G. Ambrosius: Liberale vs. institutionelle Integration

Cover
Titel
Liberale vs. institutionelle Integration von Wirtschaftspolitiken in Europa. Das 19. und 20. Jahrhundert im systematischen und historischen Vergleich


Autor(en)
Ambrosius, Gerold
Reihe
Schriftenreihe des Instituts für Europäische Regionalforschungen 12
Erschienen
Baden-Baden 2009: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
243 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mark Spoerer, Deutsches Historisches Institut Paris

Hinter dem sperrigen Titel verbirgt sich ein interessantes Buch, dessen Anliegen nicht ganz einfach zu erläutern ist. Unter Integration versteht Ambrosius die sukzessive Annäherung bzw. Verschmelzung nationaler Wirtschaftspolitik(en). Thematisch geht es dabei um folgende Felder der Wirtschafts- und Sozialpolitik: Außenhandel, Binnenmarkt, Verkehr, Maße und Gewichte, Patentwesen, Wirtschaftsstruktur, Wettbewerb, Geld und Währung, Arbeit und Soziales sowie Steuern. Räumlich unterscheidet er die deutschen Staaten bzw. Reich und Bundesrepublik einerseits sowie Europa andererseits, wobei die Staaten hinter dem „Eisernen Vorhang“ komplett ausgeblendet bleiben. Zeitlich schließlich interessiert sich Ambrosius für zwei Vergleichszeiträume von etwa 1830 bis 1914 und von der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1951 bis heute. Das gute Jahrhundertdrittel von 1914 bis 1951 und im Falle Osteuropas auch der Zeitraum nach 1951 bleibt vollständig außen vor.

Konzeptionell unterscheidet Ambrosius nicht-kooperative und kooperative Politikintegration. Letztere vollzieht sich nach bi- oder multilateralen Verhandlungen in gemeinsamen institutionellen Arrangements, etwa die Vereinheitlichung technischer Standards oder die Aufgabe nationaler Souveränität in bestimmten Bereichen zugunsten einer gemeinsamen supranationalen Institution wie etwa der Europäischen Gemeinschaft. Nicht-kooperative Politikintegration kann verschiedene Wege gehen. Ein Beispiel ist die Umstellung der nationalen Währung auf Goldbasis und die Teilnahme am System des internationalen Goldstandards, die keinerlei internationaler vertraglicher Bestimmungen bedurfte. Ein anderes Beispiel wäre Steuerwettbewerb, wenn also etwa Staaten die Belastung durch die Körperschaftsteuer senken, um Unternehmen zu attrahieren, was letztendlich zu einem „race to the bottom“ führen kann. Im einen wie im anderen Fall arbeiten die Akteure nicht miteinander oder sogar gegeneinander.

Nicht-kooperative Politikintegration ist schwierig zu identifizieren – eben weil es keine Verhandlungen und keine gemeinsamen institutionellen Arrangements gibt. Ambrosius’ Ausführungen sind hier eher vage, zumal er die Ergebnisse der quantitativen Wirtschaftsgeschichte, die hier hilfreich sein könnten, nicht referiert.1 Der Schwerpunkt seiner Darstellung liegt vielmehr auf der kooperativen Politikintegration. Im Vergleich der von ihm ausgewählten Zeiträume treten deutliche Unterschiede zu Tage. Vereinfacht zusammengefasst zeichnet sich die Politikintegration im 19. Jahrhundert durch eine starke intergouvernementale Komponente aus, während sich supranationale Elemente erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts feststellen lassen. Die jeweiligen Konvergenzprozesse charakterisiert Ambrosius im Titel mit „liberal“ und „institutionell“, zwei Adjektive, deren semantische Grenzen nicht trennscharf sind, aber vielleicht auch nicht sein sollen.

Die Stärke des Buchs liegt in dem systematischen Zugriff, der bekannte Fakten in einen neuen Zusammenhang und auf ein höheres Abstraktionsniveau bringt (vgl. vor allem die sehr gelungenen Synthesen auf S. 137-142 und 223-230). Ambrosius zeichnet sich durch breite Kenntnisse des institutionellen Wandels in den europäischen Ländern aus, verwendet jedoch keine Fußnoten und ist sparsam mit Literaturverweisen, so dass es als Leser schwer fällt, die geweckte Neugier zu befriedigen. Der Abschnitt über politikwissenschaftliche Integrationstheorien (S. 57-63) ist extrem dicht geschrieben und hat, ebenso wie die Formulierung „Tendenz der reregulativen [sic] Konvergenz“ (S. 40), das Auffassungsvermögen des Rezensenten überfordert.

Abschließend wäre zu fragen, ob die Darstellung gewonnen hätte, wenn Ambrosius auch die Phasen wirtschaftspolitischer Divergenz in den Blick genommen hätte. In den 1930er-Jahren etwa wurde der Übergang von Freihandel zur Autarkie vielfach nicht als Rück-, sondern als Fortschritt empfunden. Ohne dass sie es so ausdrückten, sahen sich nationalsozialistische oder faschistische Wirtschaftspolitiker ganz sicher im wirtschaftspolitischen Systemwettbewerb mit dem verhassten „liberalistischen System“. Durch die Fokussierung auf die erste und zweite Globalisierung, also ausgeprägt kapitalistische Perioden, beraubt sich Ambrosius potenzieller Vergleichsmöglichkeiten. Diese hätten insbesondere auch ermöglichen können, über die – vorbildlich strukturierte – Deskription hinaus stärker auf die Ursachen einzugehen, die wirtschaftspolitische Konvergenz oder Divergenz vorantrieben. Solche Fragen kann man aber erst stellen, nachdem man viel aus diesem Buch gelernt hat, und sie sind vielleicht eine Anregung für das nächste.

Anmerkung:
1 Stellvertretend etwa Kevin H. O’Rourke / Jeffrey G. Williamson, Globalization and History. The Evolution of a Nineteenth Century Atlantic Economy, Cambidge/Mass. 1999. Vgl. außerdem zum Steuerwettbewerb Mark Hallerberg, Tax Competition in Wilhelmine Germany and its Implications for the European Union, in: World Politics 48 (1996), S. 324-357. Bei Ambrosius beschränken sich die Ausführungen zur Integration der Steuerpolitik im 19. Jahrhundert ausschließlich auf die Zuckersteuer (S. 133-135).

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch