Religion, Moderne und Revolution in Russland um 1900

: Working Souls. Russian Orthodoxy and Factory Labor in St. Petersburg 1881-1917. Bloomington 2007 : Slavica Publishers, ISBN 978-0-89357-339-3 290 S. € 27,99

: Holy Fathers, Secular Sons. Clergy, Intelligentsia, and the Modern Self in Revolutionary Russia. DeKalb 2008 : Northern Illinois University Press, ISBN 978-0-875-80380-7 288 S. € 30,99

: His Kingdom Come. Orthodox Pastorship and Social Activism in Revolutionary Russia. DeKalb 2008 : Northern Illinois University Press, ISBN 978-0-875-80382-1 x, 297 S. € 36,99

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Walter Sperling, Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum

Historiker, die von dem einen Weg in die Moderne sprachen, hatten die Orthodoxie als prägenden Faktor für Russlands „Sonderweg“ im Blick. Der orthodoxe Glaube erklärte ihnen, warum die Fortschrittsidee in Russland anders als in Europa lange keine Fürsprecher fand. Der Verweis auf die bärtigen Popen half, die Stagnation und den Widerstand zu verstehen, auf den die Aufklärung im Zarenreich stieß. Zugleich wurde die Orthodoxie (und das ihr innewohnende manichäische Weltbild) als Erklärung für die Radikalität herangezogen, mit der die Intelligenzija im 19. Jahrhundert die Autokratie und andere „Feinde“ bekämpfte. Religion wurde in Russland somit für die Langsamkeit und Intoleranz der einen und die Ungeduld und Kompromisslosigkeit der anderen verantwortlich gemacht.1

Drei jüngst erschienene Monographien fassen Religion im Zarenreich neu. Sie interessieren sich dafür, wie sich das „heilige Russland“ änderte, als es mit der Moderne in Berührung kam. Dabei werfen sie die alten Säkularisierungsthesen über Bord, suchen demnach nicht nach Verdrängungsgeschichten, sondern fragen, wie religiöse Vorstellungen und Institutionen der Orthodoxie die Erfahrungen des In-der-Welt-Seins mitprägten.2

„Working Souls“ - Missionierung der Arbeiter

In ihrem Buch rückt Page Herrlinger die innere orthodoxe Mission ins Zentrum. Ihr Fokus liegt auf St. Petersburg, wo der Staat, die Gesellschaft, aber auch die Kirche in besonderer Weise vor Herausforderungen der Industrialisierung, Urbanisierung und der „Arbeiterfrage“ standen. Herrlinger interessiert sich nicht nur für Institutionen, Politiken und Programme der 1881 gegründeten „Gesellschaft zur Verbreitung religiöser Aufklärung im Geiste der Orthodoxie“. Stattdessen fragt sie nach den Selbstverständnissen der „arbeitenden Seelen“: der Geistlichen und der Fabrikarbeiter. Die Erfahrungen, die die Kleriker und Bauern-Arbeiter in Petersburg mit Armut und Protest, Religion und Revolution, Bildung und Konsum machten, stellten traditionelle Identitäten in Frage. Die industrielle Metropole war daher Katalysator der ungläubigen und neugläubigen Moderne. Zugleich diente Petersburg gewissermaßen als ein Transmissionsriemen dieser Moderne, denn die meisten Arbeiter blieben Bauern und verließen die Stadt nach wenigen Monaten oder Jahren wieder. Wenn sie sich in Petersburg Gott ab- oder aufs Neue zuwandten, so hatte dies auch Folgen für ihre bäuerliche Lebenswelt.

Die fünf Kapitel dieses Buches behandeln jeweils getrennt die Missionierungspolitik und die Selbstverständigungsprozesse der Geistlichen sowie der Arbeiter. Lediglich das zweite Kapitel, „Icons on the Factory Floor“, bricht die Zweigliedrigkeit auf, um den neuen Alltagsraum der Arbeiter in den Fabriken und Slums zu beschreiben. Die innere Mission war vor allem eine Reaktion der jungen, ambitionierten Geistlichen auf den „gottlosen“ Lebenswandel der Bauern-Arbeiter in der Metropole. Andererseits drängten konkurrierende „Seelenfänger“ die Kirchenleute zum Handeln: die Sozialisten und die Evangelikalen wie etwa die „Paschkowzy“. Aus der Sicht der Geistlichen war die Stadt voller „verlorener Seelen“, die sie durch Predigt und Erbauung in den Schoß der Kirche zurückführen wollten.

