C. H. Merck: Das sibirisch-amerikanische Tagebuch 1788-1791

Cover
Titel
Das sibirisch-amerikanische Tagebuch aus den Jahren 1788-1791. hrsg. von Dittmar Dahlmann, Anna Friesen, Diana Ordubadi


Autor(en)
Merck, Carl Heinrich
Erschienen
Göttingen 2009: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
413 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Malte Griesse, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Universität Bielefeld

Carl Heinrich Merck (1761-1799), dessen Reise- und Forschungstagebuch hier in großen Teilen erstmals herausgebracht worden ist, gehört zu den bedeutenden Naturforschern des 18. Jahrhunderts, auch wenn seinen Namen selbst Spezialisten heute kaum noch kennen. Das liegt in erster Linie daran, dass seine Arbeiten weitgehend unveröffentlicht geblieben und teilweise verloren gegangen sind. Denn er starb früh, nicht zuletzt an den gesundheitlichen Folgen der großen Billings-Saryčev-Expedition, der das vorliegende Tagebuch zu verdanken ist und die in den Jahren von 1786 bis 1795 im Auftrag von Katharina II. die unwirtlichen Gefilde zwischen Ostsibirien und Alaska erforschte. Es war zweifellos eine Forschungsreise, aber, wie viele andere solcher Expeditionen in dieser Zeit, war die wissenschaftliche Erschließung und Aneignung des noch weitgehend unbekannten Raumes zugleich mit politischen Interessen verknüpft. So trug in diesem Falle die Expedition maßgeblich zur Einbindung der Alëuten-Inseln und der Südwestküste Alaskas an das russische Reich bei. Entdeckungsreisen unter spanischer und britischer Ägide, vor allem die in den späten 1770er-Jahren von James Cook unternommenen Abstecher in die Inselwelt, hatten in der russischen Regierung Besorgnis erregt und den Wusch nach Herrschaftskonsolidierung geweckt. Die Regionen Alaskas wurden vor dem Hintergrund einer zunehmenden Überjagung Ostsibiriens immer wichtiger für die Pelzjagd, die für Russland nicht unbeträchtliche ökonomische Bedeutung hatte, bis Alexander II. 1867 wiederum aus ökonomischen Gründen sowohl die Alëuten als auch das Festland von Alaska für 7,2 Mio Dollar (das heißt für ganze 400 Dollar pro Quadratkilometer) an die USA verkaufte.1

Die ersten Entdeckungsreisen in diesen Raum hatten bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts stattgefunden, unter der Führung jenes Vitus Bering, nach dem Bering-Meer und Bering-Straße benannt worden waren. Die Expedition des Jahres 1786, deren politische Ziele von der zarischen Regierung so gut es ging unter Verschluss gehalten wurden, sollte nicht nur ältere Kartierungen präzisieren, sondern zugleich auch geologische Gegebenheiten, Flora und Fauna, sowie die – außerordentlich spärlich gesäte – Bevölkerung in diesen Gebieten untersuchen. In diesen Zusammenhang fällt auch die „Volkszählung“, die die Forscher auf den Alëuten durchführten und bei der sowohl die Namen wie auch die Steuerleistung der Ureinwohner erfasst wurden (S. 55).

