L. Ellrich u.a.: Die Unsichtbarkeit des Politischen

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Titel
Die Unsichtbarkeit des Politischen. Theorie und Geschichte medialer Latenz (mit einem Kapitel von Carsten Zorn)


Autor(en)
Ellrich, Lutz; Maye, Harun; Meteling, Arno
Reihe
Kultur- und Medientheorie
Anzahl Seiten
380 S.
Preis
€ 32,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Annette Vowinckel, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Figuren der ‚Latenz’ im Sinne einer Kraft, die nicht sichtbar, aber dennoch wirksam ist, durchgeistern antike Mythen ebenso wie vormodernen Aberglauben oder moderne Textinterpretationen. Die Beiträge des hier besprochenen Bandes widmen sich der Erforschung dieser Figuren, grenzen ihren Untersuchungsgegenstand aber teilweise auf solche Figuren der Latenz ein, die das Verhältnis von Politik und Medien seit dem 18. Jahrhundert umschreiben. Dieses Feld wird in der Einleitung weiträumig abgesteckt: Ziel ist es herauszufinden, „ob das Politische inzwischen verschwunden ist oder nach wie vor aus dem Verborgenen heraus seine bedrohlichen Wirkungen erzielt oder demnächst als erlösendes, vielleicht auch furchtbares Ereignis geschieht oder ganz andere, noch ungeahnte Gestalten annehmen wird“ (S. 10).

Den Auftakt bildet eine Studie von monografischer Länge (140 Seiten), in der Harun Maye und Arno Meteling sich dem Gegenstand in historischer Tiefe und systematischer Breite annähern. Ausgehend von Sigmund Freud und seiner Annäherung an das Unbewusste setzen die Autoren sich unter anderem mit den Schriften von Aristoteles, Platon, Immanuel Kant, Friedrich Nietzsche, Jacques Lacan, Walter Benjamin, Niklas Luhmann, Jürgen Habermas, Giorgio Agamben und Marshall MacLuhan auseinander, spüren Figuren der Latenz in ihren Werken auf und differenzieren dabei zwischen Feldern des Unbewussten, der Kommunikation, der Öffentlichkeit, der Rhetorik und der Unsichtbarkeit. Dabei werden verschiedene Kontroversen aufgegriffen wie zum Beispiel die Debatte darum, ob Massenmedien die Politik „aus ihrer selbstverschuldeten Verborgenheit“ befreien oder ob sie vielmehr selbst die Politik „kolonialisieren“ (S. 61) oder den alten Disput über den Sinn der Rhetorik zwischen Aristoteles und Platon, die ersterer als Rede- bzw. Überzeugungs-, letzterer als Täuschungskunst bezeichnete. (Erstaunlicherweise spielt die Konkurrenz von Ästhetik und Metaphysik, die sich auch auf Differenzen zwischen Platon und Aristoteles zurückführen lässt, hier keine Rolle). Der Text ist ein durchaus gelungener Parforceritt durch die Ideengeschichte der politischen Latenz. Wünschenswert wäre es allerdings gewesen, dass die Autoren am Ende des Textes noch einmal einen Blick aus der Vogelperspektive auf ihren Gegenstand geworfen und ein knappes Fazit formuliert hätten.

Im folgenden Kapitel beschäftigt sich Harun Maye mit der „unsichtbaren Hand“ als literarischer Metapher, die zeitgleich mit dem Begriff der Latenz in den deutschen Sprachraum Einzug hält. Diese unsichtbare Hand, die keineswegs identisch ist mit der „Hand Gottes“, taucht zuerst bei Shakespeare auf, dann bei Adam Smith (hier allerdings nicht im Kontext der Lenkung ökonomischer Prozesse, mit der sie heute gern in Verbindung gebracht wird), und auch im ‚Schauerroman’ des 18. Jahrhunderts ist die „unsichtbare Hand“ zuständig für die Regelung von Dingen, die durch rationale Intervention gerade nicht regelbar sind. Mit Umweg über Kant schlägt Maye schließlich einen Bogen zur Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts. Auch die Mediengesellschaft, so der Autor, erscheint als eine von „unsichtbarer Hand“ gelenkte. Folgt man dem Medientheoretiker Kevin Kelley, so besteht das „Wunder des ‚Denkens im Schwarm’ ... darin, dass keiner einer Steuerung unterliegt und dennoch eine unsichtbare Hand reagiert, eine Hand, die sich aus äußerst dummen Gliedern erhebt.“1 Dieses Konzept widerspricht radikal Konzepten der Bürgergesellschaft, wie sie beispielsweise von Ulrich Beck entworfen wurden. Gleichwohl, so das Fazit, wird man Konzepte des Gemeinwesens, die keine zentrale Steuerung mehr vorsehen, in Zukunft kaum mehr ignorieren können.

Im nächsten Text befasst sich Arno Meteling mit dem Phänomen der Verschwörungstheorie. Geheimnis und Verschwörung gehören, so der Autor, zu den „entscheidenden Topoi des modernen politischen Diskurses“ (S. 179). Sie dienen der Trennung von Politik und Moral und fördern seit der Französischen Revolution den Argwohn gegen aufklärerische Arkangesellschaften. Im Anschluss an eine kurze Darstellung von Verschwörungstheorien wendet sich der Autor dem weniger bekannten Phänomen der Staatsparanoia als einer Angst vor dem Feind im Inneren zu. Es folgt ein Abriss über „Geheime Kommunikation um 1800“, in dem nicht staatliche, sondern bürgerliche Praxen (zum Beispiel der Freimauer oder Illuminaten) beschrieben werden, die zuweilen auch ins Esoterische abdriften. Auf ihr Erstarken im 18. Jahrhundert folgt indes im 19. Jahrhundert eine Fusion antigeheimgesellschaftlicher Kräfte mit einer Spielart des Antisemitismus, der den Juden die Planung einer Weltverschwörung unterstellt. Auch Meteling wendet sich schließlich den medialen Bedingungen der Verbreitung von Verschwörungstheorien zu, die sich im 20. Jahrhundert vor allem auf die verschiedenen Geheimdienste konzentrieren. Hier handelt es sich einmal mehr um die Verschiebung eines (Latenz-)Verdachts vom Staat über die Gesellschaft auf die Medien, die auch in den anderen Beiträgen stets eine Rolle spielt.

Der fünfte Beitrag des Bandes hat mit 125 Seiten wiederum die Länge einer kurzen Monografie. Darin stellt Lutz Ellrich verschiedene „Spielarten politischer Un-/Sichtbarkeit“ vor, die nicht nur in absolutistischen oder diktatorischen, sondern auch in demokratischen Staaten virulent sind und sowohl von ‚konservativen’ wie auch von ‚kritischen’ Geistern gepflegt werden. „Verflachungstendenzen“ erkennt der Autor da, wo die Latenzfiguren ihre Bedrohlichkeit eingebüßt haben und eher als Antwort auf immer enger werdende Handlungsspielräume dienen. Vor allem mit dem Aufkommen der Massenmedien schwindet der Spielraum für die Unterstellung ‚tiefer’ Latenzen bzw. verschiebt sich auf die „ökonomischen Dunkelzonen“, in denen die Unterstellung undurchsichtiger Machenschaften bekanntlich besonders häufig zu beobachten ist. Dieser Abschnitt ist nicht nur besonders eindrücklich, er weist auch die meisten Berührungspunkte mit dem Alltag des Lesers auf, da die ökonomische Variante der Verschwörungstheorie durchaus zu denjenigen Themen gehört, die jeden Stammtisch in Bewegung versetzten können.

