W. Hargens: Der Müll, die Stadt und der Tod

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Titel
Der Müll, die Stadt und der Tod. Rainer Werner Fassbinder und ein Stück deutscher Zeitgeschichte


Autor(en)
Hargens, Wanja
Reihe
Reihe ZeitgeschichteN 5
Erschienen
Berlin 2010: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
277 S.
Preis
€ 19,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nike Thurn, SFB 600: Fremdheit und Armut, Universität Trier

„In Deutschland mißverständlich über Juden zu schreiben – das heißt schlecht schreiben“, befand der Rezensent der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ 1976 im Rahmen der ersten von schließlich insgesamt fünf „Fassbinder-Kontroversen“ (1976, 1984, 1985/86, 1998 und 2009) über das Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“.1 Dass Rainer Werner Fassbinder in seinem „Skandalstück“ missverständlich über einen Juden schrieb, steht angesichts dieser Debattengeschichte wohl außer Frage. Umso mehr erstaunt die geringe Zahl wissenschaftlicher Monographien, die sich mit dem Stück und den daran entbrannten bzw. offenbarten gesellschaftlichen Konflikten über Antisemitismus nach 1945 beschäftigen. Nun hat Wanja Hargens eine neue Arbeit dazu vorgelegt.

Das Buch widmet sich in drei Blöcken der „Textgestalt“ (S. 11-40), der „Entstehungs-“ (S. 41-73) und schließlich der „Wirkungsgeschichte“ (S. 74-152) des kontroversen Theatertextes. In einem umfangreichen Anhang (S. 156-212) findet sich erstmals eine „Übersicht der (geplanten) Aufführungen“ sowie eine „Kommentierte Übersicht der Ausgaben und Fassungen“ des Stückes in der Bundesrepublik Deutschland (S. 208-211) und dem Ausland (S. 211f.).

An dem dreigliedrigen Aufbau (Text – Entstehung – Wirkung) wird bereits deutlich, dass Hargens sich für die 155 Seiten der Darstellung viel vorgenommen hat und mithin Prioritäten setzen muss. So bleibt die Textexegese (S. 12-34) bisweilen skizzenhaft. Gute Ansätze wie der Versuch, dem in früheren Analysen vielfach vernachlässigten Titel des Stückes näher auf den Grund zu gehen, versanden so im knappen Anreißen von Interpretationsmöglichkeiten. Auch die im Hinblick auf den Antisemitismus-Vorwurf ausschlaggebende Feststellung, dass die im Stück vorkommende Familie Müller – die Marx und Lenin lesende Frau Müller, der Alt-Nazi und Transvestit Müller sowie deren Tochter, die Prostituierte Roma B. – „gänzlich jede Vorstellung einer musterhaften ‚arischen‘ Familie pervertiert“ (S. 20), wird lediglich genannt, in ihrer Bedeutung für den Gesamttext aber nicht weiterverfolgt.

Doch auch wenn Hargens’ Schwerpunkt ein anderer ist, widmet er sich dem Text stellenweise intensiver, als es viele Kritiker vor ihm getan haben. So widerspricht er präzis dem – textintern leicht widerlegbaren – Gerücht der „Potenz“ des „Reichen Juden“ (S. 38), an welcher der Antisemitismus-Vorwurf vielfach festgemacht wurde, und verdeutlicht in einer der stärksten Passagen der Untersuchung, wie hier „mit Vorurteilen gearbeitet wird“ (S. 38f.). Diese werden also nicht perpetuiert, wie vielfach andernorts behauptet. Dass Fassbinder mit Erwartungshaltungen spielt, um sie schließlich „ins Groteske“ kippen zu lassen (S. 39) und so zu entlarven („denn Franz B. hasst nicht Juden, sondern Tennisspieler“, ebd.), ist selten zuvor so deutlich herausgearbeitet worden. Ähnlich verfährt Hargens mit weiteren verbreiteten Kritikpunkten an dem Stück, etwa wenn er bei der Tötung von Roma B. durch den „Reichen Juden“ das Anklingen „antisemitische[r] Bilder des Juden als Christusmörder“ (S. 39) zwar bestätigt, anschließend jedoch nachdrücklich die Differenzen aufzeigt.

Er vertritt dabei die These, es sei Fassbinders „Methode“, mit dem „Reichen Juden“ – nach Hargens „die positivste Figur unter all den anderen Negativgestalten“ (S. 40) – „eine Strategie des literarischen Philosemitismus zu verfolgen und zugleich an zahlreiche negative Stereotype des Jüdischen anzuknüpfen“ (S. 154). Hier führt er den – „bewusst heuristisch verwendet[en]“ – Begriff des „literarischen Philosemitismus“ ein (S. 23), der in Teilen mit dem seit einigen Jahren diskutierten „literarischen Antisemitismus“2 gleichzusetzen sei.

Für die „Entstehungsgeschichte“ des Stückes (S. 41-73) hat Hargens sich vorgenommen, ein differenzierteres Bild zu zeichnen als „die bisher ausführlichste Darstellung dieses Zeitraums, die sich unkritisch auf Kurt Raab stützt, der sich 1977 mit Fassbinder überworfen hatte“ (S. 41). Gemeint ist Janusz Bodeks 1991 veröffentlichte Dissertation3, eine der wenigen Monographien zu Fassbinders Stück. Detailliert und hervorragend recherchiert bietet die Studie in diesem Kapitel ein Korrektiv der bisherigen „sehr subjektive[n] Wahrheiten“ (so Raab selbst, zit. auf S. 41).

