Titel
Remembering Scottsboro. The Legacy of an Infamous Trial


Autor(en)
Miller, James A.
Erschienen
Anzahl Seiten
296 S.
Preis
€ 40,63
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Silvan Niedermeier, Historisches Seminar, Universität Erfurt

Es gibt wohl kein anderes Gerichtsverfahren in den USA des 20. Jahrhunderts, das eine vergleichbare kulturelle Resonanz erfahren hat wie der Fall Scottsboro, welcher im Alabama der frühen 1930er-Jahre seinen Ausgang nahm. Er resultierte aus der Festnahme von neun African Americans im Alter zwischen dreizehn und neunzehn Jahren wegen der angeblichen Vergewaltigung zweier ‚weißer‘ Frauen. Nachdem zunächst acht der neun Angeklagten von einem Gericht in Scottsboro, Alabama, zum Tode verurteilt worden waren, kam es in den folgenden Jahren zu einer Vielzahl von Berufungsprozessen, in deren Folge dem Fall eine nationale und globale Aufmerksamkeit zuteil wurde. Einer der wesentlichen Ursachen dafür war das Engagement der „International Labor Defense“ (ILD) und der amerikanischen Kommunistischen Partei (CPUSA) zugunsten der neun sogenannten „Scottsboro Boys“.

Der Fall führte in den USA der 1930er-Jahre zur Formierung einer breiten Protestbewegung gegen die rassistische Strafjustiz des amerikanischen Südens, in der sich sowohl kommunistische Gruppierungen, als auch Bürgerrechtsaktivist/innen, Künstler/innen, Schriftsteller/innen und Vertreter/innen des liberalen Bürgertums öffentlich mit den Scottsboro Boys solidarisierten. In seinem 2009 bei Yale University Press erschienen Buch nimmt der Literaturwissenschaftler James A. Miller das aus dieser Bewegung resultierende „Vermächtnis“ des Falles in der amerikanischen Kultur des 20. Jahrhunderts in den Blick.

Während sich ältere Arbeiten zu Scottsboro in erster Linie auf die Rekonstruktion der historischen Umstände des Falles konzentriert haben 1, sind in jüngster Zeit mehrere Studien erschienen, die die Perspektive auf den Fall entscheidend ausgeweitet und etwa die globalen Dimensionen des Falls herausgearbeitet haben.2 Zudem haben neuere Untersuchungen die Quellenbasis erweitert, indem etwa die zahlreichen Arbeiten zeitgenössischer bildender Künstler zu Scottsboro untersucht worden sind.3

Im Anschluss an diese Arbeiten setzt sich James A. Miller mit den Resonanzen des Falls in verschiedenen literarischen und künstlerischen Genres wie Gedichten, Novellen, Romanen, Theaterstücken und Filmen auseinander. Der Ausgangspunkt von Millers Arbeit besteht dabei in der Frage, welche spezifischen Rahmungen der Fall in den jeweiligen Werken und Gattungen erfahren hat.

Zunächst untersucht Miller hierzu das in den historischen Quellen der 1930er-Jahre entstehende Narrativ des Scottsboro-Falls. Dazu rekonstruiert er die Auseinandersetzung um die Verteidigung der Scottsboro Boys zwischen den Vertretern der ILD und der „National Association for the Advancement of Colored People“ (NAACP). Wie Miller zeigt, bestand eine wesentliche rhetorische Strategie der ILD darin, den Fall in Publikationen und öffentlichen Kundgebungen als „Legal Lynching“ zu bezeichnen und damit öffentlichkeitswirksam auf die rassistischen Prozeduren der Strafjustiz des amerikanischen Südens aufmerksam zu machen. Zudem macht Miller deutlich, wie die ILD bestrebt war, das Bild der gemeinsamen Ausbeutung der ‚weißen‘ und afroamerikanischen Arbeiter des Südens zu etablieren, um so die Vorstellung einer „schwarz-weißen“ Arbeitersolidarität zu formen (S. 17). Wie Miller auf der Grundlage von vielfältigen Quellenmaterialien demonstriert, lässt sich der Kampf um die Rechtvertretung der Scottsboro Boys auch als ideologische Auseinandersetzung um die politische Deutung des Rassismus des Südens und um die angemessene Strategie zu seiner Bekämpfung interpretieren. Während die ILD und die CPUSA sich als „revolutionäre Kräfte“ im Klassenkampf imaginierten, denunzierten sie die Strategie der NAACP, die den Rassismus des Südens über den Rechtsweg bekämpfen wollte, als „reformistisch“ (S. 24). Die Vertreter der NAACP dagegen warfen den Kommunisten vor, den Fall als Anlass zu nutzen, um kommunistische Propaganda zu verbreiten, ohne an dem Schicksal der Scottsboro Boys sowie der nachhaltigen Verbesserung der Lage der afroamerikanischen Bevölkerung des Südens interessiert zu sein.

