H. Bosshard-Borner: Im Spannungsfeld von Politik und Religion

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Titel
Im Spannungsfeld von Politik und Religion. Der Kanton Luzern 1831 bis 1875


Autor(en)
Bossard-Borner, Heidi
Erschienen
Basel 2008: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
927 S.
Preis
€ 85,40
Rezensiert für Clio-online und H-Soz-Kult von:
Martin C. Wald, Humboldt-Universität zu Berlin

Als sich unter der einfachen papstkritischen Losung „Hie Eidgenossen! - Hie Römlinge!“ zu Beginn der 1870er-Jahre der Schweizer Kulturkampf zuspitzte, hatte die Auseinandersetzung zwischen liberalen und konservativen, zwischen protestantischen und katholischen Schweizern bereits eine mindestens 40-jährige Geschichte hinter sich. Bezogen auf Deutschland gilt der „Kulturkampf“ dieser Jahre heute häufig immer noch als politisches Machtinstrument in den Händen Bismarcks. Schweizer muss man nicht daran erinnern, welch lange mentale, kulturelle und politische Vorbereitung die neuerliche Eskalation voraussetzte. Der für das Selbstverständnis und die weitere verfassungsmäßige Entwicklung der Schweiz so zentrale Sonderbundskrieg vom Spätherbst 1847 entlud sich an einer religiösen Frage – jener, ob den Jesuiten das Erziehungssystem anvertraut werden dürfe. Die Gesellschaft Jesu galt je nach parteipolitischem Standpunkt als Geißel oder Segen – ein Drittes gab es nicht.

An vorderster Front des Sonderbundes stand damals der Kanton Luzern als „Vorort“ der katholischen Schweiz, wie Heidi Bossard-Borner in einer Lokalstudie darstellt, dem zentralen Mittelstück einer als „Triptychon“ angelegten Kantonsgeschichte Luzerns im 19. Jahrhundert.1 Die exponierte Stellung des Kantons ergab sich aus seiner festgeschriebenen, „eingeborenen“ Katholizität – das Wahlrecht war an die katholische Konfession gebunden – in einer „feindlichen“ Umgebung liberaler und teils überwiegend protestantischer Kantone. In den Jahrzehnten von 1831 bis 1875 wechselte die politische Ausrichtung der höchsten Kantonsinstanzen Großer Rat und Regierungsrat mehrere Male zwischen Liberalen und Konservativen. Dieses typische Profil eines überschaubaren, zwischen kirchlicher und säkularer Option hin- und hergerissenen Staatswesens, in dem die Parteien sowohl zur Kooperation verdammt waren, damit „der Laden lief“, als auch zur Konfrontation, um die eigene Wählerschaft zu sammeln und zu aktivieren, macht die zwei Bände auch für jene interessant, die an einer vergleichenden Demokratie- und Konfessionsgeschichte im europäischen Maßstab interessiert sind.

Bis auf einen Seitenblick auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen im Kanton am Anfang des zweiten Bandes orientiert Bossard-Borner ihre chronologische Gliederung ausschließlich an diesem Wechselspiel der politischen Kräfte. Die liberale Regenerationsepoche von 1831 bis 1841 war von einer zunehmenden „Scheidung der Geister“ entlang der liberal-konservativen Frontlinie geprägt. Wahlentscheidungen, zunächst noch durch alltägliche Begegnungen mit und Aversionen gegen Kandidaten beeinflusst, gehorchten bald aber nur noch dem Trend zur parteipolitischen Polarisierung. Die Bereitschaft, der Minorität eine minimale Vertretung zuzugestehen, schwand zusehends. In der Sachpolitik nahmen die Auseinandersetzungen um das Staatskirchentum zentralen Raum ein. Speziell im Erziehungswesen, das für ihre Ideologie von besonderer Bedeutung war, bevorzugten die Liberalen „aufgeklärte“ Lehrkräfte, die von der Gegenseite sogleich als glaubenslose „Straussianer“ entlarvt zu werden hatten.2

Ein wichtiger Bestandteil der neuen Kantonalverfassung von 1831 war die Verpflichtung, alle zehn Jahre eine Verfassungsrevision auf die Tagesordnung zu setzen. Der anti-klerikale Furor der Liberalen hatte nun aber Anfang 1841 die Mehrheit der katholischen Luzerner so verunsichert, dass in Verfassungsrats- und Großratswahlen sowie der Abstimmung über die neue Verfassung das liberale Regime innerhalb kürzester Zeit zu Fall kam und einer katholisch-konservativen Sonderbundspolitik Platz machte. Das auf eidgenössischer Ebene ins Spiel gebrachte Verbot des Jesuitenordens auf der einen und mehr oder weniger geplante radikale, antiklerikale „Freischarenzüge“ aus den Nachbarkantonen auf Luzerner Boden auf der anderen Seite waren Vorboten der für die konservativ-katholische Sache selbstmörderischen Abspaltung der „sieben Kantone“ Freiburg, Schwyz, Uri, Unterwalden, Zug, Wallis und eben Luzern.

