S. Keller: Im Gebiet des Unneutralen

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Titel
Im Gebiet des Unneutralen. Schweizerische Buchzensur im Zweiten Weltkrieg zwischen Nationalsozialismus und Geistiger Landesverteidigung


Autor(en)
Keller, Stefan
Erschienen
Zürich 2009: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
347 S.
Preis
€ 37,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Matysiak, Göttingen

„Deutschen-Bashing wird salonfähig in der Schweiz“, schrieb Anfang Februar die Financial Times Deutschland in einem weithin beachteten Beitrag.1 Deutsche Kritik an der Schweizer Steuergesetzgebung sowie Schweizer Überfremdungsängste wegen deutscher Gastarbeiter hätten die Hemmschwelle abgesenkt, über den großen Nachbarn herzuziehen. Aktuell zeigt sich damit wieder einmal ein auch von Stefan Andreas Keller identifiziertes traditionelles Konfliktpotenzial zwischen den beiden Nachbarländern Schweiz und Deutschland, das in deren sprachlich-kultureller Nähe wurzelt.

Wie wirkmächtig dieses Spannungsverhältnis in den Kriegsjahren zwischen 1939 und 1945 war, untersucht Keller in seiner Studie „Im Gebiet des Unneutralen“, in der er sich vor dem Hintergrund des expansiv orientierten Deutschen Reiches mit der Schweizer Buchzensur beschäftigt. Anhand einer Analyse der Zensurprotokolle kann der Autor zeigen, dass die im letzten halben Jahrhundert vorherrschende Erzählung von der Schweiz als Antithese zum bzw. als Bollwerk gegen den Nationalsozialismus einer differenzierteren Betrachtung weichen muss und „die in der Nachkriegszeit etablierte Widerstandserzählung nicht mehr haltbar“ (S. 15) ist.

Im ersten Kapitel beschreibt der Autor dazu grundlegend eine politische Entwicklung, die nach 1918 nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz zu Demokratieskepsis und völkischer Gesinnung führte, jedoch nicht zur rechtsradikalen Machtübernahme. Die Angst vor einem Eingriff des Deutschen Reiches führte zwischen dem Anschluss Österreichs und dem Zweiten Weltkrieg zu einer Notstandsgesetzgebung, die Teile der eidgenössischen Verfassung außer Kraft setzte. Auch in der Schweiz setzten sich dabei fremdenfeindliche, autoritäre und militaristische Politikvorstellungen durch, die schließlich nach den deutschen Kriegserfolgen im Jahr 1940 innenpolitisch zu einer weitgehenden Orientierung am Nationalsozialismus und einer engen wirtschaftlichen Kooperation beider Länder führten, was allerdings nach außen hinter dem Begriff der Neutralität versteckt wurde. Nach innen setzte sich das Konzept der sogenannten „Geistigen Landesverteidigung“ durch, bei der die Bevölkerung kulturell zu einer opferbereiten Volksgemeinschaft vereinigt wurde.

Die außenpolitische Lage und die innenpolitischen Reaktionen führten im September 1939 zur Errichtung einer Pressezensur, deren Grundlagen Keller zum Gegenstand des zweiten Kapitels seines Werkes macht. Diese Zensur wurde dabei nicht als autoritärer staatlicher Akt angesehen, sondern zur pressepolitischen Maßnahme der ganzen Volksgemeinschaft verklärt, die der Abwehr des Nationalsozialismus und damit gerade dem Schutz der Pressefreiheit gedient habe. Eine deutschfeindliche Berichterstattung wurde zum Verstoß gegen das Neutralitätsgebot erklärt und musste deshalb unterbunden werden.

