O. Shevchenko: Crisis and the Everyday

Cover
Titel
Crisis and the Everyday in Postsocialist Moscow.


Autor(en)
Shevchenko, Olga
Erschienen
Anzahl Seiten
xii, 241 S.
Preis
$ 24.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ingrid Oswald, Centre for Independent Social Research (CISR), St. Petersburg / Institut für Soziologie, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg

Die Wahrnehmung des Geschehens in Ost(mittel)europa wird nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht klar durch Epochen und durch sich verschiebende Großregionen bestimmt: Vor-, Zwischen- und Nachkriegszeit, Zerfall von Imperien und Fügung neuer politischer Systeme. Als Zäsur galt lange das Jahr 1989, doch inzwischen zeichnet sich eine neue Zeitlinie ab, die in etwa mit der Jahrtausendwende zusammenfällt. Sie ist bei Weitem nicht so scharf begrenzt wie die anderen, die durch Kriegsbeginn, Friedensverträge oder Revolutionen definiert sind – doch immerhin, zwanzig Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion wird deutlich, wie stark sich das erste „Nachwende-Jahrzehnt“ von dem ersten Jahrzehnt im neuen Jahrtausend unterscheidet. Die alte politische Systemgrenze zwischen dem „Ostblock“ und Westeuropa wurde durch die weit nach Osten verlagerte EU-Grenze abgelöst, was nicht nur das politische Tagesgeschehen stark beeinflusst, sondern auch den Blick auf die historische, auf der Zugehörigkeit zu großen Imperien beruhende, Entwicklung diesseits und jenseits dieser neuen Grenze, schärft.

Dies ist der – gleichwohl von der Autorin wenig thematisierte – Hintergrund, vor dem Olga Shevchenko das Lebensgefühl der Moskauer Bevölkerung in den 1990er-Jahren beschreibt. Das Buch der Assistenzprofessorin für Soziologie am Williams College fügt sich ein in eine Reihe von Arbeiten über den Alltag, über Gedächtnisarbeit und Identität im Postsozialismus, insbesondere in Russland und da wiederum vor allem in Moskau. Shevchenko nimmt vor allem die Reaktionen auf die oft schlagartig erfolgenden, mitunter aber auch schleichenden und als solche erst spät und mit Erschrecken wahrzunehmenden Veränderungen im beruflichen und privaten Leben in den Blick.

Es spricht nichts dagegen, Moskau zum Brennpunkt einer Studie über das Alltagsleben im postsowjetischen Russland zu machen; hier sind alle sozialen Schichten und alle ethnischen Gruppen vertreten, die das Sowjetreich geschaffen und beherbergt hatte. Allerdings war Moskau bei weitem nicht von dem umfassenden Verfall betroffen, dem andere Städte und Landesteile oder gar der ländliche Raum im ersten Transformationsjahrzehnt anheim fielen. Es wäre daher wissenswert, ob das Gefühl der permanenten Krise, das laut Shevchenko den Bedeutungs- und Handlungsrahmen der Moskowiter erfüllt und sich seitdem verselbständigt zu haben scheint, überhaupt ein aktuelles „russisches Gefühl“ ist.

Shevchenko führt anhand ausführlicher Interviews aus, dass diese „Krise“, die die Menschen ständig beschwören, beklagen, bearbeiten und bekämpfen, nicht als isoliertes Ereignis wahrgenommen wird. Sie sei vielmehr ein chronisches Desaster, als das es dann gewissermaßen zu „Alltag“ werden konnte. Es sei nicht der einzelne problematische Vorfall, der gewohnte Handlungsmuster, also Alltagshandeln, außer Kraft setzt, wohin man aber nach der Bewältigung des Problems wieder zurückkehren könnte. Wenn aber das, was üblicherweise Alltag unmöglich macht, nämlich eine Krise, zum Dauerzustand wird und damit doch wieder zu Alltag, bedarf es, so die Autorin, einer besonderen Konzeptionalisierung. So definiert Shevchenko bewusst keinen fixen Alltagsbegriff, um ihn auf seine Anwendbarkeit hin zu operationalisieren und in seinen einzelnen Dimensionen zu untersuchen. Sondern sie setzt sich und den Leser dem Reden über die alltägliche Bewältigung einer sich immer wieder in neuen Facetten zeigenden Krise aus.

