M. Späth (Hrsg.): Die Bildlichkeit korporativer Siegel im Mittelalter

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Titel
Die Bildlichkeit korporativer Siegel im Mittelalter. Kunstgeschichte und Geschichte im Gespräch


Herausgeber
Späth, Markus
Reihe
Sensus. Studien zur mittelalterlichen Kunst 1
Erschienen
Köln 2009: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
264 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karsten Igel, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Kaum ein Bildmedium, abgesehen von Münzen, dürfte in so zahlreicher und zugleich vielgestaltiger Form aus dem Mittelalter überliefert sein wie Siegel, und dennoch ist in ihrer bisherigen Erforschung ein bemerkenswerter Zwiespalt erkennbar: Hat sich von Seiten der Geschichtswissenschaften seit dem 19. Jahrhundert mit der Sphragistik eine eigene Teildisziplin entwickelt, so wurden Siegel von der Kunstgeschichte bislang nur am Rande betrachtet, zwar durchaus als Kunstwerke, aber von niederem Rang. Erst mit den neuen bildwissenschaftlichen Ansätzen in der Kunstgeschichte ist eine stärkere Hinwendung zu diesem zentralen Bildträger zu verzeichnen. Die Diskrepanz in der Wahrnehmung durch beide Disziplinen, darauf weist Markus Späth in seinem einleitenden Beitrag hin, liegt auch im Gebrauch und in der Überlieferungsform der Siegel begründet. Erhalten sind sie zum überwiegenden Teil als integrales Element von Urkunden, was sie zwangsläufig zum Objekt (rechts-)historischer Forschung machen musste, während für die klassische Kunstgeschichte allein das Typar von künstlerischer Bedeutung, alles andere nur noch bloßer Abdruck war. Dabei liege, so Späth zu Recht, gerade in der Medialität, im Verwendungszusammenhang des Siegels, der sowohl kunsthistorisch wie historisch interessante Bereich. Konsequent war es daher, im Januar 2006 Vertreter beider Disziplinen in einer Tagung zu „Visualisierungsstrategien korporativer Siegel im Spätmittelalter“ zusammenzuführen, deren Beiträge nun in dem hier anzuzeigenden und gelungenen Band vorliegen. Die Wahl korporativer Siegel bezieht einen weiteren wesentlichen Aspekt ein; im Gegensatz zu personengebundenen Siegeln bedurfte es spätestens seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert neuer Bildformen, die Gruppen als deren Träger repräsentieren konnten. Der bisherigen Forschungslage entsprechend haben die historischen unter den Beiträgen des Bandes das zahlenmäßige Übergewicht.

Überzeugend legt Franz-Josef Arlinghaus zunächst Überlegungen zu „Konstruktionen von Identität mittelalterlicher Korporationen“ mit einem stützenden systemtheoretischen Rahmen dar. Anders als in der modernen Gesellschaft greift die genossenschaftlich geprägte Vergesellschaftung im Mittelalter auf den Einzelnen als Ganzes zu, was entsprechende Folgen für die Repräsentation mit sich bringt. Hier kann so der Einzelne für die Gruppe, aber eben auch die Gruppe des Rates stellvertretend für die Stadt oder genauer für die Bürgergemeinde stehen. Stadt- und andere korporative Siegel verwenden die Gruppe aber nur in seltenen Fällen als Motiv (zum Beispiel Dijon), die zahlreichen abbreviaturartigen architektonischen Darstellungen von Mauern, Toren und Kirchen in diesem Zusammenhang sind nicht als realitätsnahe Abbilder, sondern als symbolische (himmlisches Jerusalem) Repräsentation der Gemeinde zu verstehen. Insgesamt bleibt die Varianz städtischer Siegelbilder aber ausgesprochen breit. Brigitte Miriam Bedos-Rezak („Ego, Ordo Communitas. Seals and the Medieval Semiotics of Personality (1200–1350)“) betrachtet in der Folge aus semiotischer Perspektive ebenso überzeugend die Entwicklung eines ursprünglich ausschließlich auf Einzelpersonen bezogenen Zeichensystems hin zum Gebrauch durch Gruppen, der seit dem 12. Jahrhundert an zunehmender Bedeutung gewinnt. Auch Manfred Groten („Vom Bild zum Zeichen. Die Entstehung korporativer Siegel im Kontext der gesellschaftlichen und intellektuellen Entwicklungen des Hochmittelalters“) zeichnet durchaus vergleichbar und ergänzend den Weg vom Porträtsiegel über das Heiligensiegel, das, in der Gestalt noch ähnlich, sich bereits als Siegeltyp für Klöster, Stifte und Städte eignete, hin zum korporativen Siegel. Dahinter steht zugleich eine veränderte Sicht der Scholastik, nach der das Siegel nicht mehr als Projektion der Person gedeutet wird, sondern als Objekt eigener Substanz, das sich damit als Zeichen auch auf Gruppen beziehen lässt. Einher geht dies mit der Herausbildung von Korporationen mit eigener, besonderer rechtlicher Qualität, wie den Kapiteln und den Bürgergemeinden im Laufe des 12. Jahrhunderts.

Den Blick über die Siegel hinaus erweitert Peter Schmidt („Materialität, Medialität und Autorität des vervielfältigten Bildes und andere Bildmedien des Mittelalters in ihren Wechselwirkungen“), indem er vergleichend auf Pilgerzeichen als die wohl verbreitetsten Bildträger des Mittelalters schaut. Dort, wo die Pilgerreise Teil einer Strafe war, kam diesen – dem Siegel ähnlich – zudem die Funktion eines rechtlichen Beglaubigungsmittels zu. Als einer der besten Kenner der Materie betrachtet Winfried Schich „Redende Siegel brandenburgischer und anderer deutscher Städte im 13. und 14. Jahrhundert“ – ein Typus, der gerade bei den jüngeren Stadtsiegeln eine weite Verbreitung fand. Die Bildformen könnten allerdings schon einer älteren Verwendung auf Stadtmarken zur Kennzeichnung von städtischem Besitz entstammen. Schon mit dem Titel „Die Besiegelung des Rathauses. Der Veneçia-Tondo am Dogenpalast von Venedig“ sticht der Beitrag von Andrea Lermer ins Auge. Mit dem sich an Kaisersiegel anlehnenden Bildwerk dokumentierte die Lagunenstadt ihre in Eigensicht im Gegensatz zu den übrigen italienischen Kommunen kaisergleiche Stellung.

Ebenfalls Italien erfasst Ruth Wolff („Siegel-Bilder: Überlegungen zu Bildformularen und -ebenen am Beispiel italienischer Siegel um 1300“) mit der Vorstellung eines Projektes des Kunsthistorischen Instituts in Florenz1, das die Siegel nicht nach ihren Führern, sondern in mehr kunsthistorischer Perspektive nach ihren Motiven geordnet erfasst, woraus sich neue Vergleichsmöglichkeiten ergeben könnten, was Wolff am Beispiel des Siegels des Franziskaners Matthäus ab Acquasparta veranschaulicht. Andrea Stieldorf („Recht und Repräsentation. Siegel und Siegelführung in mittelalterlichen Frauenkommunitäten“) verweist auf die bei Frauenkonventen später einsetzende Siegelführung, für die zumeist der Hauptpatron als Motiv gewählt wurde. Am Beispiel des Stiftes Gandersheim zeigt sie die wechselnde Verwendung von Motiven im Streit um die Exemtion auf. Gegen eine regelhafte Interpretation von Stadtabbreviaturen als Symbol des himmlischen Jerusalem in der Nachfolge Günter Bandmanns2, wie sie sich auch in zahlreichen Beiträgen dieses Bandes findet, wendet sich Christoph Winterer („Von den Anfängen der Stadtsiegel. Das Volk und seine Anführer zwischen Heiligkeit und feudaler Ordnung“). Nach seiner Aussage sei kaum überliefert, dass eine Stadt als Bild oder Vorläufer der Himmelsstadt gesehen worden wäre (S. 187). Dies überzeugt nicht. Die Verbindung von Himmelsstadt und realer irdischer Stadt findet sich beispielsweise in Predigten von Albertus Magnus und Giordano da Pisa auf Augsburg und Florenz bezogen.3 In einer auf das Jüngste Gericht ausgerichteten Gesellschaft zählte das himmlische Jerusalem zudem zu den zentralen theologischen Bildern, und schließlich bot es sich der Stadt als ideale Legitimation in der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung an – als geradezu gottgewollte Ordnung. Die detaillierte Diskussion seiner potentiell fruchtbaren Frage umgeht Winterer allerdings, indem er als Beispiele Trier wählt, das in der Tat komplexer ist, sowie Saint-Omer, dessen Siegel auf dem Avers das Schöffenkolleg zeigt. Wolfgang Krauth („Stadtsiegel in Soest und Coesfeld. Zwei westfälische Bischofsstädte im Vergleich“) stellt anhand der beiden Städte sein Dissertationsprojekt zu den westfälischen Städtesiegeln vor, in dem er unter anderem kritisch einem Konnex zwischen Motivwahl und Grad der städtischen Autonomie nachgeht. Der Abschluss der Arbeit darf mit Spannung erwartet werden. Dem Verhältnis zwischen Privilegiengeber und Stadt oder Rat in bildlicher Abgrenzung oder Anlehnung geht auch Antje Diener-Staeckling („Zwischen Stadt und Rat. Das Siegel als Zeichen von städtischer Repräsentation seit dem 14. Jahrhundert“) am Beispiel von Halberstadt und Naumburg überzeugend nach und verweist auf die hier notwendige Unterscheidung zwischen eigentlichem Stadtsiegel und jenem des Rates. Thomas Michael Krüger („Zeugen eines Spannungsverhältnisses? Die mittelalterlichen Siegel des Augsburger Domkapitels und der Augsburger Bürgerschaft“) thematisiert schließlich das wechselhafte Verhältnis zwischen Domkapitel und Stadt und deren Auswirkung auf deren Siegeltypen. Während für diese eine wechselseitige Einflussnahme nicht feststellbar ist, erscheint aber die Anbringung beider Siegel an gegenseitigen Verträgen bemerkenswert – zwischen ihnen finden sich die Siegel der vermittelnden Personen. Später erscheinen beide Siegel nicht mehr zugleich an einer Urkunde, ein Hinweis auf Rangfolgen wurde damit vermieden.

Die Vielfalt der Beiträge und ihrer Ansätze des gut und reich bebilderten Bandes kann hier nur knapp skizziert werden, die zu empfehlende Lektüre bietet zahlreiche Anregungen für eine weitere historisch-kunsthistorische Bestellung dieses Arbeitsfeldes.

Anmerkungen:
1 Das Projekt des Kunsthistorischen Instituts in Florenz online unter: <http://expo.khi.fi.it/galerie/sigilli> (12.04.2010).
2 Günter Bandmann, Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger, Berlin 1951.
3 Vgl. Ulrich Meier, Mensch und Bürger. Die Stadt im Denken spätmittelalterlicher Theologen, Philosophen und Juristen, München 1994, S. 35–54.