienen
Berlin u.a. 2009: de Gruyter
Anzahl Seiten
VIII, 295 S.
Preis
€ 99,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Horst, Institut für Geschichtswissenschaft, Universität Bremen

Christa Frateantonio vertritt in ihrem Buch „Religion und Städtekonkurrenz“ die These, dass es sich bei der Periegese des Pausanias um ein „kaschiertes Lob“ und um den „Tadel von Städten“ im Medium der Religion gehandelt habe (S. 1f.). Damit wird die Periegese dem Genre der Städtelobreden zugeordnet, das von der älteren philologischen Forschung, wie auch die Periegese selbst, noch verächtlich als Buntschriftstellerei rubriziert und als unergiebiger Gegenstand der Wissenschaft verworfen wurde (S. 7ff.). Derzeit erlebt die Erforschung dieser Textgattungen hingegen eine Konjunktur. Es sind insbesondere die verschiedenen Ansätze der modernen Kulturwissenschaft, die nach möglichen sozialen und politischen Funktionen dieser Texte fragen.1

Auch Christa Frateantonio verschränkt in ihrer Untersuchung hermeneutische und theoriegeleitete Analyseformen. Dabei hebt sich ihr Buch erfreulicherweise von jenen Arbeiten ab, denen als Präludium ein obligatorisches Theoriekapitel vorangestellt wird, die aber im weiteren Verlauf die dort entfaltete Problematik nicht wieder aufnehmen. Frateantonio integriert in ihre Untersuchung sehr heterogene Theorieelemente: So findet die Systemtheorie ebenso Berücksichtigung wie Ansätze aus der Kunstgeschichte, der Kognitionstheorie, der Feldtheorie Bourdieus und des Dokumentarfilms. Als angemessen erscheint dies insofern, als die disparaten Ansätze nicht auf das Gesamtkonzept angewendet, sondern immer dort eingesetzt werden, wo sie weiterführende Erkenntnisse versprechen.

Wo frühere Autoren die Periegese als ein lückenhaftes und kompilatorisches Werk betrachteten, erkennt Frateantonio eine Strategie, deren Ziel eine von Pausanias intendierte „Verrätselung“ des Textes gewesen sei. Sowohl das fehlende Proömium, das normalerweise die Intentionen des Autors verrät, als auch das abrupte Ende der Periegese wurden in der Forschung auf eine unvollständige Überlieferung zurückgeführt (S. 33ff.). Frateantonio geht hingegen davon aus, dass die Lücken gezielte Auslassungen seien und die in einer Stadt zu besichtigenden Monumente nicht einer zufälligen Auswahl, sondern einer bewussten Selektion folgten. Pausanias sei es auf diese Weise gelungen, einen allusiven und verrätselten Text zu verfassen, der nur von einer gebildeten Zuhörerschaft entschlüsselt werden konnte. Dies verlieh ihm nicht nur die Autorität, Rätsel aufzugeben, sondern gab ihm auch die Gelegenheit, sich als Erklärer von Rätseln zu exponieren. Dass Pausanias als Exeget mit anderen über Paideia verfügenden Personen um Macht und Einfluss rang, ist eine Interpretation, die sich den in den Forschungen zur Zweiten Sophistik gewonnenen Ergebnissen anschließt. Bisherige in diesem Kontext angesiedelte Arbeiten haben insbesondere die Haltung des Pausanias gegenüber der römischen Herrschaft in den Blick genommen. Diese wurde sehr widersprüchlich gedeutet, als Sympathie gegenüber den römischen Befreiern und Beschützern einerseits und als Ausdruck versteckten Ressentiments und tiefer Animositäten gegenüber der Fremdherrschaft andererseits (S. 5). Im Gegensatz dazu folgt Frateantonio einer griechischen Binnenperspektive: Sie vertritt die These, dass die widersprüchlichen Eigenschaften, die den Griechen in der Periegese beigemessen werden, für die Konkurrenz zwischen den griechischen Städten genutzt worden seien (S. 37ff.). Ganz gezielt seien einige Städte gelobt worden, während andere durch die Unterstellung negativer Eigenschaften offen diskreditiert wurden. Zentrale Attribute, die im Rahmen dieser Wertsetzungsstrategien zum Einsatz kamen, waren Friedfertigkeit und Aggressivität.