Der aus Oberhessen stammende Merck, der Ende 1784 seine Promotion in Medizin an der Universität Gießen abgeschlossen hatte und kurz darauf auf Anwerbung Katharinas II. nach Russland ging, hatte noch nicht lange in Irkutsk als Hospitalarzt gearbeitet, als man ihm seinen ehrenvollen Platz in der hochkarätig besetzten Forschungsmannschaft anbot. Er wurde als Ersatz für den wegen Krankheit ausgefallenen französischen Mineralogen Eugène-Melchior Louis Patrin (1742-1815) in das etwa 160 Mann starke Team aufgenommen. Protegiert wurde er offenbar vom wissenschaftlichen spiritus rector der Expedition, Peter Simon Pallas (1741-1811), der ihm von St. Petersburg ausführliche Instruktionen über Inhalte und Methoden der bevorstehenden Forschungen zukommen ließ und mit dem er auch während der Expedition in – notgedrungen spärlichem – Briefwechsel stand. Die Themenvielfalt in Pallas’ Anweisungen macht deutlich, dass von der rigiden Auffächerung der Wissenschaft in Einzeldisziplinen noch keine Rede sein konnte, es sich vielmehr noch um die Zeit der Universalgelehrten handelte. Zu diesen gehörte Pallas ohnehin, aber auch der junge Merck vertiefte im Laufe der Expedition seine Interessen schnell in vielerlei Richtungen, obwohl er noch bei seiner Zusage befürchtet hatte, dass „er dem Geschäfte nicht ganz gewachsen sey“ (S.43). Wie auch bei den anderen an der Expedition beteiligten Forschern war das Führen des Tagebuchs Pflicht. Darin sollten neben den Informationen über Pflanzen- und Tierwelt auch meteorologische, ethnographisch-linguistische und topographische Beobachtungen verzeichnet werden. Außerdem sollte er die Krankheiten und Heilverfahren der indigenen Bevölkerung unter die Lupe nehmen. Zusammen mit den materiellen Funden wie ausgestopften Tieren, Pflanzen, etc. mussten auch die Tagebücher der Forscher im Anschluss an die Expedition der Petersburger Akademie überlassen werden.

Angesichts der großen Geheimhaltung, die den Forschern von der russischen Regierung auferlegt wurde – viele Beobachtungen, gerade Kartierungen von Küstenverläufen, waren unmittelbares Herrschaftswissen – ist es bemerkenswert, wie rasch die Informationen in der Gelehrtenwelt zirkulierten. Immer wieder hielten sich Forscher nur teilweise an die strengen Auflagen, integrierten für ihre Forschung besonders interessante Funde in ihre eigenen Sammlungen und kommunizierten ihre Beobachtungen unter Ihresgleichen. Sanktionen von staatlicher Seite gab es hingegen kaum. Hier mag die Internationalität des Forscherteams eine entscheidende Rolle gespielt haben. Neben Merck gab es viele andere Deutsche, und so sehen die Herausgeber das Tagebuch auch als eines von vielen Zeugnissen für die langjährige vertiefte deutsch-russische Zusammenarbeit. Doch waren durchaus auch Vertreter anderer Länder im wahrsten Sinne des Wortes „ins Boot geholt worden“ – mit dem Hydrographen Joseph Billings (1758-1806) war immerhin einem Briten das Gesamtkommando anvertraut worden. Dabei handelte es sich jedoch nicht um eine Besonderheit von Forschungsreisen unter russischer Schirmherrschaft. Vielmehr widersprach eine rigide Geheimhaltung offenbar dem Geist der Wissenschaft und des Universalgelehrtentums. Insofern sind die Forschungsexpeditionen dieser Zeit nicht nur aufgrund ihrer territorialen Expansivität, sondern auch in ihrer internen personellen Komposition ein früher Exponent der Globalisierung und damit Gegenstand par excellence für die aktuell boomende transnationale Geschichtsschreibung.

