F. Sattler u.a. (Hrsg.): European Economic Elites

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Titel
European Economic Elites. Between a New Spirit of Capitalism and the Erosion of State Socialism


Herausgeber
Sattler, Friederike; Boyer, Christoph
Reihe
Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 84
Erschienen
Anzahl Seiten
594 S.
Preis
€ 88,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Morten Reitmayer, FB III Neuere und Neueste Geschichte, Universität Trier

Der anzuzeigende Sammelband geht auf eine im November 2007 am Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung abgehaltene Tagung gleichen Titels zurück, und der Untertitel bezeichnet auch die Spannweite des Buches. Es versammelt 19 Beiträge renommierter europäischer Forscher, die in sechs Abteilungen angeordnet sind: Zunächst erfolgt ein kurzer Überblick über Wirtschaftseliten in West- und Osteuropa im 20. Jahrhundert, wobei Dieter Ziegler den deutschen Fall etwas stärker in die westeuropäische "Eliten-Geschichte" einbettet als Ágnes Pogány den ungarischen in die osteuropäische. Überhaupt sind die ungarischen Wirtschaftseliten in diesem Werk mit gleich drei Beiträgen außerordentlich stark repräsentiert. Die weiteren Beiträge konzentrieren sich dann auf die Zeit nach 1945, zum Teil auch auf kürzere Zeiträume wie der Aufsatz von Thomas David und anderen über die dramatischen Veränderungen in der Binnenvernetzung der Schweizer Wirtschaftselite zwischen 1980 und 2000.

Die weiteren Abteilungen gehen zunächst der Morphologie der Wirtschaftseliten nach, die die Herausgeber in Westeuropa vorwiegend durch das Spannungsverhältnis von Kohäsion und Fragmentierung, in Osteuropa durch Erosion und Transformation gekennzeichnet sehen. Modernisierungstheoretisch gedacht ist die vierte Abteilung, die die Herausforderungen untersucht, die von der "Dritten Industriellen Revolution" ausgingen, sowie die Strategien, mittels derer die Eliten diesen zu begegnen trachteten. Ganz auf die osteuropäischen Wirtschaftseliten zugeschnitten ist die Abteilung über den Wandel von Werten und Legitimationsmustern. Abschließend sucht die letzte Abteilung Antworten auf die Frage, ob sich bereits Konturen einer transnationalen Wirtschaftselite abzeichnen.

Im Gegensatz zu vielen anderen Sammelbänden ist diesem Band eine sehr umfangreiche, analytisch konzentrierte und mit weitreichenden theoretischen Überlegungen versehene Einleitung vorangestellt. Diese Synthese verleiht dem Buch besonderes Gewicht und rechtfertigt es, seine Vorzüge und Probleme exemplarisch daran zu erörtern, zumal es in einer Rezension unmöglich ist, alle Beiträge angemessen zu würdigen. Den Ausgangspunkt bildet die Konstruktion zweier polit-ökonomischer "Makro-Modelle" für die Geschichte der europäischen Gesellschaften nach 1945: Des demokratischen, keynesianischen, neokorporatistischen Wohlfahrtsstaates in Westeuropa und des staatssozialistischen in Osteuropa. Das ist zugegebenermaßen ein sehr hohes Abstraktionsniveau, denn ob beispielsweise die portugiesische, (süd-) italienische oder griechische Gesellschaft der 1950er-, 1970er- oder 1990er-Jahre der niederländischen oder (west-) deutschen so ähnlich war wie damit unterstellt, ist keineswegs unumstritten.

Beide "Makro-Modelle", so die Annahme der Herausgeber, gerieten im Verlauf der 1970er-Jahre und noch einmal nach 1990 in eine schwere Krise, ausgelöst durch zwei Herausforderungen: zum einen die neue Welle der Globalisierung, zum anderen die "Dritte Industrielle Revolution". Gerade zu Letzterer hätte sich der Rezensent eine eingehendere Erörterung gewünscht, da sonst die Gefahr besteht, den Begriff zum Schlagwort und Passepartout für alle möglichen Entwicklungen zu degradieren. Jedenfalls verwenden die Herausgeber den Terminus in seiner auf die Verbreitung der Mikroelektronik und des Internet beschränkten Variante und fassen darunter nicht auch, wie von Jeremy Rifkin prominent vorgeschlagen, die Bedeutung neuer Energieträger, ökologisch nachhaltiger ökonomischer Entwicklung und eines materiellen Ausgleichs zwischen Nord und Süd. Während das westliche Makro-Modell die Herausforderungen meistern konnte – wenn auch nur durch eine signifikante Transformation des Systems –, zerfiel der osteuropäische Staatssozialismus. Beide Prozesse zeitigten gravierende Auswirkungen auf Sozialprofil, habituelle Prägungen, ökonomisches Handeln, soziale Herkunft, Legitimationsmuster, Werthaltungen, Selbst- und Fremdwahrnehmung der Wirtschaftseliten.

