Titel
Ländliche Gesellschaft und Agrarwirtschaft im Hunsrück zwischen Tradition und Innovation (1870-1914).


Autor(en)
Bauer, Alfred
Reihe
Trierer Historische Forschungen 64
Erschienen
Trier 2009: Kliomedia
Anzahl Seiten
507 S.
Preis
€ 76,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Kluge, Buchenbach-Wagensteig

Die wissenschaftlichen Bemühungen um die Aufarbeitung der neuzeitlichen Landwirtschaftsentwicklung, insbesondere der des 19. Jahrhunderts, haben mit vorliegender Arbeit von Alfred Bauer einen deutlichen Impuls erhalten. Als Regionalstudie konzipiert ist diese Arbeit – um ihr zentrales Merkmal vorwegzunehmen – weit mehr als ein Beitrag zur Geschichte einer entlegenen Agrarlandschaft. Sie umfasst die Geschichte der bäuerlichen Familienbetriebe in ihrer Umbruchphase bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs.

Im Mittelpunkt der an Quellenkenntnis und Detailwissen reichen Arbeit steht die Modernisierung der bäuerlichen Familienbetriebe. Es geht hierbei um die ökonomische Festigung des Hunsrücker Kleingrundbesitzes mit seinem bescheidenen Nutzflächenanteil von maximal 10 Hektar. Wo dies bei ungünstigen Ausgangsbedingungen nicht gelang, drohte die Abwanderung in die rasch aufstrebenden Industriegebiete.

Die Arbeit ist übersichtlich gegliedert. Ihre Lektüre ermüdet in keinem Kapitel. Die abwechslungsreiche Gestaltung von Analysetext, Zitaten, Tabellen, Graphiken und vertiefenden Anmerkungen weckt das Leseinteresse stets neu. Nach einer ausführlichen Einleitung über Agrartheorien, Begriffe, Analysekonzepte, Forschungsstand und Untersuchungsprozess (S. 15-54) geht es im ersten Kapitel um die „Strukturelemente der Agrarverfassung” (S. 55-120). Gesellschaftlichen Problemen, die Alfred Bauer „am Rande von Industrialisierung und Urbanisierung” sieht, ist das zweite Kapitel gewidmet (S. 121-198). Staat und landwirtschaftliches Vereinswesen erscheinen im dritten Kapitel (S. 199-270) als „Schrittmacher der Agrarmodernisierung”. Wie die Familienbetriebe moderner wurden, mit welchen Mitteln „Produktions- und Produktivitätszuwächse” erreicht wurden, das wird im vierten Kapitel (S. 271-320) übersichtlich und überzeugend dargestellt. Im fünften Kapitel (S. 321-356) geht es um Finanzprobleme, beispielsweise um die Praktiken des Geldverleihs und des Agrarkredits. Abschließend, im sechsten Kapitel (S. 357-408), entfaltet Alfred Bauer ein breites betriebswirtschaftliches Spektrum am Beispiel eines Hofes aus Wahlbach auf der Basis einer „einfachen Buchführung” zwischen 1890 und 1922 mit zahlreichen Einblicken in die keineswegs unkomplizierten Wirtschaftsstrukturen eines bäuerlichen Kleingrundbesitzes. Ein Anhang mit Textdokumenten, Tabellen und Graphiken sowie mit einem ausführlichen Quellen- und Literaturverzeichnis bildet den Abschluss der Studie.

