S. Frank: Der Mauer um die Wette gedenken

Cover
Titel
Der Mauer um die Wette gedenken. Die Formation einer Heritage-Industrie am Berliner Checkpoint Charlie


Autor(en)
Frank, Sybille
Erschienen
Frankfurt am Main 2009: Campus Verlag
Anzahl Seiten
367 S.
Preis
€ 32,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
René Seyfarth, Sozialwissenschaftliche Stadtforschung, Bauhaus-Universität Weimar

Wenn im deutschsprachigen Kontext das Wort „heritage“ auftaucht, so geschieht dies in vielen Fällen in gedanklicher Nachbarschaft zum (Welt-)Kulturerbe und zur Denkmalpflege. Die Eigendynamik, die der Begriff in der anglophonen Forschungswelt in den vergangenen Jahrzehnten angenommen hat, wurde bislang nur begrenzt zur Kenntnis genommen. In der deutschen Debatte dominiert nach wie vor der Erinnerungsbegriff das semantische Feld. Um eine Einführung des Heritage-Konzepts in die deutsche Forschung und vor allem in die Soziologie bemüht sich dagegen Sybille Frank in ihrer Dissertationsschrift, die unter dem Titel „Der Mauer um die Wette gedenken“ erschienen ist. Darin wird einerseits die von Großbritannien ausgehende Entwicklung der Forschungsdebatte verweisreich nachgezeichnet als auch andererseits durch die Untersuchung des umstrittenen Orts „Checkpoint Charlie“ in Berlin ein anschauliches empirisches Beispiel für die Leistungsfähigkeit dieses Ansatzes erbracht.

Insbesondere für jene, die sich mit dem Begriff bislang wenig beschäftigt haben, dürfte Franks Arbeit eine Bereicherung darstellen, denn eine derart bündige und übersichtlich gegliederte Zusammenfassung der Forschungsdebatte dürfte selbst in englischer Sprache schwer zu finden sein. Die übersichtliche Gliederung des theoretischen Teils, die durch Fazits nochmals das Verständnis erleichtert, ermöglicht auch die Verwendung zum Nachschlagen und der Lektüre einzelner Abschnitte ohne Einstiegsschwierigkeiten. Dies hat leider auch den Nebeneffekt, dass beim bündigen Lesen unvermeidlich Redundanzen auftreten. Indem Frank jedoch darüber hinaus zahlreiche Anknüpfungspunkte zu deutschsprachigen Wissenskategorien und Forschungsschulen herstellt, leistet sie auf diesem Gebiet tatsächlich überfällige Pionierarbeit.

Die britische Heritage-Diskussion beginnt in den 1970er-Jahren, als eine in marxistischer Tradition stehende Kritik einen qualitativen Wandel in der Repräsentation aristokratischer Geschichte als neue Form des Klassenkampfes ausmacht und Heritage zunächst als weiteres Herrschaftsinstrument in der kulturellen Arena brandmarkt. Stein des Anstoßes war die betont unpolitische Darstellung der Vergangenheit durch eine damals neuartige Fokussierung auf das Alltags- und Privatleben, eine Vermarktung derselben in publikumswirksamen Ausflugszielen als Public-Private-Partnerships bei gleichzeitiger Ausblendung von negativen Aspekten der Geschichte und einem – so die Kritiker/innen weiter – Verzicht auf eine pädagogische Aufarbeitung wie auch der Gegenwartsrelevanz historischer Problemkonstellationen.

Die Gegenkritik hingegen befürwortete alsbald diese qualitative Veränderung als einen Katalysator für sozialen Wandel und verwies auf die positiven Effekte, welche durch eine Popularisierung von Geschichte und der damit verbundenen Auffächerung des Themenspektrums erzielt würden, nicht zuletzt oft in breitenwirksamem zivilgesellschaftlichen Engagement. David Lowenthal vermittelte schließlich mit seiner Unterscheidung von Heritage als im Interesse der Gegenwart manipulierter Vergangenheit und History als wissenschaftlichem Bemühen um eine allgemeine Übereinkunft um die wahre Vergangenheit erfolgreich zwischen diesen konträren Interpretationen der Vergangenheitsbetrachtung und -aneignung. Einigkeit bestand darüber hinaus auch bezüglich des Hintergrunds des verzeichneten „Heritage-Booms“: Einerseits wurde die Deindustrialisierung als Ursache der Suche nach Halt und Sicherheit in der Vergangenheit verantwortlich gemacht und andererseits herausgearbeitet, dass gegenwärtige Bedürfnisse die Selektion der historischen Stoffe, welche zur Konstruktion von Identitäten herangezogen werden, maßgeblich beeinflussen.