Auch die Buchzensur, die vom Präsidenten des Schweizerischen Buchhändlervereins selbst organisiert wurde, fand vor dem Hintergrund des volksgemeinschaftlichen Handelns statt. Während die eidgenössischen Buchhändler sich anfangs noch als Teil einer großen deutschsprachigen Buchhandelskultur sahen, kam es später zu einer stärker eigenständigen völkisch-nationalistischen Kulturpolitik, die wie im Nazi-Deutschland in bereits vor 1933 vorhandenen Vorstellungen wurzelte: Danach war die Zensur keine Reaktion auf den Druck des nationalsozialistischen Nachbarn, sondern ein Ergebnis schon länger wirkender Entwicklungen innerhalb der schweizerischen Gesellschaft, die auf einen Abbau demokratischer Grundrechte und den Aufbau eines autoritär geführten Staats zielten.

Insgesamt begutachtete die Schweizer Zensur zwischen 1939 und 1945 5.315 Schriften, die von Keller thematisch sortiert und aufgearbeitet werden. Insbesondere Schrifttum über den Holocaust erwies sich für die Zensoren als problematisch, denn einerseits konnten die Gräuelschilderungen als antideutsche Verletzung der Neutralitätspolitik ausgelegt werden, andererseits sah sich die Schweiz als Sitz von Internationalem Roten Kreuz und Völkerbund jedoch in einer humanitären Tradition. Nicht nur die Angst vor Deutschland, sondern auch die Angst vor dem Vorwurf der „Judenhörigkeit“, Vorstellungen von der Nutzlosigkeit oder Unglaubwürdigkeit aufklärerischer Veröffentlichungen über den Holocaust, aber auch antijüdische Ressentiment bestimmen dabei die Zensurpraxis, die auch Literatur aus Ländern der alliierten Kriegsgegner betraf. Erst wenige Monate vor dem Zusammenbruch des NS-Staates akzeptierte die Zensur Tatsachenberichte über das Ausmaß des antisemitischen Völkermords.

Die Probleme beim Umgang vor allem mit dem aus Deutschland stammenden Schrifttum betraf dabei vor allem auch den Bereich der sozial- und geisteswissenschaftlichen Literatur. Das heutigen Tages in der Schweiz thematisierte Problem der „Überfremdung“ der Universitäten durch deutsche Wissenschaftler führte auch in den 1930er-Jahren vereinzelt zu Versuchen, die eidgenössische Wissenschaftslandschaft von der des nördlichen Nachbarn stärker abzugrenzen und die große Zahl deutscher Forscher zu reduzieren. Während in der Schweizer Wissenschaft zwar der Nationalsozialismus nicht wirklich akzeptiert war, völkische Gedanken jedoch weit verbreitet waren, blieben allerdings die Kontakte etwa von Schweizer Germanisten oder Rassenanthropologen lange sehr eng. Von der Zensur im Zuge der Abgrenzungspolitik abgelehnt wurden vor allem historische Werke, in denen deutsche Historiker sich mit der Schweiz befassten und die die Eigenständigkeit des Alpenlandes bedrohten.

Zwar verstand sich die Zensur als ein Instrument der offiziellen schweizerischen Neutralitätspolitik, Keller zeigt in seinem Resümee aber, dass die Zensur nicht nur der Abwehr nationalsozialistischen Gedankenguts galt, sondern sich die Zensoren auch die Argumente des vorgeblichen Gegners zu Eigen machten bzw. diese mittrugen. Dies mussten insbesondere die Autoren der deutschen Emigration erleben, deren Werke häufig von Eingriffen betroffen waren. Mit seinem fundierten Werk, das zugleich als Dissertation angenommen wurde, belegt der Autor eine Einstellung, die in der Psychologie aus Familienkonstellationen bekannt ist: Das Verhältnis der Schweiz zum immer wieder als „großer Bruder“ bezeichneten Deutschland war auch während Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg ein ewiges Pendeln zwischen Abgrenzung und Vorbild.

Anmerkung:
1 Kai Schöneberg, Steuersünder-CD: Schweizer wüten über Deutsche, in: Financial Times Deutschland, Online-Ausgabe, 5.2.2010, <http://www.ftd.de/politik/europa/:steuersuender-cd-schweizer-wueten-ueber-deutsche/50070305.html> (4.3.2010).

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