B. Ziemann: Sozialgeschichte der Religion

Titel
Sozialgeschichte der Religion. Von der Reformation bis zur Gegenwart


Autor(en)
Ziemann, Benjamin
Reihe
Historische Einführungen 6
Erschienen
Frankfurt am Main 2009: Campus Verlag
Anzahl Seiten
189 S.
Preis
€ 16,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Großbölting, Historisches Seminar / Exzellenzcluster „Religion und Politik“, Universität Münster

„Religion [ist] wieder en vogue.“ (S. 7) Der vorzustellende Band zur „Sozialgeschichte der Religion“ bedarf nicht vieler Worte, um für sich und sein Anliegen zu werben: Wie selten zuvor werden religiöse Phänomene und Ereignisse selbst im weitgehend entkirchlichten Westeuropa wahrgenommen und diskutiert. Neben diesen neuen Formen der „public religion“ aber wird ein weiterer Trend ebenfalls überdeutlich: Zumindest in dieser Weltreligion ist der Verlust von Bindung an die traditionellen Formen von organisierter Religion unübersehbar und scheint zudem unumkehrbar. Die feuilletonistische Formel von der „Wiederkehr der Götter“, mit der die verstärkte öffentliche Präsenz der Religion beschrieben wird, kleistert so die widersprüchlichen Phänomene eher mit einem einheitlichen Etikett zu, als dass sie diese tatsächlich luzide beschreibt und analytisch erklärt. Klarer sähe man schon dann, wenn man konsequent zwischen einem Sprechen aus dem Glauben heraus und einem Sprechen über religiöse Gehalte und Praktiken unterschiede. Ein Teil dieses neuen Interesses an der Religion ist deren breite wissenschaftliche Thematisierung. Was jahrzehntelang in mancher Disziplin als wenig attraktives Thema galt, rückt nun seit geraumer Zeit wieder stärker in den Fokus – eine Tendenz, die nicht zuletzt durch die Vielzahl von Forschungsverbünden illustriert wird, die sich dieses Themas in allen möglichen Zugriffen annehmen.

Die dabei zu beobachtende methodische und konzeptionelle Pluralität ist sicher zu begrüßen, gilt dem Autor aber auch als Grund zu der Befürchtung, dass „Religion wiederum […] nur als ein abgeleitetes Phänomen behandelt wird, das andere Probleme erhellt, aber nicht in seiner eigenen Wertigkeit als relevant erscheint.“(S. 8) Dem hält Benjamin Ziemann seine Perspektive entgegen und wirbt für die Religion als „Thema einer erneuerten Sozialgeschichte“. Diese profiliert er vor allem aus zwei Richtungen: Einerseits grenzt er sie von einem theologisch-kirchenhistorischen Zugriff ab, welchen er durch eine „heilsgeschichtliche Perspektive“, „konfessionelle Separierung“ und enge „methodische Grenzen“ (S. 13-16) charakterisiert sieht. Dann verortet er seinen sozialgeschichtlichen Ansatz in der um die Jahrtausendwende so heftig geführten Diskussion zwischen Vertretern der klassischen Sozialgeschichte Bielefelder Provenienz einerseits und Anhängern einer (neuen) Kulturgeschichte. Ziemanns Ansatz bleibt vermittelnd: „Sinn/Symbol“ ließe sich, so eine von Ziemanns Schlussfolgerungen, den Strukturen nicht als Ableitung gegenüberstellen, sondern bilde selbst eine „symbolbezogene Kommunikation“, die ihrerseits strukturbildend wirke (S. 23). Auch in der Diskussion um den Beitrag der Begriffs- und der Kulturgeschichte wie auch eines systemtheoretischen, vor allem an Luhmann orientierten Ansatzes beansprucht er, die polemische Gegenüberstellung zu überwinden und einen pragmatischen Zugriff zu verfolgen. Letztlich bedient er sich selbst vor allem einer differenzierungstheoretischen Perspektive, die sich mit all ihren kultur- und begriffshistorischen Weiterungen vom Zugriff der ‚alten‘ Sozialgeschichte weit entfernt, aber auch Abstand zu beispielsweise historisch-anthropologischen Zugriffen hält. In seinen Ausführungen zu „historischen und soziologischen Begriffen“ (Kapitel I.3.) kann er anschaulich verdeutlichen, wie stark die Definition des Gegenstandes „Religion“ die jeweils vorzunehmende Analyse präformiert, und folgt bei der Skizze verschiedener Religionsbegriffe weitgehend gängigen Darstellungen in der Soziologie.