Frateantonio hat für die einzelnen Städte Kataloge zusammengestellt, in denen die Beschreibung der einzelnen Monumente und die ihnen von Pausanias jeweils unterlegte Semiotik einander gegenübergestellt werden. Wie konkrete menschliche Eigenschaften mit der Beschreibung der Monumente verknüpft werden, wird ausführlich am Beispiel der Argiver (S. 211–217) und der Spartaner (S. 247–257) gezeigt. Am Beispiel von Argos werde erkennbar, dass nur jene Mythen und Monumente Erwähnung finden, die geeignet sind, das den Argivern unterstellte Eroberungsstreben sowie ihre Gewalttätigkeiten zu stützen (S. 205ff.). Dasselbe gelte für die Darstellung Spartas. Mit dem stark in den Vordergrund gerückten Bild der Geißelung der Epheben auf dem Kultplatz der Artemis sei es Pausanias gelungen, die Aggressivität und die Gewaltbereitschaft der Spartaner zu betonen, während die Mehrzahl tendenziell lobenswürdiger Taten (so etwa der Trojanische Krieg oder die Perser- und Makedonenkriege) sowie die politischen Institutionen und prominenten Personen überblendet oder diffamiert wurden (S. 245–258).

Die Fokussierung auf eine innergriechische Perspektive wird jedoch problematisch, wenn der politische Kontext der Periegese erklärt werden soll und die Frage nach dem Bezugsrahmen der Städtekonkurrenz gestellt wird. Die Vermutung, dass das Panhellenion und Athen als dessen Zentrum und Sitz den Bezug der Städtekonkurrenz bildete, führt auf einen recht interessanten Pfad, den Frateantonio mit dem berechtigten Hinweis auf die mit dem Städtebund verbundenen Forschungsprobleme leider recht bald wieder verlässt. Hier wird meines Erachtens Erkenntnispotential verschenkt, da es unabhängig von den offenen Fragen zum Panhellenion berechtigte Gründe für die Annahme gibt, dass diese Institution die Städtekonkurrenz möglicherweise regulierte. Dies wird jedoch nur erkennbar, wenn man den Rangstreit der Städte nicht als ein innergriechisches Phänomen begreift.

Interessant ist, dass in den Städtelobreden Rom eine Vorrangstellung gegenüber der Stadt Athen eingeräumt wird, die Frateantonio auch in der Periegese nachweisen kann (S. 115ff.). Die entscheidende Frage, wer das den Bestand der Herrschaft garantierende Palladion besitzt, könne weder zugunsten von Athen noch von Argos entschieden werden, da es allein den Römern zugesprochen wird. Frateantonio beobachtet darüber hinaus, dass aus der antithetischen Gegenüberstellung von Makedonen („roh, expansiv und ineffizient“) und Römern („rational und effizient“) letztere als bessere Fremdherrschaft und Befreier Griechenlands hervorgehen (S. 117). Diese Vorrangstellung Roms wird auch durch einen Vergleich mit anderen Städtelobreden, der Romrede und dem Panathenaikos des Aelius Aristides bestätigt, die von Frateantonio leider nicht herangezogen werden. In diesen Reden wird Rom aufgrund ihrer Herrschaftsform, die Freiheit und Sicherheit garantiert, von allen bisherigen Weltreichen und auch von Griechenland positiv abgehoben.2 Der gegenwärtige Status der Stadt Athen, der sich in der Kaiserzeit der Tatsache verdankt, dass sie als Ursprung und Lieferant der im gesamten Römischen Reich verbreiteten Paideia galt, wird von Aelius Aristides sogar höher als ihre vergangene Größe bewertet.3 Die Tatsache, dass Rom als Garant des allgemeinen Friedens gepriesen wurde, ist meines Erachtens ein Indiz dafür, dass die Interessen der Städte, die ebenfalls die Friedfertigkeit als zentralen Wert ihrer Konkurrenz wählten, auf Rom fokussiert waren.

