E. Horn u.a. (Hrsg.): Schwärme. Kollektive ohne Zentrum

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Titel
Schwärme. Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information


Herausgeber
Horn, Eva; Gisi, Lucas Marco
Reihe
Masse und Medium 7
Anzahl Seiten
275 S.
Preis
€ 28,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan M. Fischer, Institut für Philosophie, Literatur-, Wissenschafts- und Technikgeschichte, Technische Universität Berlin

„Schwärme haben Konjunktur.“ Der Sammelband „Schwärme. Kollektive ohne Zentrum“, herausgegeben von Eva Horn und Lucas Marco Gisi, setzt sich jedoch ein anspruchsvolleres Ziel, als bloß diese Konjunktur zu beschreiben. Er will die narrative, metaphorische und ideengeschichtliche Herkunft des Paradigmas erfassen und eine „Epistemologie des Schwarmes“ rekonstruieren (S. 4). Diese soll sich daraus ergeben, dass drei Ebenen einbezogen werden (ebd.): erstens die Ontologie des Schwarmes, zweitens der Operationsmodus und drittens die Darstellbarkeit. Die Ebene der Darstellung wird „nicht zuletzt auch [als] die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit eines Wissens vom Schwarm“ verstanden (S. 15), womit deutlich wird, dass eigentlich nur dieser dritte Aspekt eine Frage der Epistemologie ist. Über solche begrifflichen Unschärfen muss man beinahe durchgängig hinwegsehen, wenn man das anspruchsvolle Ziel nicht aus den Augen verlieren will.

Der methodisch produktive Ansatz besteht darin, sich der Betrachtung von „Übertragungen“ zuzuwenden: einerseits einer anthropologischen Übertragung zwischen Mensch und Tier, andererseits einer technologischen von lebendigen Systemen auf technische oder informatische (S. 15). Die Schlagkraft dieses Ansatzes zeigt sich darin, dass er einerseits die Technisierung und Technikabhängigkeit wissenschaftlicher Leitbilder erfasst, deren Anwendung, Formulierung oder Darstellung ohne digitale Rechnerkapazität gar nicht möglich ist. Andererseits integriert er zwanglos die geschichtlichen Komponenten; der metaphorische Übertrag zwischen Mensch und Tier ist „so alt wie die abendländische Kultur“ (S. 15). Die wissensgeschichtliche Aufgabenstellung besteht dann darin, die erkenntnisleitenden Metaphern der Rede von Schwärmen in ihrer historischen Entstehung zu erfassen und insbesondere „deren epistemische, politische, ethische und anthropologische Implikationen […] freizulegen“ (ebd.). Dieser methodische Ansatz gibt die Struktur des vorliegenden Bandes vor.

Neben Eva Horns Einleitung ist den übrigen Beiträgen ein Artikel Eugene Thackers vorangestellt, der seit seinem ersten Erscheinen 2004 bereits zu einem locus classicus der Schwarm-Literatur geworden ist. Thacker unterscheidet das Modell „Schwarm“ von biologischen, technologischen Netzwerken und politischen „Multitudes“, nimmt also eine genauere Umgrenzung des Modells vor. Die Verbindung stiftende, kollektivierende gegenseitige Affektion innerhalb eines Schwarmes sieht Thacker als über den Operationsmodus hinausgehende und grundlegendere Problematik eines Schwarm-Verständnisses an.

Diesen Affektionen, in Menschenmassen als einer Psychologie der Masse, wendet sich Michael Gamper in seinem Beitrag genauer zu. In seiner Darstellung zeigt sich die Ambivalenz zwischen Faszination und Abschreckung des Phänomens der Masse und Massenbildung, die wissenschaftshistorisch schon die ersten ‚Schwarmtheoretiker‘ zeigten. Wie sehr dies einerseits mit der Unsichtbarkeit der wirkenden Kräfte oder emergenten Strukturen, andererseits mit dem Problem der Kontrolle von Massen und Schwärmen zu tun hat, zeigt Urs Stäheli in seinem anschließenden Aufsatz. Das Umschlagen von theoretischem Unbehagen in Entsetzen und schließlich Horror, respektive die Verwendung des Topos als Horrorszenario, beschreibt schließlich Eva Horn, insbesondere für das Genre moderner Science-Fiction.

