M. Bürgi: Harry Gmür – Bürger, Kommunist, Journalist

Cover
Titel
Harry Gmür – Bürger, Kommunist, Journalist. Biographie, Reportagen, politische Kommentare


Herausgeber
Bürgi, Markus; König, Mario
Erschienen
Zürich 2009: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 23,00
Rezensiert für Clio-online und H-Soz-Kult von:
Damir Skenderovic, Departement für Historische Wissenschaften – Zeitgeschichte, Universität Fribourg

Die von Markus Bürgi und Mario König verfasste Biografie zu Harry Gmür (1908-1979) zeigt geradezu exemplarisch die engen Grenzen des Handlungs- und Wirkungsspielraums, mit denen ein Linksintellektueller während der Zwischen- und Nachkriegszeit in der Schweiz konfrontiert war, und wie sich dies auf sein persönliches Schicksal auswirkte. Das Buch reiht sich auch ein in die zunehmenden Bemühungen der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft, Intellektuellenforschung als Schnittpunkt von Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte zu betreiben und so an französische Traditionen anzuknüpfen, wo seit nunmehr drei Jahrzehnten Studien zu den clercs einen festen Platz in der Geschichtsforschung einnehmen. Auch in der Schweiz hat sich die historische Intellektuellenforschung seit den 1990er-Jahren intensiviert.1 Während der Schwerpunkt zunächst auf Intellektuellen von rechts in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert lag,2 richtet sich der Blick in den letzten Jahren zusehends auf Publizisten und Schriftsteller, die sozialkritisch, meist aus einer nonkonformistischen Haltung heraus und oft von links in öffentliche und politische Debatten intervenierten.3

Das Buch von Bürgi und König ist aufgegliedert in einen biografischen Teil, der chronologisch der Lebensgeschichte von Harry Gmür folgt, und einen Teil mit Reportagen und Kommentaren, die Gmür zwischen 1937 und 1979 verfasst hat. 1908 in Bern geboren wuchs Gmür im großbürgerlichen Milieu auf, sein Vater war Rechtsanwalt und Professor an der Universität Bern und verkehrte in Kreisen des großindustriellen und politischen Establishment der Schweiz; seine Mutter kam aus einer begüterten Familie, die durch den Kolonialwarenhandel zu einer der reichsten des Landes aufgestiegen war. Dank dieser finanziellen Sicherheit musste sich Gmür zeitlebens wenig Sorgen um seine materielle Existenz machen und konnte mit einer gewissen Unbekümmertheit seinen journalistischen Betätigungen und publizistischen Projekten nachgehen.

Gmürs Lebensgeschichte lässt sich in zwei Phasen einteilen, die erste gekennzeichnet durch ein unermüdliches (partei)politisches und öffentliches Engagement, die zweite durch rege publizistische Tätigkeiten, die jedoch auch durch eine Art inneres Exil geprägt waren. Die erste Phase setzte um 1933 ein, als Gmür nach Abschluss des Studiums der Geschichte und Germanistik in Bern, Paris, München und Leipzig in die Schweiz zurückkehrte, als überzeugter Antifaschist und Antikapitalist der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SPS) beitrat und zusammen mit gewerkschaftlichen Kreisen wirtschaftspolitische Vorschläge für die Krisenzeit ausarbeitete. Schon bald entfremdete er sich jedoch von der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften, die nach der klaren Ablehnung der Kriseninitiative in der Volksabstimmung von 1935 und unter dem Eindruck der äußeren Bedrohungslage auf einen Weg der politischen Kompromisse einschwenkten, mit dem Ziel, sozialstaatliche Verbesserungen zu erreichen und sich parteipolitisch in die schweizerische Konsensdemokratie zu integrieren. Darauf reagierte Gmür zum einen, indem er Opposition gegen den offiziellen Parteikurs anmeldete und sich dissidenten Kreisen anschloss, worauf er 1942 aus der Partei ausgeschlossen wurde. Er näherte sich der 1940 verbotenen Kommunistischen Partei an, deren Nachfolgepartei, die Partei der Arbeit (PdA), er 1944 mitgründete. Zum anderen lancierte er die antifaschistische und kulturpolitische Wochenzeitung „ABC“, die zwar nur von 1937 bis 1938 erschien und in einem finanziellen Fiasko endete, aber als qualitativ hoch stehendes Sprachrohr der progressiven Intellektuellen der Schweiz von Bedeutung war.