Man muss zunächst einmal viel lesen, um Shevchenkos implizitem Alltags-Begriff näher zu kommen. Dabei sind zwei Diskurs- (und auch Befragungs-)linien zu unterscheiden: zum einen die Darstellung der Interessen und Bedürfnisse im Rahmen des „Krisen-Paradigmas“, zum anderen die Reflexion der Konsequenzen dieser Interpretationsfolie. Beide Anliegen werden von Shevchenko deutlich herausgearbeitet. Man hat förmlich vor Augen, wie die Menschen sich in komplexe Arrangements des Selbstschutzes fügen, da sie sich ständig als von Gefahren umgeben wähnen. Daraus wird letztlich mehr als einfach nur Überleben, sondern wirkliches (Alltags-)Leben, mit einer bestimmten Identität und einem entsprechenden Habitus: Man ist sich seiner Fähigkeit, die Krise bewältigen zu können, gewiss.

Diese ständige Verteidigung gegen tatsächliche, antizipierte und eventuelle Krisen, die dauernde Mobilisierung angesichts eines Notstands, der nicht Ausnahme, sondern Regel ist, hat natürlich eine eigene Dynamik. Eine Folge dieses Wahrnehmungsmusters könnte der Autorin zufolge eine Wahrnehmungsblockade sein: Die daraus resultierenden Handlungen würden dann irgendwann ihren sozialen Sinn verlieren, also nicht mehr zielgerichtet und reflektiert hinsichtlich eines jeweiligen Zweckes sein, sondern leere Routinen, Verhaltensformen, die sich irgendwann bewährt haben, aber jetzt nur noch fatale „Traditionen“ sind.

Ganz am Schluss deutet Shevchenko an, in welche Richtung zu denken ist: Die Gespräche wurden in den 1990er-Jahren geführt, als tatsächlich eine Krise die andere jagte. Doch wie jedes soziale Phänomen ändern sich eingeübte Verhaltenssyndrome nicht so schnell wieder, auch wenn sich der politische Wind gedreht haben mag. Was bedeutet dies für das Alltagsverhalten seit dem Beginn der Präsidentschaft Wladimir Putins 1999/2000, als dieser die überdrehte, manische Stimmung der ersten Transformationsjahre mit ihren irrsinnigen Bereicherungsmöglichkeiten unter Boris Jelzin jäh abdämpfte? Shevchenko verweist darauf, dass alles, was zu diesem Zweck an Politik gemacht wurde, vor dem Hintergrund der in den 1990er-Jahren gemachten Erfahrungen von Vorneherein legitimiert war. Aus heutiger Sicht kann man die 1990er-Jahre als „Scharnierjahrzehnt“ verstehen, als Verbindung zwischen Sozialismus und einem Postsozialismus, der sich in seiner russischen Variante als stabile „elektorale Autokratie“ entpuppt, also ein hybrides, auf Dauer gestelltes Präsidialsystem mit demokratischen und autokratischen Elementen.

Ob die Rede von der fortwährenden Krise wirklich eine der Erklärungen für Putins Beliebtheit und Erfolg ist, kann hier nicht entschieden werden. Zuzustimmen ist Shevchenko jedoch, dass niemand aus dieser die Krise thematisierenden und sie am Leben erhaltenden Diskursgemeinschaft ausgeschlossen ist. „Krise“ als Rahmenbegriff, wie er so umfassend beschrieben ist, zielt nicht auf Differenzierung, er nimmt eventuelle Individualisierungsgewinne wieder zurück. Wichtig ist nur, welche Familien respektive sozialen Netze gewisse Krisenszenarien durchstehen können und wie virtuos und wie staatsfern diese Strategien im Einzelnen waren. Die Ziele eines derartigen in der Krise stabilisierten Alltags sind: die Sicherung einer weitestgehenden Autonomie, Rückzug in die Selbstgenügsamkeit um ihrer selbst willen, die Befähigung zur Selbstversorgung.

Das Buch ist lesenswert für alle, die einerseits sozialwissenschaftlich interessiert sind und andererseits eine gewisse Russlanderfahrung mitbringen. Das kommende Jahrzehnt müsste erweisen, ob sich das so beschriebene post-sozialistische Krisenmilieu als solches erhalten kann.

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