Aus den im Band versammelten Untersuchungen zu diesen Forschungsfeldern gelangen die Herausgeber zu wichtigen Synthesen und Schlussfolgerungen für die Geschichte der verschiedenen europäischen Wirtschaftseliten. Zunächst ist festzustellen, dass in längerer Perspektive die Selbstrekrutierung der nationalen Wirtschaftseliten in West- wie in Osteuropa konstant erstaunlich hoch blieb. Beachtenswert ist die Erklärung, die Sattler und Boyer für diesen Befund abgeben: Sie sehen die Ursache nicht in den exklusiven Institutionen des Bildungssystems (was beispielsweise für den deutschen Fall auch wenig plausibel wäre) und auch nicht in einem spezifisch großbürgerlichen Habitus, sondern in einem starken Gefühl der Zusammengehörigkeit ("esprit de corps") sowie dem großen sozialen Kapital, über das die Angehörigen des Großbürgertums durch ihre Einbindung in exklusive soziale Netzwerke verfügten, und das ihnen innerhalb des Unternehmens wie nach außen erhebliche komparative Vorteile gegenüber Konkurrenten verschaffte. Ob dagegen die Konvertierung von agrarisch gebundenem Familienkapital in industrie- und finanzwirtschaftlich investiertes Kapital (einschließlich der entsprechenden Führungspositionen) überall so umstandslos gelang wie behauptet (S. 37), ist zumindest für den deutschen Fall zu bezweifeln. Hier zeigen sich meines Erachtens die Grenzen der hohen Aggregierung von Daten zu den genannten Makro-Modellen. Nichtsdestotrotz sind die Befunde überzeugend, die auf die Bedeutung von finanz- und industriewirtschaftlichen Familiendynastien in den europäischen Wirtschaftseliten verweisen sowie auf deren besonders enge Verflechtung mit dem Adel in den Gesellschaften der halbperiphären europäischen Randlagen Iberiens, Siziliens, Ungarns usw.

Nach 1945, so Sattler und Boyer, zeichneten sich – unter systembedingt verschiedenen Vorzeichen und unter Wahrung vieler nationaler Eigenarten – die west- wie osteuropäischen Wirtschaftseliten durch eine Reihe von Attributen aus, die eng mit den genannten Makro-Modellen zusammenhingen, und die – das ist wesentlich – mit der Auflösung dieser Modelle seit den 1970er- bzw. 1990er-Jahren ebenfalls verschwanden, so dass sich das Erscheinungsbild und die Verhaltensweisen der Wirtschaftseliten ebenfalls entscheidend wandelten. Denn weil beide Makro-Modelle interventionsstaatliche Antworten auf die Krise des liberalen Kapitalismus der Zwischenkriegszeit darstellten, war zunächst eine relative Nähe zwischen dem Staatsapparat und den jeweiligen Wirtschaftseliten entstanden (auch wenn sich diese Nähe nicht überall in miteinander verflochtenen Karrierenetzwerken ausdrücken musste; in Frankreich zum Beispiel war sie stärker als in Großbritannien). Unternehmer zeigten sich offener für staatliche Planungsvorhaben als zuvor; die Identifikation mit ihrem Nationalstaat und dem von diesem definierten Allgemeinwohl sowie die Bereitschaft zur korporativen Einbindung auch der Arbeiterinteressen war hoch.