Die Geistlichen haben sich vor allem der Trunksucht angenommen, die sie als das „Grundübel“ der Stadt schlechthin betrachteten. Im Unterschied zur Intelligenzija machten sie weder die bestehenden Verhältnisse noch die Arbeitsbedingungen oder das Fehlen von „Kultur“ dafür verantwortlich. Vielmehr sahen sie die Ursache in den Gläubigen selbst, ihrer mangelnden moralischer Gewissheit. Sie gründeten die „Alexander-Newskii-Abstinenzgesellschaft“, die Teestuben und Bibliotheken einrichtete, Erbauungsliteratur verteilte und Wallfahrten zu heiligen Stätten organisierte. Damit schufen die Geistlichen nicht nur sinnvolle Freizeitangebote, sondern vermittelten geistige Orientierung. Herrlinger hebt hervor, dass vor allem die Abstinenzbewegung innerhalb der Unterschichten auf hohen Zuspruch stieß.

Diesen Zuspruch der Arbeiter will Page Herrlinger nicht allein anhand von Besucherzahlen von Gottesdiensten und Vortragsabenden fassen. Vielmehr möchte sie zeigen, auf welche Weise einzelne Menschen sich Glaubenssätze aneigneten oder Vorstellungen der Orthodoxie verwarfen. Dabei nimmt sie Selbstzeugnisse von drei Männern und einer Frau in den Blick, die ihre alte religiöse Identität ablegten und Baptisten, Sozialisten oder orthodoxe Eiferer wurden. Vor allem im Hinblick auf den Schlosser Schapowalow leuchtet Herrlingers Metapher von Petersburg als einem „aufstrebender Marktplatz“ (S. 115) religiöser Ideen ein. Schapowalow war in seiner Jugend gewöhnlicher Trinker, schloss sich aber später der Abstinenzbewegung an und suchte fortan, Nachbarn und Kollegen davon zu überzeugen, ein gottgefälliges Leben zu führen. Doch von der Kirche wurde Schapowalow bald enttäuscht. So wandte er sich von der Orthodoxie ab und den radikalen Revolutionären zu, eignete sich nach und nach ein materialistisches Weltbild an.

Die Konversionen mögen spannend sein. Doch es stellt sich die Frage, ob hier nicht ein anderer Weg hätte eingeschlagen werden müssen. Statt Säkularisierungsgeschichten wie die von Schapowalow zu beschreiben, hätten Lebensläufe präsentiert werden müssen, die zeigen, wie Menschen in der Stadt die Orthodoxie trotz oder vielleicht wegen der Zweifel für sich neu entdeckten.

Überzeugender ist das Folgekapitel, in dem die Autorin zeigen kann, auf welche Weise die Geistlichen um 1900 durch Streiks der Arbeiter herausgefordert wurden. Die biblische Geschichte vom armen Lazarus, der für seine Entbehrungen im Jenseits belohnt wird, konnte die Arbeiter immer weniger überzeugen. Und auch viele Geistliche begannen zu begreifen, dass mit Predigt und Gebet den Leidenden und Fordernden nicht mehr zu helfen war. Es war bekanntlich der junge Priester Georgii Gapon, um den sich die Arbeiter scharten. Denn er sprach mit ihnen über die fehlende „Gerechtigkeit“ in einer kapitalistischen Stadt. Ähnlich wie die Anführer der Arbeiterbewegung wurde Gapon angetrieben von den Forderungen der Arbeiter nach mehr Engagement. Schritt für Schritt sei Gapon in seine neue Rolle als politischer Fürsprecher der Armen hineingewachsen, betont Herrlinger. Die fatale Prozession zum Zaren, die Gapon am 9. Januar 1905 anführte, sollte jedoch den Geistlichen umso mehr eine Lehre sein. Während sie haderten und ermahnten, wurden sie von denen abgehängt, die zum Straßenkampf aufriefen.