Die Ausgabe des Tagebuchs gibt den Text im Wesentlichen ohne Veränderungen wieder. Auch die Orthographie ist weitgehend beibehalten, nur in wenigen Fällen, in denen der Sinn durch eine eigenwillige Rechtschreibung verloren zu gehen droht, haben die Herausgeber eingegriffen, die Veränderungen aber immer angezeigt. Auch wenn es sich nicht im strengen Sinne um eine historisch-kritische Ausgabe handelt, ist der Anmerkungsapparat sehr umfangreich und hilfreich, denn nur wenige Leser werden beispielsweise alle genannten Tiere und Pflanzen kennen und einordnen können, die Merck zudem generell unter ihrem lateinischen Namen einordnet. Für Botaniker und vor allem Zoologen dürfte das Tagebuch eine wahre Fundgrube sein, jedoch kommen diejenigen etwas zu kurz, die eher die ethnographischen Aspekte interessieren. Zwar wird in der sehr informativen Einleitung hervorgehoben, dass die Forscher die ersten Europäer überhaupt waren, die die Čukčen-Halbinsel (den äußersten Osten Sibiriens, der an die Beringstraße grenzt) in näheren Augenschein genommen haben. In diesem Zusammenhang wird betont, dass schon Merck selbst seine dortigen ethnographischen Beobachtungen für so wichtig hielt, dass er ein eigenes Heft dafür begann, das zumindest in Ausschnitten zu Beginn des 19. Jahrhunderts sowohl in russischer Übersetzung als auch auf Deutsch veröffentlicht wurde.2 Warum dieses Heft aber nicht in die vorliegende Publikation eingegangen ist, bleibt dem Leser verborgen, zumal diese „Beschreibung der Tschuktschi: Von ihren Gebräuchen und Lebensart“ heute als „das erste ausführliche Dokument zur Ethnologie dieses sibirischen Volkes“ gilt und „wertvolle Details über die sozialen Strukturen der Čukčen, ihr Familienleben, religiöse Bräuche und Feste“ enthält. Merck schildert hier auch ihre Heilverfahren und den Schamanismus und berichtet über architektonische Besonderheiten wie die unterirdischen Behausungen, die spätere Forscher aufgrund der schnellen Zerstörung der ursprünglichen Čukčen-Kultur nicht mehr zu Gesicht bekamen (S. 58-59).

So ist es bedauerlich, dass Merck sich in den kurzen rückblickenden Bemerkungen zu den sechs Monaten bei den Čukčen, die aus dem regulären Tagebuch in die Veröffentlichung eingegangen sind, nur vergleichsweise summarisch und stereotyp äußert. So beschwert er sich über die Mühsal des Lebens „unter einem Schwarm von Wilden“, „die auch nicht der Schein von Gesetzen beschränkt, wo selbst der Vattermörder nie fremden Vorwurf zu erwarten hat, und deren Gebräuche jeden nur zum unumschränkten Herrn zu bilden sich bemühen, die fremdes Eigenthum zu rauben für eine Fertigkeit halten, und bei denen der Wechsel von Freundschaft zu tötendem Haß kaum den schwächsten Übergang leidet.“ (S.306) Immerhin entspricht diese Schilderung nicht dem heute gängigen Klischee von den Čukčen, die als die „Ostfriesen Russlands“ (und vormals der Sowjetunion) in zahlreichen Anekdoten eher als naiv und geistig etwas minderbemittelt dargestellt werden.

Entschädigt wird der Leser durch die sehr eindrücklichen und bisweilen auch außerordentlich amüsanten Schilderungen über die Bewohner der Alëuten und Kamčatkas. So schreibt Merck beispielsweise über die „Kamtschadalischen Tänze: eine geile Gelenkigkeit, wobei die besonders mit Schultern und Hüften wircken, auch lose genug, mit ihrer Stirnhaut spielen. Sie ahmen zum wechseln Bären, Walfische, Gänsen nach; wie selbe ihre liebes Spiele beginnen, oder wie sie solche zu erlegen trachten, welches den Rußen, solche zwar heißt, und das dem einladen zu eigener Brust öfters entspricht.“ (S.149)

Insgesamt ist es ein interessantes Buch, das schon insofern über die Historiker- und Ethnologen-Fachkreise hinaus auf Interesse stoßen dürfte, als es weit in die (Vor-)Geschichte von Biologie, Geologie und Geographie hineinreicht.

Anmerkungen:
1 Peter Littke, Vom Zarenadler zum Sternenbanner. Die Geschichte Russisch-Alaskas, Essen 2003.
2 Die deutschsprachige Veröffentlichung erschien 1814 in einer Zeitschrift für Reiseberichte und war schwer zugänglich: Nachrichten von den Sitten und Gebräuchen der Tschuktschen, gesammelt von Dr. K.H. Merck auf seinen Reisen im nördlichen Asien. In: Journal für die neuesten Land- und Seereisen, 1814, Bd. 16, S.1-27, 184-192, Bd. 17, S.45-71, 137-152.

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