Nach Kriegsende blieb Gmür der PdA noch eine Weile verbunden, als Chefredaktor des neuen Parteiorgans „Vorwärts“ (1945-46) und als Vertreter im Stadtzürcher Parlament (1946-50). Parteiinterne Konflikte und Anfeindungen, die sich in Osteuropa abzeichnenden totalitären Entwicklungen sowie das aufkommende antikommunistische Klima in der Schweiz zeitigten nachhaltige Wirkung auf ihn, und er reagierte auf „die deprimierenden Realitäten, indem er sich in die politische Passivität zurückzog“ (S. 98). Auch die Gründung des „Universum Verlags“, der deutsche Erstübersetzungen von prominenten Autoren wie Arthur Miller oder Erskine Caldwell herausgab, und des Filmverleihs „Neue Exotik Film“ blieben ephemere Episoden seines Schaffens. Ernüchtert durch das Scheitern seines politischen und kulturellen Engagements drohte Gmür der Absturz, auch im Alkohol, und während mehrerer Jahre ging er keinen beruflichen Tätigkeiten nach.

Doch Harry Gmür fing sich auf und startete Ende der 1950er-Jahre gewissermaßen eine zweite Karriere, aber diesmal nicht unter seinem bürgerlichen Namen. Er veröffentlichte Artikel, Reportagen und Bücher unter verschiedenen Pseudonymen und schrieb ab 1958 insbesondere in der DDR-Zeitschrift „Weltbühne“, dem Blatt mit der schillernden Vorgeschichte. Einen Teil der Beiträge publizierte er als Zweitverwertung auch in der Schweiz, so im „Vorwärts“ und in Gewerkschaftszeitungen. Vor allem aus Afrika berichtend, vermittelte er als Stefan Miller eindrückliche Stimmungsbilder und scharfsinnige Analysen der dortigen Dekolonisationsprozesse und porträtierte deren Protagonisten wie Nnamdi Azikiwe (Nigeria), Jomo Kenyatta (Kenia), Kwame Nkrumah (Ghana) und Julius Nyerere (Tansania). Da es im Interesse der damaligen DDR lag, ihre weltpolitische Isolation zumindest im Kreise der neu entstehenden afrikanischen Staaten zu durchbrechen, wurde Gmür mit seinen informativen Berichten, geschrieben in einem gut lesbaren, nüchternen, zuweilen leicht ironischen Stil, von den DDR-Zensurbehörden nur selten belangt. Im Gegenteil, seine Text fanden lobende Anerkennung bei den so genannten „Gutachtern“ des DDR-Regimes, die auch sein unerschütterliches Bekenntnis zum Sozialismus schätzten.

Dass Gmür nicht frei vom kolonialen Blick der damaligen Zeit war und so zuweilen ein Bild „naturwüchsiger Lebendigkeit“ und „Unberührtheit“ eines Kontinents kolportierte, dessen Bewohner trotz Ausbeutung und Armut unbekümmerte Lebensfreude und fröhliche Ausgelassenheit nicht verloren hätten, kann im zweiten Teil des Buches von Bürgi und König nachgelesen werden, wo neben Reportagen aus der „Weltbühne“ auch Passagen aus drei seiner Reisebücher abgedruckt sind. So schreibt Gmür von „entzückenden braunen Kinder[n]“ (S. 202), ist fasziniert vom „bei aller Armut ungemein farbenfrohe[n] Straßentreiben der Einheimischen“ (S. 208) und sieht im „fast kindlich, naturnahe[n] Afrika … eine unschätzbare Reserve an unverbrauchten, unverbildeten Kräften für die teilweise überzivilisierte Menschheit“ (S. 214). Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass für den in Zürich lebenden und von den europäischen Geschehnissen enttäuschten Gmür seine Reisen auch etwas von einer verzweifelten Suche nach kultureller Authentizität und Verwirklichung politischer Utopien hatten. Insbesondere wenn man seine ebenfalls abgedruckten Texte der 1930er-Jahre zu innen- und weltpolitischen Ereignissen als Vergleich nimmt, in denen er mit spitzer Feder unter anderem auf neutralitätspolitische Augenwischereien der Bundesbehörden hinwies, deren Ausmaße erst Jahrzehnte später durch die historische Aufarbeitung der finanziellen und wirtschaftlichen Verflechtungen der Schweiz während der NS-Zeit zu Tage kamen.

Ein Verdienst von Markus Bürgi und Mario König ist es, dass sie Akten der Schweizer Bundespolizei für ihre Studie breit berücksichtigt haben, wobei sich die Frage stellt, ob nicht auch in den Stasi-Unterlagen Informationen zu Gmür zu finden gewesen wären. Die Staatsschutzakten aus der Schweiz dienten den beiden Autoren als zusätzliche, wenn auch nur sehr bedingt verlässliche Informationsquelle, um Gmürs Lebensgeschichte zu rekonstruieren, aber auch um zu zeigen, wie sich in den 1930er-Jahren die Behörden in ihrem Misstrauen und Vorgehen gegen links auch des grassierenden Antisemitismus bedienten und wie dann im Kalten Krieg der Antikommunismus Formen eines helvetischen McCarthyismus annahm. Zudem, und dies ist bisher in der Forschung noch wenig untersucht worden, weisen die beiden Autoren auch auf die „indirekte“ Wirkung der behördlichen Observationen hin, auf die Wahrnehmung und kognitive Disposition der Betroffenen, von denen es in der Schweiz Hunderttausende gab. Denn wie es im Falle von Gmür war, habe, so Bürgi und König, seine „unüberbrückbare Distanz zum schweizerischen Staatswesen … durch die Überwachung stets neue Bestärkung erfahren“ (S. 140).