Weiterhin referiert Ellrich Theorien der Latenz im Bereich des Politischen (hier behandelt er eine ganze Reihe jüngerer Arbeiten unter anderem von Giorgio Agamben, Ernesto Laclau und Chantal Mouffe), bevor er sich dem Feld der Sicherheitspolitik und schließlich der „Subjektkonstitution“ widmet. In einem abschließenden Fazit kommt er zu dem Schluss, dass die „berüchtigten dunklen Orte, die einst zur Aufbewahrung der wohl gehüteten Geheimnisse dienten, [...] mittlerweile ins mediale Zweilicht von Fakten und Fiktionen geraten“ seien. „Was wir über die Quellen der Macht nicht zu wissen meinen, das können wir uns mit Hilfe der Massenmedien umso fantasievoller und drastischer ausmalen, ohne den fatalen Anspruch auf Gewissheit erheben zu müssen“ (S. 336). Mit anderen Worten: Wo Medien scheinbar beliebig ver- und enthüllen, brauchen wir keine Verschwörungstheorie mehr, brauchen wir „die Wahrheit“ nicht mehr „stets hinter Schleiern und Kulissen zu suchen“ (S. 337).

Den Abschluss des Bandes bildet ein Text von Carsten Zorn, in dem er sich mit „latenten Autologiken der Selbstregierung“ (S. 339) am Beispiel von Schwärmen befasst – ein Thema, das derzeit durchaus Konjunktur hat.2 Den Anschluss zum Thema des Bandes stellt Zorn darüber her, dass es der Schwarmforschung weniger um Fakten als vielmehr darum gehe, die „Entwicklungspotentiale, also noch verborgene, noch unausgeschöpfte Möglichkeiten sichtbar zu machen“ (S. 342) – gemeint sind hier vor allem Möglichkeiten der menschlichen Selbstorganisation. Damit „scheint es nun vor allem möglich, begrifflich adäquat auf die schwindende Bedeutung von gemeinsamen ‚sozialen Lagen’ oder kulturellen Gemeinsamkeiten für viele heutige Formen von Vergemeinschaftung zu reagieren“ (S. 343). Als ältere Formen, von denen sich Schwarmtheorien abgrenzen, nennt er die ‚Klasse’ und die ‚Masse’, als geradezu kongeniale Organisationsform das Internet – womit er die Figur der Latenz (die sich im Schwarm manifestiert) in den Bereich der Medien verschiebt. Generell erkennt er im Schwarm-Modell ein „auf den Kopf gestelltes – und von ‚Konkurrenz’ auf ‚Kooperation’ umgestelltes und umgearbeitetes – Markt-Modell“ (S. 374), in dem so lange alles zum Besten steht, solange jeder sich einfach um seine Interessen kümmert. Zorn schlägt damit einen Bogen von der tiefen Sorge, durch unsichtbare Machenschaften übervorteilt zu werden, zu dem Glück der Befreiung von der Sorge um das Große Ganze.

Wenngleich es an theoretischen Arbeiten immer auszusetzen gibt, dass sie nur wenige Bezüge zur Geschichte und zur sozialen Praxis schlagen (hier gelingt dies zumeist im Hinblick auf die Medien), so sind sie doch nicht minder hilfreich, wenn es darum geht, einen Untersuchungsgegenstand überhaupt erst als solchen auszumachen. Es ist das Verdienst dieses Bandes, die Figur des Unsichtbaren in der Politik umfassend in ideengeschichtlicher und medientheoretischer Perspektive abgesteckt und damit das Feld bereitet zu haben für empirische Studien, die mit Sicherheit folgen werden und durch Einbeziehung dieses Bandes nur gewinnen können.

Anmerkungen:
1 Keven Kelley, Das Ende der Kontrolle. Die biologische Wende in Wirtschaft, Technik und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997, S. 25, hier zitiert nach Ellrich u. a., Die Unsichtbarkeit des Politischen, S. 175.
2 Z.B. Eva Horn / Lucas Marco Gisi (Hrsg.), Schwärme - Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld: Transcript 2009.

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