Im weiteren Verlauf untersucht Miller die Resonanzen des Falls in der amerikanischen Dichtung und Literatur der 1930er- und 1940er-Jahre (Kapitel 3 und 4). Wie er etwa am Beispiel der Arbeiten von Langston Hughes, einem der bekanntesten Vertreter der „Harlem Renaissance“, zeigt, verband sich in dessen Werken die Bezugnahme auf den realen Fall Scottsboro mit dem Aufruf an die „black community“, im Kampf gegen die rassistische Diskriminierung innerhalb und außerhalb des amerikanischen Südens selbst eine zentrale Rolle einzunehmen (S. 60).

Zudem untersucht Miller mehrere Theaterstücke über den Fall Scottsboro, die in den 1930er-Jahren insbesondere auf New Yorker Bühnen zum Teil große Erfolge feierten. Im Mittelpunkt stehen dabei die beiden populärsten Stücke über den Fall, nämlich John Wexleys „They shall not die“ sowie Paul Peters und George Sklars „Stevedore“. Trotz der ausführlichen Auseinandersetzung mit dem Inhalt der Stücke bleibt Millers übergeordnete Deutung dieser öffentlich aufgeführten Bühnenwerke wie auch der zuvor analysierten Gedichte im Unklaren. Einer der Gründe hierfür ist, dass Miller in seiner Diskussion der verschiedenen künstlerischen Arbeiten meist bei ihrer Vorstellung und Nacherzählung verharrt. Dabei lässt Millers Analyse eine Verortung der untersuchten Werke in ihrem zeitgenössischen Kontext nahezu gänzlich vermissen. Gerade in den frühen 1930er-Jahren führte der Fall Scottsboro zu einer Mobilisierung von höchst unterschiedlichen politischen und sozialen Gruppierungen innerhalb und außerhalb der USA, die in weltweite Massendemonstrationen resultierte. Unbeantwortet bleibt die Frage, welche Rolle die untersuchten künstlerischen Arbeiten innerhalb dieser nationalen und globalen Reaktion auf den Fall Scottsboro einnahmen.

Überaus aufschlussreich dagegen ist die nachfolgende Analyse der literarischen Arbeiten von Richard Wright, die in den 1930er-Jahren vor dem Hintergrund des Falles entstanden. Hier gelingt Miller eine aufschlussreiche Deutung von Richard Wrights Novellen „Fire and Cloud“ und „Bright Morning Star“ vor dem zeitgenössischen Kontext der 1930er-Jahre. Wie Miller zeigt, zirkulieren beide Novellen sowohl um das Thema der afroamerikanischen „Agency“ angesichts der andauernden rassistischen Unterdrückung als auch um die Frage einer „schwarz-weißen“ Solidarität innerhalb der Arbeiterklasse des amerikanischen Südens. Äußerst bemerkenswert ist zudem Millers Interpretation von Richard Wrights „Native Son“, die insbesondere die Komplexität und die Vielschichtigkeit des Romans herausstellt. Miller analysiert das preisgekrönte Werk sowohl durch eine intensive textimmanente Lektüre, als auch durch den Einbezug der Biographie von Richard Wright, der als Herausgeber des „Daily Worker“ selbst in der CPUSA aktiv war. Darüber hinaus bezieht Miller den soziokulturellen Kontext der 1930er-Jahre in seine Analyse mit ein, indem er die Handlung des Romans in Beziehung setzt zu den Positionen und Wendungen der kommunistischen Bewegung in der sogenannten „Negro-Question“. Wie Miller darüber hinaus zeigt, wohnt den Romanfiguren in „Native Son“ eine grundsätzliche Gebrochenheit inne, die nicht zuletzt den grundlegend unsicheren Platz afroamerikanischer Subjekte innerhalb der amerikanischen Gesellschaft der 1930er-Jahre verdeutlicht (S. 166).