Auch wenn die These von der Aushölung der Orthodoxie als tragender Säule der Autokratie einleuchtet, vermag die Darstellung von Herrlinger nicht immer zu überzeugen. Das Buch leidet daran, dass die Autorin keine konzise Abhandlung der orthodoxen Mission in St. Petersburg liefern möchte, sondern am Beispiel der Hauptstadt generelle Aussagen über die Geistlichen und die Arbeiter im ausgehenden Zarenreich trifft. Daher ist sie gezwungen, auszuholen und Altbekanntes nachzuerzählen.3 Dies macht ihren Text zäh. Die schwerfällige Beschreibung verwischt die Konturen des Arguments. Eine klar formulierte eigene Position wäre aber erforderlich, sind doch in den letzten Jahren einige Arbeiten erschienen, die sich mit ähnlichen Fragen auseinandersetzen.4

Orthodoxie und soziale Bewegung

Auch Jennifer Hedda interessiert sich in ihrem Buch für die Geistlichen und die soziale Bewegung in Sankt Petersburg. Bedenken, warum wieder Petersburg und nicht irgendeine andere Diözese des Reiches als „Laboratorium der Moderne“ herhalten muss, vermag die Autorin rasch auszuräumen. Die Geistlichen Petersburgs waren im Vergleich zu denen der Provinzen besser gebildet und wurden einem härteren Ausleseverfahren unterzogen. Nahezu alle Gemeindepriester hatten die Petersburger Geistliche Akademie abgeschlossen. Sie verstanden sich als „moderne“ Geistliche, die sich nicht aufs Rezitieren von Psalmen verließen, sondern aktiv christliche Aufklärung betreiben wollten.

In den ersten drei Kapiteln führt Jennifer Hedda in das institutionelle Arrangement der orthodoxen Kirche ein, beschreibt die Petersburger Geistliche Akademie und zeichnet nach, wie sich das darin gelehrte Ideal des Geistlichen wandelte. Der „gute Hirte“ sollte sich nicht allein im Bereich des Sakralen auskennen, sondern sich in der Welt bewegen. Wie ein Arzt sollte er „Krankheiten“ frühzeitig erkennen und bekämpfen. Er sollte nicht allein das Heilige im Ritual verkörpern, sondern überzeugen - in der Predigt und im Gespräch. Inwieweit die neue Generation der Geistlichen von Laien unterstützt wurde, beschreibt Hedda am Beispiel der kirchlichen Wohlfahrt. Dabei gelingt es ihr im Unterschied zu Herrlinger, das Phänomen als Ganzes zu fassen und sowohl die Gesellschaft für religiöse Aufklärung als auch die berühmte Alexander-Newskii-Abstinenzgesellschaft in eine breite Entwicklung einzuordnen. Zu Recht weist die Autorin darauf hin, dass die Zivilgesellschaftsforschung dieses soziale Handlungsfeld übersehen hat (S. 74). Spannend ist die Beobachtung, dass Nordamerika auch innerhalb der orthodoxen Geistlichkeit als Referenzpunkt zu gelten begann. Der Blick über den Ozean zeigte, dass eine Trennung zwischen Sakralem und Säkularem nicht notwendig sei.