Den beiden Autoren ist es gelungen, durch das Prisma eines einzelnen Akteurs, dessen Schicksal nicht zuletzt von seinem beharrlichen Festhalten am kommunistischen Ideal und seiner zuweilen verschrobenen Eigenwilligkeit mitbestimmt war, ein Stück gut lesbare Zeitgeschichte zur Schweiz zu schreiben und mit den abgedruckten Texten von Gmür auch eine literarische Wiederentdeckung zu ermöglichen. Ähnlich wie bei einem anderem, lange vergessenen Schweizer Intellektuellen, dem Berner Schriftsteller und Journalisten Carl Albert Loosli (1877-1959), der mit unbequemen Fragen regelmäßig auf soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Ausgrenzungen aufmerksam gemacht hatte und dessen Werke in den letzten Jahren wieder Beachtung fanden,4 zeigen sie mit der Biographie Gmürs die Schwierigkeiten, mit welchen nonkonformistische Intellektuelle in der Schweiz zu kämpfen hatten und welche persönlichen (Überlebens-)Strategien sie dabei entwarfen.

Andererseits ist zu beachten, dass sich Gmür ab den 1950er-Jahren von seinem direkten politischen Engagement in der Schweiz weitgehend verabschiedet und mit seinem Ignorieren der Folgen „realsozialistischer“ Politik selbst ins Abseits gedrängt hat, wobei uns die beiden Autoren aber kaum über Gmürs Positionen zu den Entwicklungen in der DDR und Osteuropa aufklären. Man hätte auch gerne mehr gewusst darüber, welche Rezeption seine auflagenstarken Bücher in der publizistischen und literarischen Welt der DDR erfuhren, wie seine Texte bei der Leserschaft ankamen, welche Wirkungen seine Reportagen auf das Bild Afrikas in der DDR hatten. Sicherlich hängen diese offenen Fragen mit der Auswahl der konsultierten Quellen zusammen, von denen nur wenige aus der ehemaligen DDR stammen. Sie widerspiegeln aber auch ein Defizit der Studie, in der die kontextuelle Situiertheit von Gmürs Denken und Handeln unterbelichtet bleibt und seine Lebensgeschichte nur punktuell auf dem Hintergrund der Verwerfungen und Brüche wie auch Kontinuitäten im politischen und intellektuellen Leben der Schweiz gesehen wird.

Anmerkungen:
1 Zur Intellektuellenforschung in der Schweiz siehe Claude Hauser, L’histoire des intellectuels en Suisse: un bilan décennal (1990-2001), in: Michel Leymarie / Jean-François Sirinelli (Hrsg.), L’histoire des intellectuels aujourd’hui, Paris 2003, S. 379-407.
2 Siehe u.a. Alain Clavien, Les Helvétistes. Intellectuels et politique en Suisse romande au début du siècle, Lausanne 1994; Aram Mattioli (Hrsg.), Intellektuelle von rechts. Ideologie und Politik in der Schweiz 1918-1939, Zürich 1995.
3 Siehe z.B. Sybille Birrer et al., Nachfragen und Vordenken. Intellektuelles Engagement bei Jean Rudolf von Salis, Golo Mann, Arnold Künzli und Niklaus Meienberg, Zürich 2000; Roger Sidler, Arnold Künzli. Kalter Krieg und „geistige Landesverteidigung“ – eine Fallstudie, Zürich 2006.
4 Erwin Marti, Carl Albert Loosli 1877–1959, 3 Bde., Zürich 1996-2009; Carl Albert Loosli-Werkausgabe, hrsg. v. Fredi Lerch, Erwin Marti, 7 Bde, Zürich 2006-2008.

Kommentare

Von König, Mario10.08.2010

Damir Skenderovic stellt in seiner Rezension die Frage, "ob nicht auch in den Stasi-Unterlagen Informationen zu Gmür zu finden gewesen wären." Die angesprochene Stasi-Akte hätten wir auch gern verwendet; sie existiert jedoch ganz einfach nicht, ist womöglich zerstört worden beim Umbruch in der DDR. Dies wird erwähnt bei Diskussion der Quellenlage in der Einleitung (S. 9).
Markus Bürgi, Zürich / Mario König, Basel


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