Titel
Evolution und Rasse. Theoretischer und institutioneller Wandel in der viktorianischen Anthropologie


Autor(en)
Gondermann, Thomas
Anzahl Seiten
326 S.
Preis
€ 32,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Hoßfeld, Arbeitsgruppe Biologiedidaktik, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Als 1859 Charles Darwins klassisches Werk The Origin of Species by Means of Natural Selection or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life erschien, war es der erste wissenschaftliche Versuch, eine methodisch haltbare Analyse über die Evolutionsabläufe in der belebten Natur und deren Ursachen vorzulegen. Bis heute hat es in der Geschichte der Biologie kein vergleichbares Buch gegeben (eventuell noch Theodosius Dobzhansky’s Buch Genetics and the Origin of Species, 1937), das für die verschiedenen Bereiche der Biowissenschaften von solcher Bedeutung gewesen ist. Dabei rückte auch der Mensch, der schon nach der Linnéschen Systematik nichts anderes als ein Primat gewesen war, zusehends in den Mittelpunkt der Diskussionen um die Konsequenz einer Evolutionslehre. Die zahlreichen Umschreibungen in den letzten Jahrhunderten für diese Sonderstellung des Menschen in der Natur zeigen dabei die Ambivalenz und inhaltliche Breite der Thematik besonders eindrucksvoll auf. Seit Anfang der 1990er-Jahre hat es eine Reihe von Versuchen gegeben, sich kritisch mit der Geschichte der Anthropologie auseinanderzusetzen. Dazu zählen sowohl biographische als auch institutionsgeschichtliche Abhandlungen. Zudem sind die zahlreichen Veröffentlichungen der „Präsidentenkommission“ der Max-Planck-Gesellschaft zur „Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus“ hervorzuheben.

Dass mit diesen Forschungen aber aus wissenschaftlicher/transdisziplinärer Sicht nur an einem Oberflächenphänomen gekratzt worden ist, die internationalen Netzwerke bisher kaum Berücksichtigung fanden und sich nach wie vor eben ein weites Feld in der wissenschaftshistorischen Bearbeitung dieses Themenkomplexes bietet, beweist die vorliegende Arbeit von Thomas Gondermann. Er untersucht hierfür – als Akteursgruppe wählt er den 1864 gegründeten X-Club („pressure group“) – die Dynamik der Rassentheorien in der Mitte des 19. Jahrhunderts, wobei speziell danach gefragt wird, welche sozialen Prozesse zur Etablierung der Evolutionstheorien in den anthropologischen Rassentheorien führten.

Nachdem in einer Einleitung die Ziele der Arbeit benannt sowie in den zu behandelnden Kontext gestellt werden, schließen sich drei umfassende Hauptkapitel an: „Evolution und X-Club“ (Kap. 2), „X-Club und Anthropologie“ (Kap. 3) und „Evolution und Rassentheorien“ (Kap. 4). Ein Schluss („Theoretischer und institutioneller Wandel in Anthropologie und Rassentheorien“) sowie ein Nachwort („Evolution und Extinktion. Die darwinsche Modernisierung des Rassismus“ von Wulf D. Hund) runden die gut lesbare Arbeit ab. Auf einen Personen- und Sachindex wurde leider verzichtet, was in Anbetracht des vom Autor verarbeiteten reichhaltigen Materials zu bedauern ist.

Die Abhandlung zeigt, dass England bis heute noch zu den Ländern zählt, in denen die Anthropologie als Kollektivwissenschaft (physische Anthropologie + Kultur- und Sozialanthropologie) verstanden wird. Das Fach institutionalisierte sich hier in der Mitte des 19. Jahrhunderts erst über Umwege, unter anderem über die „Ethnological Society“ (1844) und die Herausgabe des „Journal of the Ethnological Society“ (1848-1874). Es war in erster Linie James Hunt zu verdanken, der innerhalb der „Ethnological Society“ auf die Bearbeitung von humanbiologisch-anthropologischen Themen gedrängt hatte und damit die Grundlage für die Institutionalisierung der Anthropologie in seinem Land schuf. Er initiierte auch die Gründung der „Anthropological Society of London“ (1863) und zeichnete für die Herausgabe der „Anthropological Reviews“ (1863-1868) verantwortlich. Nach dem Tode von Hunt fusionierten zum 14. Februar 1871 die beiden Gesellschaften. Als der eigentliche Beginn der neuzeitlichen englischen biologischen Anthropologie gilt – ähnlich wie zuvor in Deutschland – das Jahr 1863, als Thomas H. Huxley sein Werk Evidence as to Man`s Place in Nature vorlegte (vgl. hier Kapitel 3), indem er Darwins Gedanken auf die Entwicklung der Hominiden anwendete. Zudem war in diesem Jahr der erste Band der Zeitschrift „Anthropological Review“ erschienen, eine der ersten anthropologischen Zeitschriften überhaupt. Das 1872 gegründete „Anthropological Institute of Great Britain and Ireland“ (ab 1907 „Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland“) mit seinem Journal „Man“ (1901-1964) beherrschte dann später nahezu die gesamte britische Anthropologie. Im viktorianischen England waren zudem die Beiträge zur Menschenforschung nicht in der Größenordnung (wie etwa in Deutschland oder Frankreich) zu finden gewesen: unter anderem Richard Bradley mit seinem Werk A Philosophical Account of the Works of Nature (1721) oder die Arbeiten von James Cowles Prichard und Sir William Lawrence. Auch Charles Darwin, T. H. Huxley, Darwins Kollege, Alfred Russel Wallace oder der schottische Geologe Charles Lyell sind hier ebenso zu erwähnen.

Die Stärken der Arbeit liegen zweifelsohne in den Kapiteln drei und vier, und weniger, bis auf die Institutionsgeschichte des X-Clubs, in Kapitel 2 und der Einführung. Dem Leser wird unter anderem in den beiden letztgenannten Abschnitten nicht ganz deutlich, was das Thema Anthropologie mit dem Kuhn’schen Paradigmamodell zu tun hat. Außerdem wird nur teilweise auf die neue evolutionsbiologische Literatur rekuriert, werden Begriffe wie Evolutionslehre, Evolutionstheorie(n) unterschiedlich und nicht entsprechend der biologischen Terminologie verwendet. Zudem fehlen Bezugsgrößen wie Ernst Haeckel oder Filippo de Filippi in der vergleichenden Diskussion.1 Die Kapitel drei und vier zeigen neben der (neuen) wissenschaftshistorischen ebenso eine aktuell pädagogisch-didaktische Dimension auf. So können mit Gondermanns neu erschlossenem Material weiterführende Aussagen zur Geschichte des (und Umgang mit dem) Rassismus getroffen werden.

Gondermanns Studie über einen bis dato unbekannten Teil viktorianischer Anthropologie sollte Ansporn sein, sich weiterhin anthropologisch-evolutionsbiologischen Themata zu zuwenden, auch um eine (internationale) Vergleichsperspektive zu entwerfen. Allerdings verwundert nach wie vor die Tatsache, dass es in der Regel Bio-, Sozial-, Politik- oder Geisteswissenschaftler waren bzw. sind, die diese Themen bearbeiten. Aus der eigentlich fachkompetenten scientific community der Anthropologen kamen bis heute nur sporadische Versuche einer wissenschaftlichen Aufarbeitung. Ob dieser Weg der richtige ist, wird die Zukunft zeigen, wo jetzt schon fast täglich Meldungen über ethische Fragen in der Biologie und Medizin, den Rassismus und aufkommenden Antisemitismus usw. die Medienwelt beherrschen.

Anmerkung:
1 Etwas detaillierter in Thomas Gondermann, Die Etablierung der Evolutionslehre in der Viktorianischen Anthropologie. Die Wissenschaftspolitik des X-Clubs, 1860-1872, in: NTM - Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 16 (2008), S. 309-331.