Hedda erzählt allerdings keine Erfolgsgeschichte, sondern fragt, wie das soziale Engagement das Selbstverständnis der Geistlichen veränderte. Dies ist umso wichtiger, als die kirchliche Wohltätigkeit die Armut in Petersburg nicht zu lindern und die Gewalt der Unterschichten nicht in den Griff zu bekommen vermochte. Den Wandeln im Selbstverständnis vollzieht die Autorin nicht wie Herrlinger anhand des „Diskurses“ nach, sondern am Beispiel von Biographien zweier exponierter Geistlicher – den Priestern Georgii Petrow und Gapon. Beide verkörpern eine junge Generation, beide waren begnadete Prediger und beide forderten die Kirche auf, die säkulare Welt aktiv mitzugestalten. Mit ihren Forderungen, das „Reich Gottes“ bereits im Diesseits anzustreben, standen sie jedoch nicht allein. Die Gewissheit, mit der sie ihre Sicht anderen kundtaten, entsprach dem Tonfall der Revolutionäre und Reformer im krisengeschüttelten Fin-de-Siècle. Doch im Unterschied zu anderen Geistlichen gingen Petrow und Gapon zu weit und wurden dafür aus der staatlich verwalteten Kirche verstoßen.

Bei Hedda stellt sich ebenso wie bei Page Herrlinger die Frage, warum derart prominente Persönlichkeiten ein weiteres Mal als Beispiele herhalten müssen. Doch die Autorin weist darauf hin, dass es eben diese Persönlichkeiten waren, die den Klerikern in der Revolution von 1905 als Leitbilder dienten. Selbst als Unruhen das ganze Land erfasst hatten, zögerten die meisten Geistlichen Petersburgs, die Worte Petrows und die Taten Gapons grundsätzlich zu verdammen. Während die Gemäßigten unter ihnen die Reform der Kirche und ihre Loslösung von der Oberaufsicht des Staates forderten, schlossen sich junge Priester zu einer Gruppe zusammen, die die grundsätzliche Erneuerung von Kirche und Gesellschaft forderte. Hedda stellt heraus, dass es vor allem ihre Stimmen waren, die dem Zaren zunächst eine Reformbereitschaft abpressen konnten. Später, als die Erneuerer die Nähe zur Duma und somit zur Politik suchten, waren die Radikalen ein Anlass dafür, alle „ungehorsamen“ Priester an die Kandare zu nehmen. Wer bei den staatlichen „Säuberungen“ in Amt und Würden blieb, zog sich zurück, um aber die Stimme nach der Februarrevolution 1917 mit noch mehr Nachdruck zu erheben.5 Doch zu dem Zeitpunkt war die Chance auf friedliche und moderate Erneuerung, so Hedda, längst vertan.

Diese Monographie hebt sich zwar deutlich und positiv von der Studie Page Herrlingers ab, doch in den letzten beiden Kapiteln verliert sie ihren Reiz. Angekündigt war eine Kollekitvbiographie der Geistlichen im Zeitalter der Revolution. Konzise Zusammenfassungen von Ereignissen, Positionen und Reaktionen bilden jedoch nur eine grobe Annäherung an das angekündigte Genre. So finden wir dort nichts darüber, welche Erfahrungen die Priester machten, während sie den Menschen auf den Barrikaden Trost zusprachen. Dieses Buch vermittelt uns keinen Eindruck davon, wie die Priester in verzweifelte oder wütende Gesichter schauten, nach Worten suchten und keine fanden. Oder wie die Lebenswege der Geistlichen sich trennten, weil die einen wie die Sozialisten die Umverteilung des Eigentums forderten und die anderen Pogromtäter salbten. Vor allem das letzte Kapitel, „The Decade of Despair“, lässt den Leser verzweifeln. Man muss der Autorin vorwerfen, ihr sozial- und kulturhistorisch ambitioniertes Unterfangen ende als eine bodenständig-bescheidene Kirchengeschichte. Nicht Memoranden, sondern Erinnerungen, Tagebücher, Briefe, Fotografien, kurzum Selbstzeugnisse hätte die Historikerin ausfindig machen und zum Sprechen bringen müssen.