Die Arbeit geht mit ihren zahlreichen Erkenntnissen gleichermaßen in die agrarwirtschaftliche wie -soziale Breite und Tiefe. Die regionalen Modalitäten der Vererbung der Bauernhöfe dienten vor allem der Existenzsicherung der bäuerlichen Erbmasse. In den Vererbungsprozessen ging es um die Ausbalancierung der Ansprüche aller Erbschaftsparteien, also auch erbberechtigter Frauen (S. 409). Alfred Bauer kennzeichnet den Hunsrück als ein „erbrechtliches ‘Mischgebiet’” von Anerbenrecht und Realteilungspraxis (S. 411). Betriebs- und Bodenzersplitterung kamen hier nicht vor; dementsprechend unterblieb die „Proletarisierung der unterbäuerlichen Bevölkerung” (S. 411). Der positive Entwicklungstrend vom Kleinst- über den Klein- zum mittleren Grundbesitz hielt langfristig – bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts – an. „Die eine Dorfgesellschaft gab es nicht, sondern in ihrer sozialen Ausprägung durchaus nuanciert divergierende dörfliche Konstellationen” (S. 412). Unterschiedliche Berufsgruppen in agrarischen und nichtagrarischen Tätigkeitsfeldern existierten nebeneinander und waren durch spezifische Interessen miteinander konstruktiv vernetzt. Es kam in Form der „saisonalen Pendelarbeit” (S. 413) zu Wanderungen von Landarmen und abhängig Beschäftigten ins industriell-gewerbliche Wirtschaftsmilieu. Die bäuerlichen Betriebsinhaber und ihre Familien produzierten überwiegend zur eigenen Bedarfsdeckung bei wachsendem Interesse an marktgerechter Produktion für städtische Abnehmer. In engem Zusammenhang mit der Existenzsicherung von Grund und Boden, des Familienhaushalts sowie von Absatz und Bedarf entstanden Gesellschaften für die Produktion von Grundnahrungsmitteln (Müllerei, Bäckerei), für die Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit und schließlich für die Tierzucht (S. 413).

Alfred Bauer widerspricht für den Hunsrück dem landläufigen Begriff der „ländlichen Klassengesellschaft”. Die Hunsrücker Bauern nahmen als Vereinsmitglieder „Anteil an den politischen Diskursen des ausgehenden 19. Jahrhunderts”. Sie befanden sich nicht auf antistaatlichem Kurs, weil die staatliche Agrarpolitik als „Wohlfahrtspolitik und Interventionismus” in willkommenem Sinne erfahren wurde (S. 414). Für die hohe Integrationskraft des Hunsrücker Bauernvereins spricht das breite Mitgliederfundament, wovon hauptsächlich das nationalliberale Lager profitierte (S. 415). Die Entstehung und Entwicklung einer lokalen Führungselite von zeitlich weitreichendem Einfluss ging auf die landwirtschaftlichen Winterschulen zurück (S. 416-417). Aus Bauern wurden „modern agierende und arrivierte Landwirte” (S. 416) und „es war eine junge Generation von Bauern, die meist in der Tradition familialer Qualifikationen und Leistungen sich bemühte, das ‚Obenbleiben‘ ihrer Familien durch entsprechende Leistungsmerkmale dauerhaft zu sichern” (S. 419). Die Hunsrücker Landwirtschaft befand sich seit den 1880er-Jahren bis 1914 in einem tiefgreifenden Strukturwandel (S. 419-420). Der agrarwirtschaftliche Modernisierungsprozess förderte die „Verbäuerlichung” der Landwirtschaft und des dörflichen Sozialgefüges. Der Preis, den die Modernisierung forderte, war jedoch hoch. Der Umstellungsprozess belastete vor allem die Frauen; er nahm aber auch alle anderen Familienmitglieder (Altenteiler, Kinder) stärker als bisher in die Pflicht.

Mit Respekt vor der wissenschaftlichen Leistung Alfred Bauers, der durch seinen Tod 2008 die Veröffentlichung seiner Dissertation nicht mehr erlebte, sollten die Ergebnisse als Anregung und konzeptionelle Grundlage bei der Untersuchung aller bisher unbeachtet gebliebenen Agrarlandschaften Deutschlands dienen. Alfred Bauer hat der Hunsrücker Landwirtschaft ein Denkmal gesetzt, insbesondere dem „bäuerlichen Familienbetrieb mittlerer Größe”, wie Lutz Raphael als wissenschaftlicher Betreuer der Dissertation in seinem Geleitwort zustimmend betont, dem Familienbetrieb, „der sich als anpassungsfähiger und innovationsfähiger Protagonist des Strukturwandels erwies”.