Fritz Bauer Institut u.a. (Hrsg.): Moralität des Bösen

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Titel
Moralität des Bösen. Ethik und nationalsozialistische Verbrechen


Herausgeber
Fritz Bauer Institut; Konitzer, Werner; Gross, Raphael
Reihe
Jahrbuch 2009 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust
Erschienen
Frankfurt am Main 2009: Campus Verlag
Anzahl Seiten
269 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kerstin von Lingen, Sonderforschungsbereich 437 „Kriegserfahrungen - Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit“, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Die Analogie zu Hannah Arendts Gerichtsreportage „Eichmann in Jerusalem“ und ihrem Bericht von der „Banalität des Bösen“ ist natürlich in der Titelwahl beabsichtigt. Doch geht es bei der „Moralität des Bösen“ um eine deutlich erweiterte Perspektive auf den Themenkomplex NS-Verbrechen, nämlich um den Zusammenhang zwischen Ideologie und Moral und die Legitimierung der daraus erwachsenden, todbringenden Radikalität. Im Zentrum steht die seit einigen Jahren diskutierte Frage, ob die Täter auch deshalb kein Unrechtbewusstsein zeigten, weil sie glaubten, innerhalb ihrer Werteordnung „anständig“ zu handeln.

Man denkt sogleich an Himmlers Rede in Posen von 1943, in der er seine kruden Vorstellungen von SS-Ethik mit den Worten zum Ausdruck brachte: „Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1.000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.“

Im Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts von 2009, in von den Herausgebern sorgfältig zusammengestellten Textbeiträgen bekannter Philosophen, Politikwissenschaftler und Historiker, verbergen sich hinter der Frage nach den Inhalten dieser „Anständigkeit“ mehrere Forschungsfelder. Es geht um Antisemitismusforschung wie um Täterforschung, um Forschungen zur Rassenlehre und Eugenik, um Ideologie und Weltanschauung im Nationalsozialismus wie um die kontroverse Debatte einer im NS-Staat angestrebten „neuen Moderne“ sowie schließlich um die Frage einer im „deutschen Sonderweg“ gründenden Disposition der Gesellschaft für den Nationalsozialismus.

Der Band bewegt sich vor allem auf der philosophischen Ebene und diskutiert die Grundfrage, ob man dem Nationalsozialismus eine eigene Moral zubilligen muss, oder ob nicht vielmehr nur eine, universal gültige Moral existiert, die zu dieser Zeit außer Kraft gesetzt wurde. Dadurch beschleicht einen bei der Lektüre zeitweilig ein Gefühl wissenschaftlicher Ambivalenz, ja Amoralität. Darf man diese Fragen nach der „inneren Logik“ der Tat überhaupt stellen? Rehabilitiert man nicht unbeabsichtigt die Täter, wenn man ihren Beweggründen ein Maß an Rationalität zuschreibt, das in ihrem Handeln als solchem nicht erkennbar war? Die Spannung, die in diesen Leitfragen erkennbar ist, zieht sich durch den ganzen Band und macht ihn daher für Moraltheoretiker, Philosophen und Historiker zu einer gleichermaßen anregenden Lektüre.

Einen großen Teil des Bandes nehmen diejenigen Essays ein, die sich mit der Frage beschäftigen, was eine nationalsozialistische Moral eigentlich gewesen sein mag. Einig sind sich alle Autorinnen und Autoren – etwa Wolfgang Bialas, Werner Konitzer, Herlinde Pauer-Studer und Ernst Tugendhat –, dass der Nationalsozialismus allenfalls eine verzerrte Form von normativer Ordnung generieren konnte, da er universalistische ethische Konstanten verneinte. Gleichwohl: Für seine Anhänger stellte der Nationalsozialismus eine (Wert-)Ordnung dar. Auch Vergleichsaspekte werden angerissen: Rolf Zimmermann analysiert anhand einer Gegenüberstellung von NS-Judenpolitik und der kontrollierten Hungerpolitik gegen die Kulaken in der Ukraine, dem so genannten Holodomor, die fatale Neigung von Ideologien, zu Andersartigen erklärte Menschen nicht nur aus der Gemeinschaft auszuschließen, sondern zu vernichten und mit einer kruden „Erlösermoral“ jedes Mitleid mit den Opfern von vornherein zu unterbinden. Der zweite Teil des Bandes enthält Essays zur inneren Logik der Rassenlehre, zum Niederschlag der NS-Ideologie in Theologie, Jurisprudenz und Philosophie sowie innerhalb der SS. Diese Beiträge bieten sehr lesenswerte Erkenntnisse zur Verschränkung zwischen dem Herrschaftsgefüge und der Legitimierung des „Dritten Reichs“.

Der Band bietet damit neue Ansätze und weist über die historische Grundlagenforschung hinaus, die gerade in den letzten 15 Jahren große Lücken schließen konnte und nicht zuletzt durch die Kontroverse um die „Wehrmachtausstellungen“ auch die Frage nach der Durchdringung der Gesellschaft mit einer neuen Moral stellte. Es ist inzwischen unstrittig, dass sich neben NS- und Parteiformationen auch Wissenschaft und Wehrmacht zu Komplizen eines Krieges gegen Zivilisten und Kriegsgefangene machten und in Planungsstäben daran mitarbeiteten, neue Wertmaßstäbe und Normen der Kriegsführung zu etablieren, die das Ziel hatten, den Gegner physisch zu vernichten. Ungeklärt ist nach wie vor die Frage, inwieweit ideologische Erklärungsmuster die Taten möglicherweise vor dem eigenen Gewissen legitimieren halfen – oder ob den Tätern nicht trotz aller NS-Rhetorik während des Mordens die Verwerflichkeit ihres Tuns stets innerlich bewusst blieb. Der vorliegende Band bietet viele anregende Aspekte, die für die eine oder die andere These sprechen, löst aber den Widerspruch nicht grundsätzlich auf.

„Moralität“ wird gerade in den letzten Jahren auch in der Geschichtswissenschaft reflektiert; dabei verschränken sich im Hinblick auf die Geschichte des Nationalsozialismus moralphilosophische Aspekte mit Fragen nach der juristisch relevanten Dimension einer Tat, also dem Zusammenhang zwischen unmoralischem Handeln und Strafe. Mit Blick auf die Wehrmacht und die Erinnerungsforschung hat Ulrike Jureit dazu an anderer Stelle einige Grundüberlegungen geäußert.1 Harald Welzer hat herausgearbeitet, dass die so genannten „Handlungsspielräume“ stets von persönlichen Dispositionen, biographischen Erfahrungen, individuellen Einstellungen und der Handlungskompetenz abhängig sind, die es zu erforschen gilt, um die Disposition des Täters entschlüsseln zu können.2

Befehlsempfänger sind nicht frei in ihrem Handeln, denn dieses beruht primär auf einem erzwungenen Wollen und nur begrenzt auf Eigeninitiative. Dieser Zwang, durch ideologische Rhetorik verbrämt und mit positiven Begriffen wie „Anständigkeit“ zur vermeintlichen Pflicht umgewidmet, erzeugt Handlungssituationen, die den Befehlsempfänger in den Glauben versetzen, durch seine Widerwilligkeit bzw. die Zwangssituation sei er für sein Handeln nicht mehr verantwortlich und distanziere sich vom Geschehen. Dieses Grundmuster, das sich in späteren Rechtfertigungsschriften und soldatischen Erinnerungen wiederfindet, wird häufig unter dem Satz „Befehl ist Befehl“ subsumiert. Jedoch: Auch in Befehlssituationen ist man verantwortlich, wenn die übergreifenden Regeln (etwa des Kriegsvölkerrechts) bekannt sind und wirkliche, nicht nur theoretische Entscheidungsmöglichkeiten gegeben sind, die als zumutbar gelten können.

Die Kernfrage für eine ethische Bewertung historischer Komplexe lautet daher, inwieweit von einer Freiheit des Handelns überhaupt auszugehen ist und welches Verhalten zu welchem Zeitpunkt und in welcher Situation als angemessen, opportunistisch oder verbrecherisch gelten kann oder muss. Dabei sind die Meinungen in diesem Band nicht einheitlich: Wolfgang Bialas bilanziert, dass „ein Individuum auch dann für sein Tun verantwortlich ist, wenn ihm nicht einmal klar ist, dass es eine Wahlmöglichkeit, anders zu handeln, gegeben hätte“ (S. 32). Gesine Schwan vertritt dagegen die These einer gezielten „Vernebelungstaktik“ nach 1945: Zu keiner Zeit sei es den Tätern gelungen, den inneren Widerspruch der Normverletzung aufzulösen; das Ausmaß ihrer Grenzüberschreitungen sei trotz der Beschwichtigungsrhetorik des Nationalsozialismus klar gewesen.

Einen weiteren wichtigen Impuls zur Debatte um die „Moralität“ des Bösen liefert der britische Philosoph Raimond Gaita mit seinem Essay zur moralischen Dimension des Begriffs „Genozid“, indem er aufzeigt, wie moralische Argumente der „Unmenschlichkeit“ oder der „Einzigartigkeit“ möglicherweise zu einer Einschränkung des Verständnisses von Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Allgemeinen und von Genozid im Besonderen beigetragen haben (S. 118). Hier tut sich an der Schnittstelle zwischen historiographischen, juristischen und ethischen Fragestellungen ein neues Forschungsfeld auf.

Anmerkungen:
1 Ulrike Jureit, Motive – Mentalitäten – Handlungsspielräume, in: Christian Hartmann / Johannes Hürter / Ulrike Jureit (Hrsg.), Verbrechen der Wehrmacht. Bilanz einer Debatte, München 2005, S. 163-170.
2 Harald Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt am Main 2005 (rezensiert von Tobias Bütow: Rezension zu: Welzer, Harald: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Frankfurt am Main 2005, in: H-Soz-u-Kult, 28.02.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-1-135>).