„Holy Fathers, Secular Sons“ - Russlands zweite Intelligenzija

Auf Selbstzeugnissen beruht hingegen das Buch von Laurie Manchester, das die Fremd- und Selbstbilder der Priester und, vor allem, der Priestersöhne untersucht. Die Arbeit will jedoch mehr sein als eine Wahrnehmungsgeschichte. Der Autorin geht es um nicht weniger als die russische Intelligenz. Wenn Marc Raeff die Ursprünge der Intelligenzija in Russlands aufgeklärtem Adel ausgemacht hat 6, so will Laurie Manchester diese Vorstellung von der genealogischen Einheit der Geistes- und Bildungselite aufbrechen. Sie möchte zeigen, dass die Priestersöhne („popowitschi“) seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine Intelligenzija herausbildeten, die andere Verhaltenskodizes kultivierte als der Adel. Der gebildete Adel schielte gen Westen, um sich seiner selbst zu vergewissern. Dies taten nicht nur die Westler unter ihnen, sondern auch die Slawophilen. Die Geistlichensöhne hingegen hätten ihr Selbstverständnis aus den religiösen Wertvorstellungen ihrer Väter geschöpft. Sie hätten sich, betont die Autorin, nicht einer westlichen Säkularisierung ergeben, sondern orthodoxe Anschauungen in die säkulare Welt hineingetragen. Nicht „eine“ Geschichte der russischen Intelligenzija wäre demnach zu erzählen.7 Vor allem der zweite Strang der Intelligenz, spitzt Laurie Manchester zu, entspringe „mehr der russischen als der westeuropäischen Kultur“ (S. 13).

Die Autorin geht einerseits sozialhistorisch vor, indem sie die Geistlichen und ihre Nachkommen aus der Ständeordnung des Zarenreiches heraus begreift. Denn anders als im Protestantismus rekrutierten sich die Priester in der Orthodoxie nicht aus einer breiten Elite, sondern bildeten seit dem 17. Jahrhundert einen geschlossenen Stand. Selbst nachdem die ständischen Barrieren zu Beginn der Großen Reformen gelockert wurden, blieben die Geistlichen in Russland unter sich. Doch nicht nur Provenienz ist Laurie Manchester wichtig, sondern auch die Räume wie Familien, Kirchenschulen und Priesterseminare (duchovnaja seminarija), in denen die Popensöhne ähnliche Erfahrungen machten. Zugleich nimmt die Autorin die Vorstellungen ernst, die andere an die Söhne der Geistlichen herangetragen haben. Die Repräsentationen sind der Autoren wichtig, daher beginnt sie ihr Buch mit zwei Kapiteln zu den Sichtweisen der Adelsintelligenzija auf die Geistlichen und den Vorstellungen, die sich die „popowitschi“ und ihre Väter von anderen Gesellschaftsgruppen machten.

Seitdem die Söhne der Geistlichen ab Mitte des 19. Jahrhunderts in säkulare Berufe und vor allem in die publizistische Öffentlichkeit drangen, setzte sich die „edle“ Intelligenzija gegen sie zur Wehr. Für sie verkörperten die Priestersöhne nicht nur die Unkultur. Vielmehr erschienen die „popowitschi“ ihnen als unbelehrbare Wesen. Daher schrieben sie ihnen beinahe rassistische Züge zu, stempelte sie als eine körperlich missratene, übel riechende und intellektuell bornierte „Spezies“ (S. 27) ab. Während die Adligen sich selbst als Kinder von Vernunft und Kritik entwarfen, beschrieben sie die Geistlichen und ihre Söhne als stupide Scholastiker, die in den Priesterseminaren nicht das Räsonieren, sondern das Polemisieren gelernt hätten. Jegliche weltliche Ästhetik sei ihnen fremd. Sie prangerten die Kunst als Verschwendung an, verdammten den Genuss, predigten die Askese. Zwar wurde diese Sichtweise während der Hochzeit der Volkstümlerbewegung in den 1870er-Jahren von einem positiven Bild zurückgedrängt. Den Populisten erschienen Priestersöhne als Vertreter des Volkes. Doch die antiklerikalen Stimmten blieben in der Öffentlichkeit stark genug und haben sogar mit der Konjunktur des Marxismus in den 1890er-Jahren einen neuen Auftrieb gewonnen.