In einem besonders eindrucksvollen Teilkapitel etwa räumt Hargens mit dem Entstehungsmythos des Stückes auf: Daniel Schmid (Regisseur der Verfilmung „Schatten der Engel“) gab stets an, dies sei geschrieben worden „wie in Trance, auf einem Flug nach den Vereinigten Staaten, ohne den Flughafen zu verlassen, um weiterzuschreiben, dann hopp ins erste Flugzeug, das abhob (nach Dakar), fortgesetzt auf dem Flug dorthin und zu Ende gebracht in Senegal, ohne je geschlafen zu haben“ (zit. auf S. 52). Andere beschränkten diese Legende auf die Strecke Frankfurt – New York. Hargens entlarvt diese Reduktion der Entstehungszeit auf eine Flugdauer als bewussten Affront Fassbinders gegen das zuvor monatelang von Ensemble-Mitgliedern erarbeitete Frankfurt-Stück, das Fassbinder als „jämmerlich“ bezeichnete, und weist nach, dass dieser selbst mindestens drei Monate am Gegenentwurf gearbeitet hatte.

Das umfangreichste Kapitel zur „Wirkungsgeschichte“ schließlich beschäftigt sich mit den Kontroversen und ihren zeitgeschichtlichen Charakteristika (S. 74-153). Die Vorzüge gegenüber Bodeks Darstellung liegen hier zum einen in der Ergänzung um die neueren Debatten: Erstmals untersucht Hargens zusammenhängend die Aufführungsversuche von 1998 (Maxim Gorki Theater, Berlin) sowie 2009 (Theater an der Ruhr, Mülheim). Zum anderen finden sich wiederum überzeugende Korrekturen, etwa in Bezug auf die – nach Bodek nicht existenten – „jüdischen Stimmen in der Kontroverse I“ (S. 89), die Hargens im Gegenteil als deutlich vernehmbar aufzeigt. Hervorzuheben ist darüber hinaus die komprimierte und dadurch überaus klare Darstellung der (weitgehend als politischer Grabenkampf zu beschreibenden) Debatte 1976 (S. 86ff.) sowie die wichtige Feststellung, dass bereits hier vielfach „zwischen der Textaussage und der Autorenmeinung nicht unterschieden wurde“ (S. 88).

Auch die zum Teil unglückliche Rolle des Suhrkamp-Verlages nimmt Hargens in den Blick (S. 79f., S. 85). Durch die unabgesprochene Kürzung einer Fassbinderschen Stellungnahme zum Antisemitismus-Vorwurf gingen einige zentrale Aspekte in der darauf folgenden Rezeption unter. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der Befund, dass Fassbinder (daraufhin? Hargens lässt es offen, legt es durch die Nebeneinanderstellung jedoch nahe) „aus der hauseigenen Geschichtsschreibung des Verlags getilgt“ wurde (S. 90). Auch in diesem Fall entlässt er Fassbinder jedoch nicht aus der Verantwortung, sondern überprüft dessen Selbst-Verteidigung, das Stück sei in einem unfertigen Zustand gedruckt worden, anhand detaillierter Rekonstruktionen von Vertragsunterzeichnungen, Überarbeitungsabsprachen und Korrekturen (S. 91ff.), die Fassbinders Schuldzuweisungen an den Verlag entkräften und ihn im Gegenteil als „Opfer seiner eigenen Arbeitsweise“ zeigen (S. 93).

Unter anderem anhand konkreter Verkaufszahlen belegt Hargens, dass über das Stück zwar „viel geschrieben [wurde] – gekauft und gelesen wurde es kaum“ (S. 107). Weite Teile der Diskussionen um das Stück hätten durch simple Textkenntnis entkräftet werden bzw. gar nicht erst aufkommen können. Das Stück sei in diesen Debatten stets „mehr Anlass als Gegenstand“ gewesen (S. 96). Am „Ersatzobjekt“ sei wiederholt etwas anderes verhandelt worden: das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Vergangenheit, ihren Ressentiments und deren nachkriegstypischer Repression.

Hargens’ Band bietet durch seine Aktualität, die Qualität der Recherche und Darstellung der Debatten einen wichtigen Beitrag zur (historischen wie literaturwissenschaftlichen) Forschung über diesen kontroversen Theatertext. „Rainer Werner Fassbinder und ein Stück deutscher Zeitgeschichte“ lautet der sinnige, bewusst doppeldeutige Untertitel der Studie, die beiden Bedeutungsebenen gerecht wird.

Anmerkungen:
1 Wilfried Wiegand, Gefährliche Klischees, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.04.1976; zit. nach Heiner Lichtenstein (Hrsg.), Die Fassbinder-Kontroverse oder Das Ende der Schonzeit, Königstein im Taunus 1986, S. 46-49, hier S. 48.
2 Vgl. v.a. Klaus-Michael Bogdal / Klaus Holz / Matthias N. Lorenz (Hrsg.), Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz, Stuttgart 2007.
3 Janusz Bodek, Die Fassbinder-Kontroversen: Entstehung und Wirkung eines literarischen Textes. Zu Kontinuität und Wandel einiger Erscheinungsformen des Alltagsantisemitismus in Deutschland nach 1945, seinen künstlerischen Weihen und seiner öffentlichen Inszenierung, Frankfurt am Main 1991.

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