All dies änderte sich seit den 1970er-Jahren: Die Bindekraft von Staat und Korporatismus nahm ab, und die Fronten zwischen Kapital und Arbeit verhärteten sich. Während die Erwartungen an das staatliche Handeln "ökonomisiert" wurden, führten Privatisierungswellen, die Verbreitung von Shareholder-Value-Ideen, die Bedeutungsabnahme der Altindustrien sowie die Diversifizierung von Produkten und geographischen Aktivitäten von Großunternehmen zur Auflösung alter Vertrauens- und Kontrollnetzwerke zwischen Banken und Industrie sowie zu einer Europäisierung und Internationalisierung der Wirtschaftseliten, die in einer wachsenden Heterogenität und einer nachlassenden Binnenkohäsion mündete, allerdings ohne den Zugang sozial nach "unten" zu öffnen. Konsequent wird der Sammelband beschlossen von einem außerordentlich lesenswerten und provozierenden Aufsatz von Leslie Sklair über den Aufstieg der "Transnational Capitalist Class" zu einer neuen, global herrschenden Klasse.

Abschließend sei ein konzeptionelles Problem formuliert: Sattler und Boyer setzen in ihrer Einleitung wie im Gesamtarrangement der Beiträge den Begriff der "Wirtschaftselite" gleich mit "Unternehmer" (bzw. Spitzenunternehmer). Nimmt man jedoch ihre eigene Arbeitsdefinition ernst, in der sie die Wirtschaftselite als die Inhaber von herausgehobenen ökonomischen Entscheidungspositionen bestimmen, so hätten über die Topmanager hinaus noch weitere Gruppen in den Blick genommen werden müssen: Verbandsführer, Wirtschafts- und Finanzpolitiker, die Chefs öffentlicher Banken und Holdings, Leiter von Wirtschaftsforschungsinstituten, einflussreiche Wirtschaftspublizisten, Anwälte und Beratungsfirmen, Ratingagenturen, Lobbyisten aller Art, und nicht zuletzt Gewerkschaftsfunktionäre einschließlich der Betriebsratsvorsitzenden von Großunternehmen (zumindest in Ländern mit derartigen Institutionen). Sie alle nehmen auf verschiedene Weise erheblichen Einfluss auf das wirtschaftliche Geschehen. Ihre unterschiedlichen und ähnlichen Laufbahnen, Sozialprofile, Einstellungen und Vernetzungen sowie die Kräfteverhältnisse untereinander, kurz das Feld der Geschäftswelt in seiner Gesamtheit werden mit einer Beschränkung auf die Chefs von privaten (und staatssozialistischen) Großunternehmen nicht sichtbar, auch wenn mehrere Aufsätze diese Gruppen zumindest partiell mit in den Blick nehmen (so analysiert beispielsweise Christian Dirninger den Typus des "politischen Unternehmers" anhand des zeitweiligen österreichischen Finanzministers Hannes Androsch).

Außerdem sah der Finanzmarktkapitalismus der vergangenen zwei Jahrzehnte den Aufstieg und Bedeutungsgewinn einer Gruppe, die in dieser Eliten-Definition ebenfalls nicht unterzubringen ist, weil sie weder die Spitzenpositionen von Großunternehmen bekleidet noch primär über Arbeitsbeziehungen konstituiert ist: die Hedgefondsmanager und Börsenhändler, die oft mehr verdienen als ihre formalen Chefs, und die die Gier der Eliten verkörpern, auf die die Herausgeber in ihrer Einleitung verweisen. Gleiches gilt für die Handlungsebene, auf der Wirtschaftseliten untersucht werden müssten, also die Form der Beziehungen zu anderen Sozialgruppen und das Machtgefälle zwischen ihnen, die verschiedenen Führungsstile sowie die institutionellen Rahmenbedingungen und Beschränkungen des ökonomischen Entscheidungshandelns. Auch sie werden durchaus in mehreren Beiträgen gestreift (etwa in Fabio Lavistas instruktivem Aufsatz über das Scheitern nationaler Wirtschaftsplanung in Italien), nicht jedoch systematisch analysiert und synthetisiert.

Doch können diese Einschränkungen das Fazit nicht trüben: Der Band ist unverzichtbar für alle, die sich für die europäischen Eliten nach 1945 im Allgemeinen und für die Wirtschaftseliten im Besonderen interessieren; seine beiden großen Vorzüge sind die gesamteuropäische Perspektive und der großangelegte Syntheseversuch in der Einleitung der Herausgeber, und er fordert zu einer präziseren Bestimmung der wirtschafts- und sozialhistorischen Zäsuren nach 1945 auf. Das ist das Beste, was sich über eine zeitgeschichtliche Untersuchung sagen lässt.

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