In dieser ersten Gruppe von Beiträgen ist schon die Publikation des Klassikers Thacker in deutscher Übersetzung zu würdigen; aber auch Stähelis Beitrag zeigt sehr eindrücklich die Gleichzeitigkeit von Gegensätzen, wie sie das Schwarm-Modell als Paradigma enthält. Kontrollverlust und Dynamisierung durch Kontrolle, Unvorhersagbarkeit und entsprechend dennoch mögliche Führerkonzeptionen werden sehr scharfsinnig nebeneinandergestellt. Zugleich verdeutlicht Horns Beitrag indes die leider immer wieder auffallenden Schwächen dieses Buches, wenn hohe Ansprüche und die Produktivität des methodischen Ansatzes nicht eingelöst werden können. Ihr Fazit zeigt beispielhaft, dass hier offenbar keine Klärung der Epistemologie gelungen ist (S. 124): „Am Ende werden Schwärme das gewesen sein, was weder Wissenschaft modellieren, noch Fiktion imaginieren kann: Erscheinung des Lebens.“

Die folgenden Beiträge von Sebastian Vehlken und Sebastian Gießmann wenden sich einem der beiden Übertragungsaspekte zu – demjenigen zwischen Leben und Information, besonders seiner Darstellbarkeit. Vehlken widmet sich sehr detailgenau der Wechselwirkung zwischen Schwärmen als „Wissensobjekt“ und zugleich „Wissensfigur“. Diese gegenseitige Durchdringung eines modellartigen Leitbildes und seiner praktischen Darstellbarkeit, die zugleich technische Realisierung und damit Festlegung des Objektes im ursprünglichen Modell ist, bereite „schließlich die Basis für eine diskursive Konjunktur […] rund um eine Übertragung […] auf menschliche Kollektive“ vor (S. 128). Trotz der interessanten Darstellung spezifischer Wechselwirkungen und Anwendungen, beispielsweise agentenbasierter Programmierung oder filmtechnischer Anwendungen in Schlachtszenen, gelingt es diesem Beitrag aber gerade nicht, das Spezifische einer Schwarm-Epistemologie zu beschreiben. An den epistemologisch relevanten Stellen spricht Vehlken letztlich stets die Epistemologie der Simulation an – und damit Probleme, die wissenschaftsgeschichtlich und wissenschaftstheoretisch schon lange und für diverse unterschiedliche Bereiche jenseits von Schwärmen bekannt und bearbeitet sind.

Das Ineinanderfallen von Ontologie und Epistemologie, Sein und Wissen(können) ist in Gießmanns knappem Beitrag hervorragend, präzise und eben epistemologisch scharf herausgearbeitet. So gelingt es ihm, sowohl auf entscheidende epistemische Bedingungen als auch auf mögliche Begrenzungen hinzuweisen. Gerade die Interpretation der Bedingungen des Umgangs mit solchen Begrenzungen wird entscheidender Teil einer Schwarm-Epistemologie sein müssen.

Die abschließenden vier Beiträge sind der Übertragung Tier – Mensch gewidmet. Im Durchgang durch die „ungebrochene Karriere“ (S. 185) des uralten Topos vom sozialen Insekt, speziell der Ameise, beschreibt Niels Werber einerseits die Tradition „fabelhafter Evidenz“ (S. 187), auf die sich die moderne Schwarmsemantik stützen kann. Andererseits arbeitet er heraus, dass sich nicht zufällig ein Wechsel vom Singular zum Plural, „von der fleißigen oder geizigen, weisen oder habgierigen Ameise der Antike zu den Ameisenhäufen, Schwärmen, Nestern und Vielheiten der Moderne“ vollzogen habe (S. 190); mit einschneidender Konsequenz. „Der Schwarm entwirft eine Sozialform.“ (ebd.) Damit kann Werber zeigen, wie innig Modellierungen – auch auf (scheinbare) naturwissenschaftliche Objektivität gestellt – mit ganz anderen Paradigmen verbunden sind (seien sie politisch, gesellschaftlich, moralisch oder soziologisch) und, im Umkehrschluss, sich diesen formwandlerisch verdanken. Ihm gelingt es damit, tatsächlich epistemische Randbedingungen für das Schwarm-Modell aufzuzeigen.

Wie entscheidend es ist, bei der Übertragung stets auch die impliziten Zuschreibungen mitzudenken, zeigt Eva Johach am Beispiel der Veränderungen in der Sicht auf Bienen. Vom König (Königin) über die Republik und Reproduktionszwecken zum „leeren Zentrum“ weist sie diese Sichtweisen nach. Sehr schön kann sie so ihre These stützen: „[…] je mechanischer und ungerichteter die Interaktionen [unter dem Leitbild der Selbstorganisation] beschrieben werden, desto mehr wächst das Mysterium der scheinbaren Zielgerichtetheit, die daraus emergiert“ (S. 224). Ihr gelingt es damit, eine feinsinnige Kritik am tragenden Paradigma jenseits aller Schwärmerei von Schwärmen zu entwickeln.

Einem dritten Tier, dem Biber, widmet Lucas Marco Gisi seinen Beitrag. Auch hier zeigt er einen Weg der Verschiebung von Interpretationen der Lebensform dieser Tiere, jeweils zeitbedingten wissenschaftlichen und sozialen Leitbildern folgend. Benjamin Bühler schließlich wendet sich der Frage zu, wie „über tierische Kollektive Modelle sozialer Form hergeleitet oder problematisiert werden“ (S. 256). Anhand von vier Beispielen – Kropotkin, Canetti, Frisch und Lem – will er die These stützen, dass „indem das Erzählen die wissenschaftlichen Denkstrategien und Methoden ersetzt und zugleich deren Voraussetzung bildet, [sich zeigt,] dass tierisch-technische Organisationsformen in Fiktionen imaginiert werden müssen, damit sich Gesellschaften selbst beschreiben können“ (S. 272).

Zusammenfassend ist zuerst hervorzuheben, dass hier ein hochinteressantes Thema aus einer methodisch fruchtbaren Perspektive heraus bearbeitet wird. Die Konzeption des Bandes ergibt sich überzeugend aus dem methodischen Ansatz. Dessen Umsetzung gelingt am besten in den Darstellungen der Diskursgeschichte mit ihren politischen, kulturellen und normativen Implikationen.

Für das Lektorat des Bandes hätte man sich gewünscht, dass mehr Augenmerk auf die Vermeidung von Redundanzen gelegt worden wäre. Frank Schätzings Roman „Der Schwarm“ (2004) taucht in fast wortgleicher Einordnung viermal auf, einige Einleitungen gleichen sich fast vollständig in der Darstellung der Faszinations-Horror-Ambivalenz, und nach sehr konstruktiven Betrachtungen zu Ameise und Biene scheint sich beim Biber nur alles zu wiederholen.

Das Hauptproblem liegt jedoch in einer zu häufigen Unschärfe, was den zentralen Begriff der Schwarm-Epistemologie betrifft; manches ist einfach nicht epistemisch. Noch wichtiger: Weil etwas im Schwarmkonzept vorkommt, ist es für das Schwarmkonzept nicht zwingend epistemisch spezifisch. Man sollte diesen Band als einen Beitrag zur Beruhigung der Schwärmerei vom Schwarm und als interessante Sammlung verschiedener Perspektiven sehen, nicht jedoch als Klärung der Epistemologie des Schwarms.

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