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Titel
Vitamin C für alle!. Pharmazeutische Produktion, Vermarktung und Gesundheitspolitik (1933-1953)


Autor(en)
Bächi, Beat
Reihe
Interferenzen – Studien zur Kulturgeschichte der Technik, Band 14
Erschienen
Zürich 2009: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
€ 23,00
Rezensiert für Clio-online und H-Soz-Kult von:
Igor Polianski, Institut für Geschichte, Universität Ulm

Mit Beginn der Industriemoderne haben die Medizinalsysteme Europas und Nordamerikas ein neues Aktionsfeld für sich entdeckt. In der Grauzone zwischen Krankheit und Gesundheit betraten damals die Ärzte ein Niemandsland, dessen Eroberung und Fruchtbarmachung im Namen der „Gesundheitsoptimierung“ zur autopoietischen Mission der Medizin des 20. Jahrhunderts werden sollte. Seitdem folgt das Gesundheitswesen zunehmend einer Programmatik der Lebenssteigerung, in der die Binarität von krank und gesund durch graduelle Qualitäten überlagert ist. Statt Heilung von Krankheiten reklamiert es für sich die Anleitung zur richtigen Lebensführung und stellt „einen jeweils steigerungsfähigen Zustand, nämlich uneingeschränktes Wohlbefinden in Aussicht“ 1. Diese als Medikalisierung bekannte Ausdehnung der ärztlichen Jurisdiktion hat neue Krankheitsbilder kreiert und Märkte für neue Arzneimittel geschaffen.

Ein solches sozial iatrogenes Pharmaprodukt und dessen Erfolgskarriere, die sich diesen Trends verdankte, beschreibt die umfassende Studie von Beat Bächi. Ihr Thema ist die Herstellungs- und Vermarktungsgeschichte des Vitamin C. Der auch als Ascorbinsäure bekannte Nahrungszusatz wurde vom späteren Nobelpreisträger Tadeus Reichstein, einem Zürcher Genussmittelchemiker, der sich bereits am künstlichen Kaffee und einem „Antikotzmittel“ versucht hatte, für das Basler Pharmaunternehmen Hoffmann-La Roche 1933 künstlich hergestellt. Bald darauf stieg sie zu einer regelrechten „Volksdroge“ auf. Dies obwohl der gegen Skorbut effektivere Wirkstoff für die Industrieländer mindestens um Hundert Jahre zu spät kam. Gehörte doch damals abgesehen von Kriegszeiten die gefürchtete Seefahrerkrankheit bereits der Vergangenheit an. Nichtsdestotrotz hat das Vitamin C selbst in gegenwärtigen Überfluss- und Wegwerfgesellschaften überlebt und ist aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Der Verfasser geht der Frage nach, wie das historisch zu erklären ist. Auf verschiedenen Ebenen – der personellen, institutionellen, wissensgeschichtlichen – geht es in seinem Buch zum einen um die Genese der chemisch-biotechnologischen Reichstein-Synthese, die das Wettrennen mit Isolierungstechnologien von natürlicher Ascorbinsäure gewinnen konnte und bis heute für die Pharmaindustrie unentbehrlich bleibt. Zum anderen geht es um den Wandel des „technischen und epistemischen Zugriffs auf diesen Stoff zwischen 1933 und dem Beginn des Kalten Krieges“ (S. 10). Das Gravitationszentrum der Untersuchung bildet durchgehend die Unternehmensgeschichte von Hoffmann-La Roche. Die Erkenntnisse darüber ordnet der Verfasser aber medizin- und kulturhistorisch ein: Er vermutet, dass die Großproduktion der Ascorbinsäure mit einer Neudefinition von Gesundheit gekoppelt gewesen sei, die sich damals vom Individuum ablöste, um zu einer statistischen Größe zu werden (S. 11).