In Folge wurde Heritage nicht mehr als spezifisch britisches Problem verstanden, sondern als ein untersuchenswertes globales Feld soziokultureller Praxen erschlossen. Die bereits in den Anfängen angelegte Verquickung mit der Tourismusforschung gewann zunehmend an Gewicht. Ebenso differenzierte sich die Erforschung interdisziplinär aus. Durch Impulse aus Geographie, Ethnologie und den erstarkenden Kulturwissenschaften gewann das Spektrum der Diskussion an Breite wie auch an Profil. Insbesondere die Neubestimmung des bislang kanonisch-essentialistischen und statischen Kulturbegriffs hin zu einem dynamischen, von Widersprüchlichkeiten, Heterogenität und Hybriden gekennzeichneten Kulturverständnis stellte sich als überaus fruchtbar für das weitere Nachdenken über Heritage heraus. Durch die Neubestimmung als schon immer da gewesene populäre Erinnerungspraxis und nicht nur als eine zeitgenössische Ausprägung löste sich das Untersuchungsfeld endgültig von einer perspektivischen Beschränkung auf ein spätmodernes Phänomen innerhalb der westlichen Welt. Gleichzeitig warf der plurale Kulturbegriff neue Probleme auf, die besonders prominent durch Gregory J. Ashworth und John E. Tunbridge als „Heritage-Dissonanz“ analysiert wurden. Das Konzept der Heritage-Dissonanz besagt, stark verkürzt dargestellt, dass die Koexistenz dissonanter Heritages prinzipiell möglich sei, dass jedoch im Zuge der ökonomischen Verwertung, beispielsweise in Form der touristischen Vermarktung, Ausschlüsse produziert werden können, die zu weitreichenden Konflikten führen könnten.

Dieses – verkürzt skizzierte – Modell stellt den Anknüpfungspunkt zu Franks empirischer Arbeit am Berliner Checkpoint Charlie dar. Über eine umfangreiche Analyse des langwierigen Streits um den „richtigen“ Umgang mit diesem geschichtsträchtigen und problematischen Ort arbeitet sie die Beziehungen der Praktiken der Erinnerung, der Vorstellungen von Authentizität und der Repräsentation von Geschichte mit Prozessen der Kommodifizierung, Kommerzialisierung und touristischen Praxen heraus. Diese Zusammenhänge wurden in der bisherigen öffentlichen als auch wissenschaftlichen Auseinandersetzung wenig oder gar nicht beachtet, wohingegen der Heritage-Ansatz auf genau diese Wechselbeziehungen abzielt. Die raumbezogene Diskursanalyse, die Frank am Beispiel des Checkpoint Charlie durchführt, gelingt ihr nicht zuletzt dadurch, dass sie die im theoretischen Teil identifizierten Bedeutungsbereiche (die ökonomische, soziale, politische und wissenschaftliche Dimension) und Bedeutungsskalen (persönlich, lokal, national, global) im Heritage-Begriff auf einen gemeinsamen Nenner bringt. Hilfreich ist hierbei weiterhin die überzeugende Differenzierung zwischen Heritage und Heritage-Industrie anhand der lange Zeit privatwirtschaftlich dominierten Erinnerung am Untersuchungsort als auch die theoretische Weiterentwicklung des Heritage-Konzepts anhand der pointierten Darstellung der Spezifika des Fallbeispiels.

Trotz des teils erschöpfend anmutenden Quellenkorpus bleiben einige Fragen offen. So stellt sich vor allem bei der Schilderung des Berliner Konflikts zunehmend die Frage, welche Denkfiguren und kulturellen Grundannahmen hinter den Argumentationen der Befürworter/innen wie auch der Kritiker/innen der verschiedenen Formen des Gedenkens stehen. Die viel beschworenen Gefahren der Verschleierung „der wahren Geschichte“ bleiben somit ebenso im Dunkeln wie die Ziele, die mit der geforderten Bildung und Aufklärung erreicht werden sollen. Weiterhin wäre es sicher wünschenswert gewesen, wenn nicht nur Journalist/innen und „Expert/innen“ zu Wort gekommen wären, sondern auch die oft nur genannten, aber im Rahmen dieser Arbeit nicht eingebundenen Besucher des Ortes, die Berliner/innen ebenso wie die Tourist/innen. Dies ist jedoch weniger als Kritik an der bereits ohnehin umfangreichen und um Genauigkeit bemühten Arbeit von Sybille Frank zu verstehen, sondern eher als ein Desiderat für zukünftige Forschung mit dem vielversprechenden und erwiesenermaßen praktikablen wie forschungsrelevanten Heritage-Konzept.

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