Im Gesamtblick auf die Arbeit von Miller ist weiterhin das Kapitel über den bekanntesten der Scottsboro Boys, Haywood Patterson, hervorzuheben (Kapitel 6). Im Zentrum des Kapitels steht der von der bisherigen Forschung bislang vernachlässigte, jahrelange Briefwechsel zwischen dem in Alabama inhaftierten Patterson und Anna Damon, einer der Aktivistinnen der ILD. Die Briefe zeigen, in welcher Weise Patterson sich einerseits gegenüber seiner ‚weißen‘ Briefpartnerin als hilfsbedürftiges Opfer darstellte, er aber andererseits auch von seiner Machtposition gegenüber der ILD Gebrauch machte, die für ihre Kampagnen auf die Kooperation der Scottsboro Boys angewiesen war. Die überaus interessanten Briefe, die von Miller leider nur sehr schematisch interpretiert werden, geben auch einen Einblick in Pattersons Erfahrung der Gefangenschaft. In den Briefen, in denen Patterson über von ihm geforderte homosexuelle Handlungen durch Mithäftlinge berichtet, werden aufschlussreiche Überkreuzungen zwischen den Feldern Prostitution, Homo-/Heterosexualität und afroamerikanisches „Mannsein“ im Süden der USA erkennbar – Aspekte, die gerade für den Fall Scottsboro zentral waren und deren Relevanz in jüngster Zeit von den zahlreichen kulturwissenschaftlichen inspirierten Arbeiten zur Geschichte der Männlichkeiten in den USA bestätigt wird.4 Bedauerlicherweise vermeidet es Miller, diese Briefe einem „close reading“ und damit einer detaillierten Analyse zu unterziehen.

Herauszuheben ist dagegen Millers Lektüre der Autobiographie von Haywood Patterson, die 1949 unter dem Titel „Scottsboro Boy“ erschien und die er gemeinsam mit dem Journalisten und Kommunisten Earl Conrad verfasste. Wie Miller deutlich macht, stellt diese Autobiografie ein ungewöhnliches Portrait dar. Indem sie Pattersons „stubborn, proud, defiant, and lonely individualism“ zu erkennen gab, wich sie laut Millers Deutung dezidiert von den impliziten Werten und Konventionen der zeitgenössischen Gefangenenliteratur ab (S. 188).

Aufschlussreich ist außerdem das abschließende Kapitel des Buchs zu Harper Lees Romanbestseller „To kill a mockingbird“ (1960). Hier verweist Miller auf die augenfälligen Parallelen zwischen Lees Werk und den historischen Geschehnissen im Fall Scottsboro. Darüber hinaus argumentiert Miller, dass Lees Buch, das allein bis 1992 über 15 Millionen mal verkauft wurde, gewissermaßen die gegenwärtige Version des Scottsboro-Falls darstellt. So hielten das Buch und dessen Verfilmung aus dem Jahr 1962 die Erinnerung an Scottsboro auf ganz spezifische Weise im kollektiven Gedächtnis der USA, während sich der Fall Scottsboro selbst heute nahezu gänzlich daraus verabschiedet habe (S. 234).

In der Bilanz dokumentiert Millers Arbeit eindrucksvoll die Vielseitigkeit und Vielschichtigkeit der Resonanzen des Falls Scottsboro in der amerikanischen Kultur des 20. Jahrhunderts. Hervorzuheben ist dabei insbesondere die Breite der Quellenbasis, auf die sich die Arbeit von Miller stützt. Die breite Auswahl der untersuchten Materialien - von Briefen, Gedichten bis hin zu Theaterstücken und Filmen - macht deutlich, dass der Fall nicht getrennt von seinen Wechselwirkungen mit der amerikanischen Literatur und Kunst des 20. Jahrhunderts betrachtet werden kann. Während die breite Materialbasis einerseits zu neuen Einsichten führt, fehlt es dem Buch an einigen Stellen (insbesondere in den Kapiteln 3, 4 und 6) an analytischen Passagen, die die zahlreichen angeführten Zitate einordnen und interpretieren. Insgesamt aber bleibt zu konstatieren, dass „Remembering Scottsboro“ in beeindruckender Weise den Blickwinkel auf Scottsboro weitet. Als ein Fall, der in emblematischer Weise, die (bis heute andauernde) Durchdrungenheit und Zerrissenheit der amerikanischen Gesellschaft entlang und quer zu den Kategorien von ‚Rasse‘, Klasse, Geschlecht und Sexualität illustriert.

Anmerkungen:
1 Dan T. Carter, Scottsboro. A tragedy of the American South, Baton Rouge 1969; James E. Goodman, Stories of Scottsboro, New York 1994.
2 Siehe u.a. Susan Pennybacker, From Scottsboro to Munich. Race and political culture in 1930s Britain Princeton 2009; Eve Rosenhaft / James A. Miller / Susan D. Pennybacker, Mother Ada Wright and the International Campaign to Free the Scottsboro Boys, in: American Historical Review 106 (2001), S. 387-403.
3 Siehe hierzu Dora Apel, Imagery of lynching. Black men, white women, and the mob, New Brunswick 2004.
4 Einen Überblick über die neueren Forschungsarbeiten zur Geschichte der Männlichkeiten in den USA bietet: Jürgen Martschukat / Olaf Stieglitz, Geschichte der Männlichkeiten, Frankfurt am Main 2008.

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