Nach dem für Luzern verlorenen Krieg von 1847 dauerte zwar die Abrechnung mit den konservativen Strippenziehern der Sonderbundspolitik noch lange Jahre an, doch die neue liberale Ratsmehrheit war nicht mehr wie noch in den 1930er-Jahren bereit, die religiösen Gefühle der Luzerner auf eine harte Probe zu stellen und sich selbst dem Vorwurf der Religionslosigkeit auszusetzen, weswegen eine parteipolitische Entspannung eintrat. Steuerpolitik, Armutsbekämpfung und Bau der ersten Eisenbahn standen an, alles wichtige Themen, die aber kaum an partei- oder kirchenpolitische Empfindlichkeiten rührten. Auch wenn es nicht an das heute in der Schweiz gebräuchliche und damals in den ersten Kantonen eingeführte Konkordanzmodell heranragte, wurde auch wieder mit Formen der Minderheitenvertretung experimentiert, das nur von den Liberalen in einer kurzen Phase der Eskalation zwischen 1867 und 1869 preisgegeben wurde. Durch die ultramontane Papst-Pius-Begeisterung seit etwa 1860 waren die politischen Parteien zwar wieder verstärkt in polarisierende Fahrwasser zurückgekehrt, doch scheint es so, als sei hier bereits weit mehr konfessionelle Rhetorik als handfester Konflikt im Spiel gewesen.

Diese zweite liberale Ära des Kantons Luzern endete im Mai 1871. Den Liberalen war es nicht gelungen, die kirchlich-konservative Verunsicherung aufgrund der umstrittenen Unfehlbarkeitserklärung des Papstes zu einem erneuten Wahlsieg zu nutzen. Vielmehr hatten sie selbst Zweifel an ihrer persönlichen Integrität geschürt und sich mit überholten Klischees und Topoi von Sonderbunds- und Jesuitenfurcht dem Wahlvolk entfremdet. Doch auch die neue konservative Mehrheit lavierte jetzt, dem liberalen Vorgehen zuvor durchaus nicht unähnlich, zwischen Grundsatztreue und Pragmatismus. So wurden die vielen Klosteraufhebungen seit 1848 nicht einfach schon deshalb rückgängig gemacht, weil dies einem katholischen Selbstverständnis entsprochen hätte: Die Klöster mussten vielmehr auch wirtschaftlich zu führen sein. In der Revision der Bundesverfassung von 1874 kam, um einen möglichst föderalen Entwurf durchzubringen, der Luzerner Parteiführer Segesser den westschweizer Radikalen in kirchenpolitischen Fragen so weit entgegen, dass das katholische Kirchenvolk vernehmlich zu murren begann. Segessers Taktik konnte letztlich aber doch nicht verhindern, dass sich Demokraten und Liberale auf dem Rücken der Konservativen einigten. Die Schweiz wurde ein Stück weit zentralistischer – die Konservativen diskreditierten dies als „Helvetik“: Die Erinnerung an die Helvetische Republik zur Zeit Napoleons lieferte das Gegenschlagwort zur liberalen Sonderbundsfurcht und klang nicht weniger abgedroschen.

Der chronologische Aufbau des Buches nach diesen vier Hauptphasen erfordert es, dass immer wieder thematische Stränge fallengelassen und wiederaufgegriffen werden, wodurch sich auch manche Doppelung und Wiederholung ergibt. Doch gewinnt die Abhandlung dadurch auch an Vollständigkeit und oftmals an Tiefenschärfe. Übersichtlich und aussagekräftig sind die vielen bunten Karten zur Luzerner Wahlgeographie, und auch der tabellarische Anhang lässt wenige Wünsche offen. Anfänglich meint man, gerne etwas mehr über die politischen Akteure erfahren zu wollen, doch auf Dauer erweisen sich die im Text eingeklinkten Porträts mit Kurzbiographie als absolut ausreichend.

