A. Malycha: Die Akademie der Pädagogischen Wissenschaften

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Titel
Die Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR 1970-1990. Zur Geschichte einer Wissenschaftsinstitution im Kontext staatlicher Bildungspolitik


Autor(en)
Malycha, Andreas
Reihe
Beitraege zur DDR-Wissenschaftsgeschichte. Reihe C. Studien 1
Erschienen
Anzahl Seiten
394 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gert Geißler, Deutsches Institut für internationale pädagogische Forschung, Berlin

Im Verhältnis von Wissenschaft und Politik gibt es mitunter besonders kurze Wege. So war das Gebäude des ehemaligen Preußischen Kultusministeriums, in dem die Akademie der Pädagogischen Wissenschaften (APW) der DDR residierte, unmittelbar verbunden mit dem Nachbarhaus, jenem realsozialistischen Neubau in der Straße Unter den Linden in Berlin, den 1964 das Ministerium für Volksbildung bezogen hatte. Symbolisierte der Bau an der Ecke vor dem Brandenburger Tor nicht die schulpolitische Abrufbereitschaft von pädagogischer Wissenschaft in der DDR? Auf den ersten Blick und bei fast jedem Blick in die veröffentlichte pädagogische Literatur der DDR scheint das zweifelsfrei. So etwas wie ein Eigenleben für Wissenschaft und Wissenschaftler lässt sich gerade in der ehemaligen Akademie der Pädagogischen Wissenschaften, welche die Spitze diktatorischer Schulpolitik unmittelbar zum Nachbarn hatte, am wenigsten vermuten. Und es kommt hinzu, dass, wie Andreas Malycha vermerkt, die Beziehungen zwischen Akademie und Ministerium „nicht auf ein einseitiges Unterordnungsverhältnis reduziert“ werden können. Häufig – wenn auch nicht immer – habe die Akademie in den bildungspolitischen Entscheidungen des Ministeriums wissenschaftlich zu legitimierende Maßnahmen gesehen, mit denen sie sich uneingeschränkt identifizierte (S. 168).

Nun gibt es aber Darstellungen zur DDR-Wissenschaftsgeschichte, die vermuten lassen, dass es selbst in den pädagogischen Wissenschaften der DDR und auch noch zu Zeiten der Akademie zu gewissen Theoriekontroversen gekommen ist. Malycha kann seine Untersuchung von daher an die Frage binden, ob es „trotz Steuerungsdominanz der Politik und einem hohen Maß an Politisierung der Wissenschaft Bereiche und Elemente der wissenschaftlichen Selbstorganisation und der relativen Autonomie“ (S. 11) gegeben hat. Waren unter diktatorischen oder totalitären Herrschaftsbedingungen vielleicht sogar „Möglichkeiten zur Realisierung wissenschaftlicher Eigeninteressen“ (S. 20) vorhanden?

Die Suche nach Antwort erfordert zunächst, den institutionellen Raum zu erkunden. So kennzeichnet Malycha im ersten, umfangreicheren Teil (S. 41-230) die Entstehungsgeschichte, die wissenschaftspolitischen Rahmenbedingung und das Forschungs- und Aufgabenprofil der Einrichtung, ihrer 13 Institute und der ebensovielen Arbeitsstellen. Behandelt werden Leitungshierarchie und Führungspersonal, sowie die Arbeitsweise der Akademie. Allein schon wegen ihres sonst nicht verfügbaren Informationsgehalts sind auch die Passagen über Zeitschriften und Publikationspraxis sowie über die Aspirantur der Akademie nicht weniger interessant. Allemal sind die Darstellungen sehr konzentriert, gelegentlich auch kursorisch gehalten. Im Fall der Aspirantur, die als eine Art Graduiertenschule schon seit 1954 am Vorläuferinstitut der Akademie bestand, muss so leider offen bleiben, in welchen organisatorischen Formen und mit welchen wissenschaftlichen Gehalten und Standards dieses für die APW-Nachwuchsentwicklung wichtige Instrument arbeitete. Bei den Zeitschriften vermisst man die Erwähnung der so genannten „grauen Literatur“ bis hin zu den monatlich verbreiteten „Informationen für leitende Kader“.

Anerkennung verdienen die in den Text eingearbeiteten biografischen Hinweise zum Führungspersonal der Akademie. Dass Bemühungen um Tiefe und Breite der Recherche gerade hier auf Grenzen treffen, ist verständlich. Aber unbelegt zu behaupten, „alle Genannten“ – das betrifft insgesamt 15 Personen – hätten eine „mehrjährige“ politische und ideologische Schulung an der Parteihochschule der SED „bzw. der KPdSU“ (!) vorzuweisen gehabt (S. 70), ist dann doch Fahrigkeit. Mit Ausnahme des Akademiepräsidenten, der 1956 nach dreijähriger Aspirantur in Leningrad promovierte, gibt es im Übrigen keine Anhaltspunkte dafür, dass das Akademiepersonal auf der höchsten Leitungsebene der russischen Sprache mächtig gewesen wäre.

Schlichtweg falsch ist die Angabe zu Max Gustav Lange (S. 40). Es ist hinlänglich bekannt, dass dieser in den Jahren 1953/54 nicht, wie Malycha vermerkt, Chefredakteur der Zeitschrift „Pädagogik“ (S. 105) war, sondern zu dieser Zeit in West-Berlin die Drucklegung seiner Schrift über „Totalitäre Erziehung. Das Erziehungssystem der Sowjetzone Deutschlands“ (Frankfurt am Main, 1954) vorbereitete. Ein an anderer Stelle (S. 140) erwähnter Hans-Jürgen Döbert kann 1970 bis 1974 zwar Student und Lehrer, aber nicht Direktor des Instituts für Erziehung gewesen sein. So gibt es in der Untersuchung Malychas dann doch Stellen, an denen es scheinen kann, als gehe die Analyse der Kenntnis etwas voraus.

Was die wissenschaftliche Kompetenz der genannten Führungspersonen an der Akademiespitze anbelangt, fällt das Urteil Malychas ansonsten recht ungünstig aus. Nur vier dieser Männer wird wegen ihrer fachlichen Herkunft nicht aus dem Apparat des Ministeriums, sondern aus Universitäten und Hochschulen, zugestanden, sich „nicht ausschließlich als wissenschaftsorganisatorische Administratoren, sondern zugleich als Wissenschaftler“ (S. 70) verstanden zu haben. Zwar können solche Unterscheidungen aufschlussreich sein, aber sie führen auch dazu, dass es ausgerechnet der spätere Leiter des Potsdamer Instituts für Leitung und Organisation des Volksbildungswesens ist, dem wegen seines universitären Karrierebeginns von Malycha ein wissenschaftliches Selbstverständnis zugemessen wird. Unter direkter Anleitung und Kontrolle durch die Ministerin führte das für die zentrale politisch-weltanschauliche Qualifizierung der Schulfunktionäre zuständige Institut ansonsten ein ausgeprägtes Eigenleben gänzlich jenseits wissenschaftlich-theoretisch ambitionierter Forschung.

Ausführlich und mit Hinweisen nun auch zu Persönlichkeitsprofilen auf Seiten der Volksbildungsadministration behandelt Malycha das Unterstellungsverhältnis zwischen Ministerium und Akademie (S. 167-221). Er kann an zahlreichen Beispielen zeigen, wie dirigistisch und disziplinierend das Ministerium als Auftraggeber und Abnehmer von Forschung verfuhr. Zu Recht wird auf die unmittelbar an die Person von Margot Honecker gebundene Sondersituation hingewiesen, in der Ministerium und Akademie gewissermaßen als ministeriell-akademischer Komplex den für Schul- und Bildungspolitik eigentlich letztinstanzlich zuständigen Parteiapparat des ZK der SED ausmanövrierten (S. 176).

Im zweiten Teil seiner Arbeit gelingt es Malycha, selbst unter den politisch-ideologisch augenscheinlich erdrückenden Bedingungen der Akademie disziplinäre Konflikte und Kontroverse aufzufinden, Ambivalenzen in der Forschungspraxis aufzuspüren sowie Chancen und Grenzen pädagogischer Theorienentwicklung zu verdeutlichen. Im Blick stehen vornehmlich die so genannten „Theorie-Institute“ der Akademie als jene Bereiche der Forschung, die auf „Analyse, Erklärung und Kategorisierung“ (S. 325) pädagogisch relevanter Erscheinungen gerichtet waren.

Gefragt wird nach deren Wirkungsmöglichkeiten vor allem der psychologisch-empirischen Forschung, ebenso der Bildungssoziologie, und der Bildungsökonomie. Zwar gab es für die entsprechenden Institute nur eine bedingte, keinesfalls zwingende ministerielle Verwendung, aber ohne sie hätte das vormalige, seit 1949 bestehende Deutsche Pädagogische Zentralinstitut 1970 kaum in den Akademiestatus treten können. Besonders diese Institute, die „ihre Ansichten, methodischen Ansätze und Forschungsergebnisse in Kenntnis der internationalen Diskussion (formulierten) und diese in Teilbereichen mitbestimmten“ (S. 366), strapazierten den der Akademie gesetzten schulpädagogisch-bildungspolitischen Rahmen gelegentlich ernsthaft. Bis hin zur Publikationsverhinderung, dem Finale disziplinärer Theoriekontroversen, kann Malycha auch für die Didaktik Spannungslagen darstellen. Inzwischen liegen neue, bestätigende Befunde zur Diskussion auch in der Allgemeinen Pädagogik (S. 349ff.) vor1, und für die Vergleichende Pädagogik hätten sie ergänzend durchaus in die Darstellung einbezogen werden können.2

Unter Verwendung moderner wissenschaftstypologischer Ansätze misst Andreas Malycha allen diesen Kontroversen den „Charakter eines Widerstreites“ (S. 346) zu. Seine Untersuchung findet „Differenzen in den Auffassungen“ (S. 345) jeweiliger Disziplinen, nicht Diskurse, auf, denen konkurrierende, alternative methodische Ansätze eigen sind. Er ordnet die APW-Kontroversen „horizontaler Theorieproduktion“ zu und grenzt sie damit ab von solchen, in denen ideologisch vorgezeichnete Grundannahmen des Marxismus-Leninismus etwa durch Versuche einer „vertikalen Theorieproduktion“ mit qualitativ neuem Orientierungswissen in Frage gestellt worden wären. Die Manifestation solcher Theorieproduktionen, die in der Wissenschaft einen Paradigmenwechsel sowie in der Schulpolitik Reformen impliziert hätten, ist an der Akademie schon in Vorfeld und Ansatz verhindert worden.

Andreas Malycha hat nicht beabsichtigt, eine Geschichte der Akademie zu verfassen. Seine Monografie lediglich als einen weiteren Beitrag zu einer solchen Geschichte zu sehen, wäre in der Tat verfehlt. Vielmehr bietet der Band ungeachtet einiger Monita erstmals einen fundierten Überblick zu Struktur, Funktionsweise und Forschungsprofil der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften. Er verschafft Zugang zur Geschichte einer ganzen Anzahl von pädagogischen Disziplinen, klärt im spezifischen Fall über institutionelle Macht- und Herrschaftsverhältnisse im Wissenschaftssystem der DDR auf und ist anschlussfähig für weitere Arbeiten zur Wissenschaftsgeschichte. Historikern und Erziehungswissenschaftlern kann er gleichermaßen empfohlen werden.

Anmerkungen:
1 Wolfgang Eichler (Hrsg.), Erziehung als Moment der Gesellschaftsentwicklung. Heidemarie Möllers Beitrag zur Theorie und Methodologie einer allgemeinen
Pädagogik in der DDR. Frankfurt am Main 2009.
2 Siehe auch Horst Messmer, Ein Kapitel aus den Kontroversen um eine erziehungswissenschaftliche Komparatistik der DDR. Diskussion mit Werner Kienitz 1995, in: Bodo Willmann (Hrsg.), Bildungsreform und vergleichende Erziehungswissenschaft. Aktuelle Probleme - historische Perspektiven. Leonhard Froese zum Gedenken, Münster 1995, S. 173-206.

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