Aufgrund der starken Ausrichtung der Städtelobreden auf Rom wäre denkbar, dass das Panhellenion ein Zentrum der Städtekonkurrenz bildete, in dem die Beziehungen zwischen Rom und Griechenland intensiviert werden sollten. Ein Indiz dafür sind die Bewerbungsformulare derjenigen Städte, die sich um einen Zugang zum Panhellenion bemühten und ihren Stolz und ihr Prestige mit beiden Aspekten, ihrer griechischen Abstammung und der aktuellen Freundschaft mit den Römern, begründeten.4 Dass in der Periegese „Griechenland als Einheit gegen andere, ‚äußere‘ Ethnien abgesetzt“ und diesen „Ethnien klar unterscheidbare und verschiedene, jeweils in sich kohärente Rollen zugeordnet“ würden (S. 121 u. 266), mag vor dem Hintergrund der allgemeinen Forschung zur Zweiten Sophistik in Frage gestellt werden.

Dass es vielmehr ein Interaktionsgeflecht zwischen Römern und Griechen gab, wird in einem Appendix zu Korinth, der eine klare Trennung zweier „Ethnien“ überwindet, schließlich sehr überzeugend nachgewiesen (S. 277–282). Dort ist zu beobachten, dass wichtiger als die griechischen Traditionen Korinths die im Medium der Religion hergestellten Verbindungen zwischen griechischen und römischen Kulturleistungen waren. Der an Grausamkeiten und Freveltaten erinnernde Medea-Mythos wurde von den Römern aufgehoben, so dass unter ihrer Herrschaft die Stadt als etwas „positives Neues“ erscheinen konnte.

Frateantonio hat mit ihrer systematischen Auswertung der Quellen eine überzeugende Interpretation der Periegese vorgelegt. Hervorzuheben ist, dass die theoriegeleitete Argumentation aufgrund der klaren und verständlichen Sprache, die sich keinem Jargon verpflichtet, immer nachvollziehbar bleibt. Wie die Periegese im Kontext der Zweiten Sophistik und innerhalb der Interaktion von Römern und Griechen zu verorten ist, bleibt eine von Frateantonio durchaus bewusst offen gelassene Frage, zu deren Diskussion das Buch den Auftakt bildet.

Anmerkungen:
1 Zu erwähnen sind hier vor allem die neuen Ergebnisse aus der Städteforschung der Mediävistik: Carla Meyer, Die Stadt als Thema. Nürnbergs Entdeckung in Texten um 1500, Ostfildern 2009; dies., Wie und warum wird städtische Identität zum Thema? Nürnberg im Städtelob um 1500, in: Christoph Dartmann / Carla Meyer (Hrsg.), Identität und Krise?, Münster 2007, S. 119–136.
2 Zur Romrede vgl. die Abschnitte 36, 38, 51, 60, 90, 96, 97, 101. Sogar im Panathenaikos wird Rom als ein Repräsentant der besten Herrschaftsform hervorgehoben: 299D.
3 Ael. Aristid. Panathen. 294D–298D.
4 Besonders eindrücklich zeigt dies eine Inschrift zu der karischen Stadt Kibyra, die nach der Aufnahme in das Panhellenion zu den ruhmreichsten Städten gehörte. Als Grund wird ihre griechische Abstammung angeführt und die Tatsache, dass „sie vom vergöttlichten Hadrian mit großen Ehren gefördert worden ist“ (OGIS 497 = IGRR I 418 = IG XIV 829). Ähnlichen Argumentationsmustern folgte auch die Stadt Smyrna (Tac. ann. 4,56,1). Vgl. dazu Thomas Schmitz, Bildung und Macht, München 1997.

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