Die Darstellung beginnt mit der Einführung der industriellen Ascorbinsäure-Produktion, die insofern von Interesse ist, als dass sie chemische Teilschritte mit mikrobiologischen Fermentationstechnologien verband und so an der Schnittstelle verschiedener Wissenskulturen integrativ wirkte. Chemiker waren nicht leicht davon zu überzeugen, das es mit den Bakterien „einzellige Chemiker“ gebe, die effektiver arbeiteten als ausgebildete Laboranten (S. 82). In den ersten vier Buchkapiteln werden lizenz-, patent- und arzneimittelrechtliche Rahmenbedingungen minutiös beschrieben und das komplexe Netzwerk genau rekonstruiert, an dem sich zahlreiche Akteure und Unternehmen wie Roche, Merck, IG Farbenindustrie oder Nestlé als Partner oder Konkurrenten beteiligten. In weiteren Abschnitten kommen die Vitamin-C Produkte und Strategien von „market making“ für einen Stoff zur Darstellung, für den anfangs „weder eine medizinische Notwendigkeit, noch ein großes industrielles Interesse“ bestanden hat (S. 9).

So konnte die mit „künstlichen“ Vitaminen angereicherte Schokolade „Nestrovit“ nur mit Hilfe durchdachter Werbekampagnen sich gegen das „Prinzip des Naturprodukts“ durchsetzen. „Künstlichkeit“ wurde geschickt an die Kollektivsymbole „Männlichkeit“, „Körpermaschine“ und „wissenschaftlich-technischer Fortschritt“ geknüpft (S. 111). Der Verkaufsstart dieses zwischen Medikament und Genussartikel oszillierenden Produkts hat man auf März 1936 gelegt, um von der „Frühlingsmüdigkeit“ potentieller Kunden zu profitieren (S. 119).

Im Fall der unter dem Markennamen „Redoxon“ vertriebenen synthetischen Ascorbinsäure kam es mit dem unendlich dehnbaren Begriff der „C-Hypovitaminose“ zur Schaffung einer neuen medizinischen Indikation. Diese machte es für Roche möglich, auch das Marktsegment zwischen Krankheit und voller Gesundheit zu besetzen und „eine Brücke vom unlukrativen Skorbut hin zum vielversprechenden Kampf gegen die Ermüdung zu bauen“ (S. 145). In Werbekampagnen, die kollektive Ängste vor Degeneration und Ausartung ausnutzten und mechanistische mit protokybernetischen Metaphern kombinierten, verwandelte sich das Vitamin C in einen universellen „Katalysator“ menschlicher Aktivität, der selbst auf den Olympischen Spielen von 1936 in Berlin eingesetzt wurde, Widerstandkräfte des Körpers gegen Erkältungen, Krebs und Tuberkulöse mobilisieren sollte und ähnlich den damals populären Sexualhormonen Vitalität, Lebhaftigkeit und ewige Jugend versprach (S. 157). Ärzte mussten laut Propaganda-Abteilung von Roche „mehr Vitamine geben, bis die Gesundheit nicht mehr gesteigert werden könne“ (S. 137). Mit Hilfe eines speziell dafür entwickelten Harntests sollte die neue Krankheit für den Arzt erstens sicht- und messbar gemacht und zweitens in Hinblick auf die Gesamtbevölkerung statistisch fassbar werden.