Die Probe aufs Exempel der Hinführung des ersten Kapitels bieten die Kapitel zwei und drei, in denen er luzide – in der Regel aber mit größerer Konzentration auf die Zeit bis einschließlich des 19. Jahrhunderts als auf das nachfolgende Säkulum – zunächst drei „Prozesse religiösen Wandels“ untersucht: die Säkularisierung als Funktionsveränderung von Religion, wobei er einen weiten Bogen schlägt, Max Webers These von der „Entzauberung der Welt“ ebenso luzide diskutiert wie die empirische Aussagekraft von Kirchenstatistiken oder den Analysegewinn des Konzeptes funktionaler Differenzierung; mit der Konfessionalisierung erwiesen sich die Religionen als wichtiger und aktiver Motor gesellschaftlicher Transformation, dezidiert nicht als ein Moment, das mit zunehmender Modernisierung einfach verdrängt worden wäre; die „Organisationsbildung“ von Religion, die sich auf diese Weise als eine von den jeweiligen sozialen Vor-Ort-Bedingungen unabhängige Größe mit meist schriftlich fixierten Erwartungen an die Mitgliederrollen institutionalisierte. In ähnlich versierter Weise handelt der Autor in Kapitel drei „Dimensionen religiöser Vergesellschaftung“ ab, wenn er Forschungsergebnisse zu Professionalisierungsprozessen im Bereich der Religion, zu „Religion und Geschlecht“ wie auch zu „Medien religiöser Kommunikation“ darstellt. Im letztgenannten Kapitel wäre aber eine stärkere Differenzierung von Selbst- und Fremdbild der Religionsgemeinschaften angeraten gewesen: Insbesondere im 20. Jahrhundert waren die vielfältigen Kanäle öffentlicher Kommunikation nicht mehr nur „Verbreitungsmedien“ für die Religionsgemeinschaften, wie es Ziemann anmerkt und mit seiner Konzentration auf Billy Graham und ähnliche Phänomene nahe legt. Vielmehr veränderten sich die etablierten Religionsgemeinschaften wegen des medial bedingten gesellschaftlichen Wandels wie auch wegen des Bildes von Religion, welches von nicht-konfessionsgebundenen Medien gezeichnet wurde.1 Knapp fällt Ziemanns Skizze zur weit verzweigten Diskussion um die „politischen Religionen“ und „Ersatzreligionen“ des 20. Jahrhunderts aus. Aus seiner sozialgeschichtlichen Perspektive billigt er den Protagonisten dieses Forschungsfeldes wenig analytische Substanz zu und verweist diese auf die erst begonnene Analyse möglicher „Überschneidungen und Dissonanzen zwischen Luthertum und Nationalsozialismus“ – ein Feld, das aber den Kern der Frage nach „politischer Religion“ wohl nicht mehr trifft.

Auch wenn der Band das im Untertitel angedeutete Vorhaben, „von der Reformation bis in die Gegenwart“ zu reichen, nicht einlöst, sondern für das 20. Jahrhundert generell dünner bleibt, gibt er wichtige Hinweise für eine weitere Ausrichtung der wissenschaftlichen Erforschung von Religion: Dabei benennt er beispielsweise den Wandel von der Religion als Moment der vormodernen „Anwesenheitsgesellschaft“ (Rudolf Schlögl) hin zu einem Modell, das sich an Mitgliederrollen in der modernen Organisationsgesellschaft orientiert. Die in der Frühneuzeit liegenden „Anfänge dieser Verschiebung hin zu einer neuen sozialen Konfiguration des Religiösen sollten noch schärfer herausgearbeitet werden“(S. 159). Ebenso, so könnte erweitert werden, ließen sich Chancen und Kosten des neuen, zwischen den Polen Organisation und Interaktion oszillierenden Modells auch unter den Bedingungen der Nachmoderne verfolgen. Besonders Erfolg versprechend ist auch die von Ziemann angemahnte Analyse von „Umbauten im religiösen Code“, die als Spur zur Erforschung des religiösen Angebots in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verfolgen wäre.

Das vorliegende Buch ist dezidiert als eine Einführungsdarstellung konzipiert. Diesen Anspruch löst es durch seine klare Strukturierung und durch eine ebenso anschauliche wie analytisch treffende Sprache in besonderer Weise ein. Es ist eine wertvolle Ergänzung zu den gängigen Einführungen in die Religionssoziologie, da es viele der unter Soziologen gehandelten Erklärungsmuster mit Blick auf historisch-empirische Forschungen abklopft und in ein für Historikerinnen und Historiker anregendes Licht stellt.

Anmerkung:
1 Vgl. dazu neben einigen Aufsätzen vor allem die demnächst erscheinende Studie von Nicolai Hannig, Die Religion der Öffentlichkeit. Medien, Religion und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland (1945-1980), Göttingen 2010.