Der Missmut der Adelselite führte indessen nicht dazu, dass die Geistlichen und ihre Söhne sich einer Assimilierung unterwarfen. Eindrücklich schildert die Autorin, wie ein Popensohn und später Arzt 1864 auf einen Adelsball geriet und dabei weder tanzen noch Konversation in Französisch, Englisch oder Deutsch betreiben konnte. Als die Gäste begannen, sich über sein mit lateinischen Sprichwörtern durchsetztes Russisch zu amüsieren, suchte er die Rettung in der Flucht. Doch statt die Schuld für die erlebte Peinlichkeit bei sich selbst zu suchen, zog Alexander Zwetkow es vor, sich über die unehrwürdigen Adligen zu echauffieren (S. 38f.). Dieses Beispiel sei, so Laurie Manchester, symptomatisch. Statt sich dem Ethos der noblen Intelligenzija zu beugen, betrachteten die Geistlichen und ihre Söhne die Adligen als Sünder, vor deren schädlichem Einfluss sie die Bauern und die russische Nation bewahren wollten. Ihrer Meinung nach hätten sie als einziger Stand die moralische Berechtigung, für Russland zu sprechen.

Die Stärke dieser Studie liegt darin, dass die Autorin zeigen kann, wie die Geistlichen unter den neuen Kommunikationsbedingungen der Moderne sich auf ein neues Ideal des Priestertums verständigten; und wie die darin enthaltenen Werte von den Priestern unter anderem in Briefen an ihre Söhne weitergegeben wurden. Die Tradierung des priesterlichen Ethos ist dabei weder selbstverständlich noch banal. Denn Manchester kann an biographischen Situationen deutlich machen, inwiefern die Ratschläge, die Schelte und Ermutigungen der Priesterväter den Söhnen halfen, in der städtischen Fremde nicht zu verzweifeln.

Überhaupt, argumentiert die Autorin, habe es innerhalb der Geistlichkeit keinen Generationenkonflikt zwischen den „Vätern und Söhnen“ gegeben. Konflikte, wie Iwan Turgenew sie für den Adel beschrieben hat, blieben bei den „popowitschi“ aus. Selbst Söhne, die sich wie der berühmte Psychologe und Popensohn Iwan Pawlow in radikaler Weise der Wissenschaft zuwandten, verband mit ihren Vätern mehr als sie getrennt hätte. Nicht zuletzt deshalb bemühten sie sich, in ihren Autobiographien die Genealogie ihrer Geistlichenfamilie möglichst weit zurück zu verfolgen. In diesen Narrativen war ihnen nicht ein säkularer Onkel, sondern ihre gottesfürchtigen Väter und Großväter wichtig (S. 96).

Laurie Manchester wird nicht müde zu betonen, dass die Säkularisierung der Popensöhne keinen Bruch darstellte, sondern eine Überführung von orthodoxen Vorstellungen in den säkularen Bereich. Dies deutet sie aber nicht als Zeichen von Rückständigkeit. Vielmehr hebt sie hervor, dass die Popensöhne zu einem Selbstverständnis als modernem Mann gefunden hätten, einem Mann, der nicht mehr aufs Sosein vertraut, sondern selbstbewusst Entscheidungen trifft und davon überzeugt ist, dass er die Welt zu verändern vermag. Während die Adelsintelligenzija vom Anschluss Russlands an Westeuropa bzw. von Russland als einer Alternative zum Westen träumte, setzten sich die Geistlichensöhne ein viel höheres Ziel, denn was sie wollten, war der „Himmel auf Erden“. Interessant ist dabei, dass nur eine kleine Minderheit unter ihnen diese Ziele durch ein Engagement in radikalen Parteien wie überhaupt in der Politik verwirklichen wollte. Der ungehaltene Seminarist mit Bakunin unterm Arm und einem Browning in der Tasche war eine Chimäre der liberalen Intelligenzija. Stattdessen suchten die Popensöhne nach „Erlösung“ in säkularen Berufen, Bildung, Medizin, Wissenschaft, wo sie „ihrem“ Volk dienen konnten. Oder sie strebten nach Vollkommenheit in ihren eigenen Familien, in denen sie ihre Wertvorstellung an ihre Kinder weitergaben.

Diese Studie wäre ein ganz wunderbares Buch, wenn nach der Lektüre nicht die Frage stehen bliebe, inwieweit nicht erst die gesetzte Dichotomie Adelsintelligenzija vs. „popowitschi“ die Einheit der zweiten, der „alternativen“ Intelligenzija in Russland hervorbringt. Könnte man nicht jenseits der Genealogie auch davon ausgehen, dass Ideen zirkulieren, Lebenswege sich kreuzen und die Aneignung auf unterschiedlichen Wegen erfolgt? Auch die Frage nach der Authentizität (im weiteren Sinne) der Selbstzeugnisse wird nicht beantwortet. Zur Politik der teils gezielten Archivierung der Autobiographien weiß die Autorin nichts zu berichten. Man könnte daher meinen, dass die „popowitschi“ mit der Studie von Laurie Manchester und der ihnen darin zugesprochenen Bedeutung für die russische Intelligenzija sehr zufrieden wären, denn diese Arbeit stellt sie so dar, wie sie selbst gesehen werden wollten. Auch bei der liberalen Intelligenzija hätte diese Studie Zuspruch gefunden. Denn ungeachtet der Ergebnisse der neueren Gewaltforschung, die von Eigendynamiken der Revolution und ihrer Gewalt ausgeht 8, kommt die Autorin zum ideengeschichtlichen Schluss: „Popovichi’s ethos can be linked to the potential for violence beyond their radical utopianism.“ (S. 214) Die Selbstgewissheit, Kompromisslosigkeit und Entschlossenheit, die die Priestersöhne in Russland kultiviert hätten, seien demnach nichts anderes als „Vorboten“ der Tragödie gewesen, die 1917 ihren Anfang nahm (S. 215). Doch Russlands Tragödie, dies wäre mit Page Herrlinger in Erinnerung zu rufen, hat wesentlich früher und aus ganz anderen Gründen begonnen.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Leonid Heretz, Russia on the Eve of Modernity. Popular Religion and Traditional Culture Under the Last Tsars, Cambridge 2008.
2 Vgl. auch Laura Engelstein, Castration and the Heavenly Kingdom. A Russian Folktale, Ithaca 1999; Mark D. Steinberg / Heather J. Coleman (Hrsg.), Sacred Stories. Religion and Spirituality in Modern Russia, Bloomington 2007; Robert H. Green, Bodies Like Bright Stars. Saints and Relics in Orthodox Russia, DeKalb 2010.
3 Nachzulesen bei Vera Shevzov, Russian Orthodoxy on the Eve of Revolution, New York 2000; Valerie A. Kivelson / Robert H. Greene (Hrsg.), Orthodox Russia. Belief and Practice under the Tsars, University Park 2003; Edward Roslof, Red Priests. Renovationism, Russian Orthodoxy, and Revolution. 1905-1946, Bloomington 2002.
4 Nadieszda Kizenko, A Prodigal Saint. Father John of Kronstadt and the Russian People, University Park, PA 2000.
5 Vgl. Pavel G. Rogosnyi, Zerkownaja rewoljuzija 1917 goda. Wysschee duchowenstwo Rossiiskoi Zerkwi v bor’be za wlast’ v eparchijach posle Fewral’skoi rewoljuzii, St. Petersburg 2008.
6 Marc Raeff, The Origins of Russian Intelligentsia. The Eighteenth-Century Nobility, New York 1966. Auch: Jurij M. Lotman, Rußlands Adel. Eine Kulturgeschichte von Peter I. bis Nikolaus I., Köln 1997.
7 Vgl. die jüngst unternommene Synthese von Denis Sdvižkov, Das Zeitalter der Intelligenz. Zur vergleichenden Geschichte der Gebildeten in Europa bis zum Ersten Weltkrieg, Göttingen 2006, v.a. S. 162f.
8 Vgl. etwa Peter Holquist, Violent Russia, Deadly Marxism? Russia in the Epoch of Violence. 1905-1921, in: Kritika 4 (2003), S. 627-652.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Weitere Informationen
Working Souls
Sprache der Publikation
Holy Fathers, Secular Sons
Sprache der Publikation
His Kingdom Come
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension