L. Ansorg u.a. (Hrsg.): „Das Land ist still – noch!“

Cover
Titel
„Das Land ist still – noch!“. Herrschaftswandel und politische Gegnerschaft in der DDR (1971–1989)


Herausgeber
Ansorg, Leonore; Gehrke, Bernd; Klein, Thomas; Kneipp, Danuta
Reihe
Zeithistorische Studien 40
Erschienen
Köln 2009: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
394 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Eckert, Zeitgeschichtliches Forum, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland

Die Geschichte von Opposition und Widerstand gegen die deutsche kommunistische Diktatur ist zwar bereits gut erforscht, trotzdem bleiben offene Fragen und Forschungsfelder. Wenige Erkenntnisse gibt es so trotz einiger Fortschritte sowohl für die 1970er-Jahre als auch für das Verhältnis von alltäglichem Konfliktverhalten der Mehrheit der Ostdeutschen zur Herausbildung oppositioneller Milieus. Die Verfasser des jetzt vorliegenden Sammelbandes setzen sich auf der Grundlage eines breiten gesellschaftsgeschichtlichen Zugangs zum einen mit politischer Repression am Beispiel von Strafrecht, Strafvollzugspolitik und -praxis und zum anderen mit den Zusammenhängen von sozialen Gruppen und ihrem Konfliktverhalten bzw. ihren Protestformen auseinander. Sie versuchen weiterhin, für die 1970er- und 1980er-Jahre den Zusammenhang von Politisierung und gesellschaftlicher Entwicklung zu klären sowie mit dem Blick auf die gesamte Gesellschaft die „Anschlussfähigkeit“ zu anderen Forschungsansätzen zu vergrößern.

Im Bereich des widerständigen Verhaltens wendet sich Renate Hürtgen dem betrieblichen Widerstand in der DDR von den 1950er- bis zu den 1980er-Jahren zu und konstatiert bedauernd, dass dieser durch unterschiedliche Maßnahmen der Herrschenden schließlich kaum noch existierte. Offensichtlich hadert sie mit ihren eigenen Forschungsergebnissen und wirft deshalb die Frage auf, ob das widerständige Verhalten der Arbeiter privatisiert oder in andere gesellschaftliche Bereiche „abgewandert“ sein könnte. Doch vermag sie für eine entsprechende These keinen empirischen Beweis zu erbringen und die Interpretation der „Eingabepraxis“ als Widerstand überzeugt nicht. Auch Bernd Gehrkes Suche nach der Kontinuität oppositioneller Aktivitäten und oppositioneller politischer Milieus in den 1970er-Jahren muss in die Leere gehen, da auch er nur das Widerstehen einer zahlenmäßig verschwindend geringen Minderheit nachzuweisen vermag. So gewann auch die Zusammenarbeit christlicher und marxistischer Oppositioneller im „politischen Untergrund“ letztlich keine prägende Bedeutung. In einem gewissen Gegensatz dazu erkennt Thomas Klein in der Herstellung einer oppositionellen Gegenöffentlichkeit in den 1980er-Jahren eine reale Herausforderung der Diktatoren. Dies gilt jedoch nur für die Spätphase der DDR, als auch die SED dies erkannte und mit hysterischen Reaktionen gegen jede noch so vorsichtige Abweichung vom verordneten Kurs vorging.

Reiner Merker untersucht die Möglichkeiten der Opposition, auf die Gesellschaft zu wirken, sich untereinander auszutauschen und eine „Zweite Öffentlichkeit“ herzustellen. Besonders bemerkenswert ist dabei, dass sich die Aufhebung des Informationsmonopols in Gera angesichts der systemloyalen Haltung der protestantischen Kirchenleitung in den Räumen einer katholischen Gemeinde vollzog; die sich hier etablierende Informationsbibliothek war dann Ausgangspunkt der Demonstrationen im Herbst 1989. Christoph Geisel äußert Zweifel an den Erinnerungen ehemaliger Oppositioneller und fragt, ob sie sich eher als siegreiche Revolutionäre oder Opfer der Wiedervereinigung verstehen. Gleichzeitig und genauso falsch wie bereits anderen Orts diffamiert er die hoch berechtigte nationale Formel „Wir sind ein Volk“ als „atavistischen Nationalismus“ (S. 290) und meint, dass besonders die Zerstörung der Umwelt in den letzten 15 Jahren rapide vorangeschritten sei. Das kann besonders aus Leipziger Sicht nur ein Kopfschütteln hervorrufen, was nicht weniger für seine Hoffnung auf die Überwindung des westlichen Politik- und Wirtschaftsmodells gilt.

Henning Pietzsch verdeutlicht, dass die oppositionellen Gruppen ein entscheidender Katalysator für die Herausbildung des Massenprotestes in der DDR waren. Bezogen auf die Region Jena zeigt er, dass sich die Ausreisewilligen letztlich an den Protestformen der Oppositionellen orientierten. Die Geheimpolizei fand dagegen kein probates Mittel und konnte sich immer nur eine westliche Fernsteuerung vorstellen. Der in Jena von Ausreisewilligen in der Öffentlichkeit praktizierte „Weiße Kreis“ löste sich nach der Abschiebung der meisten von ihnen in die Bundesrepublik zwar auf, lebte jedoch beispielweise im Symbol des weißen Bandes an den Antennen von Kraftfahrzeugen weiter. Schließlich geling es Tomás Vilímek, die selten beschriebenen Kontakte zwischen Oppositionellen in der DDR und in der ČSSR besonders in den Jahren 1988 und 1989 zu umreißen. Zwar waren daran quantitativ sehr wenige Menschen beteiligt, doch hatte diese Zusammenarbeit symbolische Bedeutung und war besonders für die ostdeutschen Dissidenten mit einem wertvollen Lernprozess verbunden. Die Geheimpolizei in beiden kommunistischen Staaten konnte zwar verschiedene Kontaktversuche unterbinden, es war ihr aber nicht möglich, den oppositionellen Informationsprozess zu stoppen. Auch heute wäre es noch interessant zu klären, warum sich daraus nach 1989/90 unter freiheitlichen Bedingungen nicht eine vertiefte Zusammenarbeit entwickelte.

Deutlich wird in dem Sammelband auch, dass wichtiger als die politische Opposition im widerständigen Spektrum über lange Zeit jugendliche Subkulturen und alternative Musikszenen waren. Dazu zählten, wie Sven Korzilius zeigt, auch Jugendliche, die die SED in der Honecker-Zeit als „Asoziale“ aus erzieherischen Gründen auszugrenzen suchte. Die Schaffung eines solchen Antibildes zum „sozialistischen Menschen“ gelang zwar nicht, die Gesellschaft schätzte jedoch trotzdem immer mehr Mitbürger als „asozial“ oder gefährdet ein. Regionalen jugendkulturellen Konflikten zwischen Konformität und Nonkonformität im Bezirk Suhl wendet sich Peter Wurschi zu. Es gelingt ihm zu zeigen, dass der stete Differenzierungs- und Individualisierungsprozess der ostdeutschen Jugendkulturen die Emanzipationsbestrebungen der gesamten Gesellschaft vorwegnahm und dass die SED dem letztlich nichts mehr entgegenzusetzen hatte.

In den Bereichen der Strafrechtspolitik und der Geheimpolizei untersucht Annette Weinke die Ausdifferenzierung des politischen Strafrechts und die Politisierung allgemeiner Straftatbestände wie des angeblichen Rowdytums. Die SED und ihre Geheimpolizei entwickelten ein flexibles Instrumentarium an strafrechtlichen und nichtstrafrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen, wobei den Methoden des Psychoterrors besondere Bedeutung zukam. Dabei sollte auf öffentlichkeitswirksam inszenierte Strafprozesse zugunsten von Maßnahmen im vorstrafrechtlichen Raum („Ordnungswidrigkeiten“) verzichtet werden, um so internationaler Kritik an den Methoden diktatorischer Herrschaft in der DDR auszuweichen. Gleichzeitig brachte die Änderung des Strafrechts 1977 deutliche Verschärfungen im politischen Bereich, wie Johannes Raschka zeigt; doch gab es auch Modernisierungen im Strafvollzug – wohl auch als Zeichen des „guten Willens“ gegenüber der Bundesrepublik.

Leonore Ansorg widmet sich ebenfalls den Veränderungen in der Strafvollzugspraxis (hier am Beispiel der Haftanstalt Brandenburg in den 1970er- und 1980er-Jahren) und weist den erheblichen Einfluss der Staatssicherheit auf die Behandlung politischer Gefangener und bei der Überwachung der im Strafvollzug Arbeitenden nach. Im Zentrum standen dabei die Ausreisewilligen, die zur Rücknahme ihres Antrages gebracht werden sollten, was aber selten erreicht wurde. Genauso wenig gelang es der Geheimpolizei schließlich auch in Brandenburg 1989, den Aufstand der Gefangenen zu verhindern.

Wichtig ist auch Danuta Kneipps Untersuchung der Bedeutung politischer Kontrolle im Berufsleben „Unangepasster“ und politischer Gegner, ihrer Ausgrenzung und Degradierung, die bislang noch zu wenig Aufmerksamkeit gefunden haben. Besonders das Arbeitsrecht setzten die Diktatoren immer wieder als Kontroll- und Repressionsinstrument ein. Schließlich fragt Ulrich Huemer nach der Funktionalität der MfS-Untersuchungshaft als Herrschaftsinstrument und untersucht den Umgang der Opposition mit Haft und Haftdrohung. Dabei gelingt es ihm, überzeugend zu zeigen, dass sich die Oppositionellen rechtlich, psychisch und praktisch auf eine eventuelle Untersuchungshaft vorbereiteten und damit diese Haft als Waffe der Geheimpolizei an Schrecken verlor.

Walter Süß schließt die Analysen der Unterdrückungspraktiken mit der Untersuchung der internationalen Konferenzen der Geheimpolizeien der Warschauer-Pakt-Staaten zur Bekämpfung der „ideologischen Diversion“ ab. Auch hier wird das Dilemma der Diktaturen deutlich. Vieles sprach in ihrem Kalkül für eine Verschärfung der Repressionen gegen Oppositionelle, doch konnte dies gegenüber der Mixtur aus Kritik und Kooperation des Westens nicht durchgehalten werden. Und so bahnte sich auch hier das Ende der kommunistischen Herrschaft im Mittelosteuropa an.

Letztlich ergab sich bei den untersuchten Feldern von widerständigem Verhalten und politischer Unterdrückung ein doppelter Effekt: Zum einen gelang es der SED, die Mehrheit der Bevölkerung verstärkt in das herrschende Gesellschaftsgefüge zu integrieren, zum anderen entstanden neue Konfliktpotenziale mit neuen Varianten der Repression. Hier gelingt es den Autoren, die unterschiedlichen politischen, sozialen und politischen Prozesse in der Gesellschaft der DDR in ihren Auswirkungen auf die Entwicklung der Opposition zu analysieren. Dies ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung der Erarbeitung einer Gesellschaftsgeschichte der ostdeutschen Opposition. Es bleibt die Aufgabe bestehen, den engen Zusammenhang zwischen Gesellschaft, polizeistaatlicher Unterdrückung und autonomen politischen Handeln weiter zu ergründen und schlüssig zu beschreiben.

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