Der Zweite Weltkrieg, dem Bächi ein spezielles Kapitel widmet, schuf europaweit ein für die Vermarktung und Veralltäglichung von Vitamin-C günstiges Klima. In der Schweiz genauso wie im „Dritten Reich“, das von Roche riesige Mengen Ascorbinsäure für die Wehrmacht bezog, wurde es als strategisch wichtige Substanz angepriesen, deren Einnahme keine Privatsache mehr, sondern eine neue „moralische Verpflichtung des Individuums gegenüber der Gesellschaft“ bedeutete (S. 214). Ein spezielles Vitamininstitut wurde gegründet und die Vitamine hielten Einzug in die Schweizerische Pharmakopöe. Gleichwohl registriert der Verfasser in seinem letzten Kapitel große Schwierigkeiten im Vitamin-C-Geschäft der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die Massenproduktion habe die Ascorbinsäure von einem Pharmazeutikum zu einer Chemikalie abgewertet, deren Bedeutung mit Verbesserung der Lebensmittellage wieder zurückgegangen war. Nichtsdestotrotz konnte die zwischen 1945 und 1948 rapide gesunkene Ascorbinsäureproduktion stabilisiert und sogar gesteigert werden (S. 223). Das Geheimnis dieser Wiederauferstehung der Ascorbinsäure-Pille sieht Bächi darin, dass es der Roche-Propaganda gelungen sei, jenen neuen leistungsorientierten Lebensstil der Epoche des Kalten Krieges für sich arbeiten zu lassen, der stark an die US-amerikanischen tayloristisch-fordistischen Ideale anknüpfte und gleichzeitig national aufgeladen war: „Im Namen des politischen Körpers mussten nun alle ‚Volksschichten‘, bei Krieg und Frieden, das Maximum aus ihren Leibern herausholen“ (S. 237). Die Leistungsdroge Vitamin C war in dieser „produktivistischen“ Atmosphäre wieder aktuell.

In seinem Fazit erklärt der Verfasser den nachhaltigen „biopolitischen Erfolg“ der Ascorbinsäure im 20. Jahrhundert mit deren grenzüberschreitendem Charakter. Als „funktionales Chamäleon“ habe diese die Grenzen zwischen Krankheit und Gesundheit, zwischen Natur und Technik, zwischen reich und arm und zwischen Stadt und Land unterlaufen. Damit sei sie zur ultimativen Selbsttechnologie aufgestiegen, die das Individuum zu einer Funktion biopolitischer Strategien machte und Techniken zur Optimierung des sozialen Körpers unterwarf (S. 247f.).

Um diese insbesondere für die Nachkriegsperiode geltende Schlussbetrachtung zu illustrieren, nimmt Bächi ein Zitat des bekannten Propagandisten der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik Gerhard Venzmer aus dem Jahr 1941 – ein Zeitsprung und Kontextwechsel, der für den methodisch-theoretischen Ansatz der Arbeit insgesamt durchaus symptomatisch ist und Fragen aufwirft (S. 247). Vermittelt sie doch die Ansicht, dass der „Wandel von der Sorge um den individuellen Körper zur Sorge um den Volkskörper“ ein auch nach 1945 fortgesetzter Trend gewesen sei, der das europäische Gesundheitswesen insgesamt auszeichnete (S. 247). Der statistische Gesundheitsbegriff, dem das Vitamin-C seinen Markterfolg verdankte, habe den „gemeinsamen epistemischen Kern der Wissensordnung“ verschiedener Gesundheitssysteme im 20. Jahrhundert dargestellt, obwohl diese im harten ideologischen Konflikt zueinander gestanden haben (S. 138).

Damit schließt sich die Studie jenen kritischen Stimmen an, die statt der historischen Brüche und nationaler Differenzen vor allem die Kontinuitäten und Gemeinsamkeiten in der Entwicklung der Medizinalsysteme und der Biomacht im 20. Jahrhundert hervorheben.2 Allerdings findet sich im Buch kaum eine Reflexion über diese in jüngster Zeit lebhaft geführte Auseinandersetzung, aktuelle Forschungsliteratur hierzu wird nicht herangezogen, obwohl gerade für die Schweiz wichtige Erkenntnisse vorliegen.3 Abgesehen von wenigen Randbemerkungen werden die „longue durée“-Aussagen weder für den jeweiligen nationalen Kontext (Schweiz und Deutschland), noch für die historischen Zäsuren 1933 und 1945 ausreichend spezifiziert. Nur beiläufig formuliert der Verfasser eine in dieser Hinsicht interessante These: Während der statistische Gesundheitsbegriff auch die Grundlage der Rassenideologie bildete, trug der Vitamin-C-Diskurs zur „milieutheoretischen Widerlegung der Eugenik“ bei, da Vitamine als Stoffe diskutiert wurden, „die geeignet waren gegen den Determinismus ererbter Gene“ zu wirken (S. 139). Ob sich diese Vermutungen so stehen lassen, sei dahin gestellt. Immerhin bot sich damit eine übergeordnete Vergleichs- und Differenzierungsebene an, die leider nicht wieder aufgegriffen wurde.

Damit hängt ein methodisches Darstellungsproblem zusammen: Leitkategorien wie Biomacht und Selbsttechnologie, Gesundheitsoptimierung und statistischer Gesundheitsbegriff werden in einem definitiv zu kurz geratenem Theorieabschnitt nicht eingeführt, sondern tauchen im Erzählfluss ohne angemessene Diskussion der einschlägigen Sekundärliteratur auf. Zudem wurde eine Reihe wichtiger konzeptioneller Bezugspunkte, die die Analyse hätten vertiefen können, nicht oder nicht wirklich berücksichtigt, obwohl sie teilweise im Literaturverzeichnis stehen (z.B. Niklas Luhmann, Jürgen Link).

Die unzweifelhaften Stärken der Studie liegen auf der mittleren und auf der Mikroebene. Die Analyse profitiert von einer dichten Überlieferungslage, zahlreiche Quellen aus dem Historischen Archiv Roche und Staatsarchiv Basel wurden erstmals ausgewertet. Der Autor geht über die Expertendiskurse hinaus und versteht es, auch populäre Formen der Wissensproduktion einschließlich der Visualisierungsstrategien mit großer Sensibilität und Sorgfalt zu analysieren. Auf diese Weise gewinnt er wichtige Erkenntnisse über die historische Semantik und Ikonographie des Vitamins C, die dessen ungebrochene Akzeptanz nachvollziehbar machen. So konnte er zeigen, wie es sich anhand von Kollektivsymbolen wie „Schmieröl“ vom Heilmittel zum „Funktionsmittel“ verwandelte und dem gefährlichen Ruf entging, „Doping“ zu sein, oder wie durch das Sinnbild des „reinen Kristalls“ sich die Wahrnehmungsdichotomie zwischen „künstlichen“ und “natürlichen“ Vitaminen auflöste.

Das Buch beschreibt im flüssigen Stil einen idealtypischen Fall für die gesellschaftliche Konstruktion der Krankheit und empfiehlt sich jedem, der sich für die Medikalisierungsprozesse im 20. Jahrhundert interessiert. Der Monographie liegt eine Promotion an der ETH Zürich zugrunde, die 2009 von der Schweizerischen Gesellschaft für die Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften mit dem Henry-E.-Sigerist-Preis ausgezeichnet wurde.

Anmerkungen:
1 Niklas Luhmann, Anspruchsinflation in Krankheitssystem. Eine Stellungnahme aus gesellschaftstheoretischer Sicht. In: Philipp Herder-Dorneich / Alexander Schuller (Hrsg.), Die Anspruchsspirale. Schicksal oder Systemdefekt? Stuttgart 1983, S. 32f.
2 Vgl. unter den neueren Publikationen z.B. Maria Andrea Wolf, Eugenische Vernunft. Eingriffe in die reproduktive Kultur durch die Medizin 1900-2000, Wien 2008.
3 Vgl. Thomas Huonker, Diagnose: „moralisch defekt“. Kastration, Sterilisation und Rassenhygiene im Dienste der Schweizer Sozialpolitik und Psychiatrie 1890–1970, Zürich 2003; Jacques Gasser, Rejetées, rebelles, mal adaptées. Débats sur l’eugenisme. Pratiques de la stérilisation non volontaire en Suisse romande au XXe siècle, Genf 2002.

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