Überraschend weitgehend gelingt es Bossard-Borner, allzu großen Idealisierungen der eidgenössischen „direkten Demokratie“ einen Riegel vorzuschieben. Die Luzerner Demokratie war vielmehr als repräsentative Demokratie konzipiert, in welcher die Macht der Regierungsgeschäfte in der Regel in einigen wenigen Familien verblieb. Vor der sozialen Bewegung der „Knechtenagitation“ der 1860er-Jahre standen beide Parteien einigermaßen hilflos. Das Wahlverfahren war keineswegs manipulationsresistent: Wahlkreise wurden nach Gusto zu- und umgeschnitten, um eine politische Vorherrschaft zu sichern; immer wieder kam es zu Schlägereien und Pöbeleien vor Wahllokalen, um Minderheiten einzuschüchtern; Alkohol wurde zu Bestechungszwecken ausgeschenkt; und es war auch keine Seltenheit, dass die Parteien so genannte „Wahlknechte“ anwarben, die nur zum Schein in besonders umkämpften Gemeinden Wohnsitz und Arbeit nahmen. Besonders tief in die demokratischen Rechte griff das Wahldekret von 1851 ein, nach dem die Wahl offen erfolgte, und zwar so, dass die Wähler Stimmkarten in Schachteln legten, die mit den Namen der einzelnen Kandidaten bezeichnet waren. Zwar wurde dieses Dekret bereits sechs Jahre später wieder kassiert, doch die Konservativen waren auch in späteren Jahren noch davon überzeugt, dass die Gemeindepräsidenten als provisorische Stimmenzähler hie und da eine katholische Mehrheit zur Minderheit erklärt hätten. Trotz der Fortdauer einiger dieser Missstände lebten die Luzerner 1875 zweifelsohne in einem demokratischeren Kanton als noch 1831.

Dabei waren es besonders die Liberalen, die das staatliche Gewaltmonopol zu Wahlmanipulationen missbrauchten. Der Volkssouveränität kam in ihrer politischen Konzeption weit mehr eine ideelle als eine praktische Bedeutung zu; die Mitsprache der Bürger habe sich auf die Wahl des Großen Rates zu beschränken. Insbesondere das liberale Regenerationsregime gilt als im Grunde undemokratisches „Kapazitätenregiment“. Im Gegensatz dazu spielten die Konservativen gerne und häufig die demokratische Karte und traten für ein umfangreiches Vetorecht der Luzerner Bürger ein. Diese Allianz aus Demokratie und politischem Katholizismus ist im europäischen Maßstab zwar keineswegs einmalig – man denke nur an die Konzepte des Lamennais3 – und dennoch als praktischer Beleg für die These relevant, dass die enge Verbindung von Papsttum, Geistesknechtschaft und Rückwärtsgewandtheit nur als Topos des liberalen, antikirchlichen und partizipationswilligen Bürgertums und danach als grand narrative der Geschichtsschreibung existierte.4 Hüten muss man sich aber auch, die Schweizer Verhältnisse allzu kurzschlüssig auf Europa hochzurechnen: Denn das vitale Bindeglied zwischen Konservativismus und Demokratie – der kantonale Föderalismus im Gegensatz zum „helvetischen“ Gesamtstaat – gab es in dieser Weise nur in der Schweiz.

Insgesamt ist die Studie Bossard-Borners ein interessanter und auf großer Quellenbasis solide gearbeiteter Beitrag nicht nur zur Schweizer Geschichte, sondern auch zur seit etwa 15 Jahren in den Geschichts- und Kulturwissenschaften verstärkt diskutierten Beziehung zwischen Politik und Religion. Beide Aspekte waren in der Praxis der Luzerner Demokratie nicht zu trennen. Wenn sich zum Beispiel am 31. März 1871 Luzerner Bürger im örtlichen Schützenhaus zu einer Versammlung trafen, um gegen die päpstliche Unfehlbarkeit zu demonstrieren, so war es undenkbar, dass am Ende daraus nicht eine liberale Parteikundgebung wurde. „Der Primat der Politik“, so endet Bossard-Borner, bestimmte insgesamt „die Logik des Geschehens“; nur hatte Politik „im Luzern des 19. Jahrhunderts immer eine Neigung zum Transzendentalen“ (S. 821).

Anmerkungen:
1 Bereits erschienen: Heidi Bossard-Borner, Im Bann der Revolution. Der Kanton Luzern 1798– 1831/50, Luzern 1998.
2 David Friedrich Strauss (1808–1874), der das Leben Jesu historisiert hatte und dadurch zum Schreckgespenst der gläubigen Christen geworden war, sollte ab 1839 im nahen Zürich lehren, trat aber die Stelle wegen der heftigen Proteste nicht an. Der sog. „Straussenhandel“ sorgte in diesem Zusammenhang sogar für die Absetzung der liberalen Züricher Regierung.
3 Der französische Religionsphilosoph Lamennais (1782–1854) hatte freilich, um die Kirche mit Demokratie und Republik zu versöhnen, die konsequente Trennung von Staat und Kirche angeregt – eine Forderung, zu der sich die Luzerner Katholiken schwerlich verstiegen hätten.
4 Die Thesen Urs Altermatts über den spezifisch katholischen „Antimodernismus mit modernen Mitteln“ sind demzufolge – wie dies zumindest implizit auch Bossard-Borner tut – mit Vorsicht zu genießen. In Wirklichkeit werden nicht nur die Mittel (wie das Vereins- und Pressewesen und insgesamt die „Massenpolitik“) „modern“ gewesen sein, sondern auch viele der Inhalte.

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