C. Worobec: The Human Tradition in Imperial Russia

Cover
Titel
The Human Tradition in Imperial Russia.


Autor(en)
Worobec, Christine D.
Reihe
The Human Tradition around the World
Erschienen
Anzahl Seiten
xvii, 178 S.
Preis
€ 58,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexandra Oberländer, Forschungsstelle Osteuropa, Universität Bremen

Christine D. Worobec, Kennerin der bäuerlichen Sozialgeschichte im ausgehenden Zarenreich, versammelt in ihrem für den englischsprachigen Raum zugeschnittenen Universitätslehrbuch (textbook) „The Human Tradition in Imperial Russia“ ausgewiesene Spezialist_innen für russische Geschichte. Der Anspruch des Buches ist es – getreu dem Motto der Reihe „The Human Tradition”, in der bereits Titel zu anderen Nationalgeschichten erschienen sind – klassische Erzählmuster und Periodisierungen zu hinterfragen. Dies soll geschehen, indem die Erfahrungen einzelner Menschen oder sozialer Gruppen in den Vordergrund gerückt werden (S. x). Worobec verspricht in ihrer Einleitung mikrohistorische Studien zur russischen Geschichte, die in der Lage sein sollen, traditionellen Konzepten wie „Staat” oder „Gesellschaft” neues Leben einzuhauchen (S. xii). „The Human Tradition in Imperial Russia“ will Mikrogeschichte für Studierende attraktiv und verstehbar machen; an sie wendet sich dieser Titel schließlich in erster Linie.

Insofern ist es nicht verwunderlich, dass das Buch für Russlandhistoriker_innen nur wenig Neues bietet. Die Beiträge sind zumeist Kondensate bereits veröffentlichter Monographien, die erst noch auf den mikrohistorischen Fokus zurechtgestutzt werden mussten. Jedes der kurzen Kapitel, die chronologisch von Peter dem Großen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs reichen, wird von einem Text eingeleitet, der die jeweiligen Themen kontextualisiert und mit erkenntnisleitenden Fragen garniert. So gut die Einleitungen zu den unterschiedlichen Beiträgen hinführen, so wenig erschließt sich jedoch, was die zum Teil doch sehr disparaten Beiträge zusammenhält.

Als Beiträge zur Mikrogeschichte funktionieren im Grunde nur wenige der Texte, allen voran die spannende Lebensgeschichte eines russischen Kaufmanns aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Am Beispiel Toltschenows, der sein Leben seit seiner frühen Jugend hauptsächlich auf Handelsschiffen verbrachte, erzählt David Ransel nicht nur die Geschichte eines jungen Mannes, auf dessen Schultern der gesamte wirtschaftliche Ertrag eines Jahres und damit das Schicksal seiner Familie ruhte, sondern er verbindet diese Lebensgeschichte elegant mit einer Einführung in die Wirtschafts- und Umweltgeschichte des Russischen Reiches. Geradezu mustergültig erschließt Ransel makrohistorische Strukturen durch die Darstellung individueller Erfahrungen.1 Ähnlich gelungen ist der Beitrag von Rodney D. Bohac, der am Bespiel einer Bauernrebellion bei Twer beschreibt, mit welchen Gefahren bäuerliche Petitionen an den Zaren für deren Verfasser verbunden waren. Anhand von Gerichtsakten rekonstruiert Bohac die dramatischen Ereignisse auf den Ländereien des Adligen Wulf im Jahre 1827, die mit einem Selbstmord und Verbannung endeten. Ganz nah ist man den historischen Subjekten auch in Mark Steinbergs Beitrag über Arbeiterdichter und deren Vorstellungen vom Ich. Auf kaum mehr als 13 Seiten gelingt es all diesen Autoren, faszinierende Lebensgeschichten einzelner historischer Subjekte zu präsentieren, die in der Tat herkömmliche Narrative in Frage stellen.

Jener Fokus auf die „human tradition“, die in Worobecs Einleitung als Annäherung an Ereignisse und Personen beschrieben wird, die unser Verständnis von Staat und Gesellschaft ändere, ist vor allem in den sozialhistorisch orientierten Beiträgen zu unscharf oder gar nicht dargestellt. Exemplarisch sei hier Rebecca Spagnolos Text zu Dienstboten in Sankt Petersburg erwähnt. Spagnolo will beweisen, dass die zumeist weiblichen Dienstboten mehr politische (Streik-)Aktivität gezeigt hätten, als bisher angenommen. Doch damit entfernt sich Spagnolo eher von ihren historischen Subjekten, als dass sie sich ihnen nähert. Bei anderen Beiträgen stellt sich die Frage, weshalb sie überhaupt in diesem Sammelband erscheinen. Warum ist beispielsweise William B. Husbands durchaus lesenswerte Aufbereitung der 300-Jahrfeiern Sibiriens in einem Buch zur Mikrogeschichte enthalten? Sein Beitrag entspricht jedenfalls nicht den Mikrostudien, wie sie zumindest in der Einleitung angekündigt wurden. Husband untersucht weder bislang unerforschte soziale Gruppen, noch widmet er sich den „kleinen Leuten“; die Akteure seines Artikels entstammen mehrheitlich den klassischen Eliten.2 Ähnliches gilt für Laura L. Phillips, die in ihrem Beitrag die Lesekulturen der russischen arbeitenden Stadtbevölkerung untersucht. Sie widmet sich zwar den „kleinen Leuten“, doch tut sie dies mit einer sozialhistorischen Untersuchung, in der sie sich zu sehr von den einzelnen Individuen entfernt, als das ihr Beitrag ein mikrohistorischer wäre.

Auch wenn der vorliegende Band nicht die Neugier einer Russlandhistorikerin befriedigen kann, weil er sich ausdrücklich an Studierende richtet, so bleibt doch die Frage, zu welcher Gelegenheit man nun Studierenden diesen Titel in die Hand geben würde? Angelsächsische „textbooks“ passen ja keineswegs automatisch in die angeblich internationalisierten und neuen deutschen Bachelorstudiengänge. Zweifellos mag „The Human Tradition in Imperial Russia“ in US-amerikanischen Kursen über „Western Civilization” eine willkommene Ergänzung sein. Deutschen Hochschulen hingegen hat dieses Buch für die meist sehr spezialisierten Kurse zu russischer Geschichte nur wenig zu bieten. In methodisch zugeschnittenen Übungen zur Mikro- oder Sozialgeschichte, in denen die Mehrheit der Studierenden wenig bis keine Vorstellung über Russland hat, mögen dieses Buch oder einzelne Beiträge allerdings durchaus ein Gewinn sein.

Anmerkungen:
1 David Ransel, A Russian Merchant’s Tale. The Life and Adventures of Ivan Alekseevich Tolchenov. Based on His Diary, Bloomington 2009. Siehe dazu auch die Rezension von Martina Winkler, in: H-Soz-u-Kult, 02.12.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-4-193> (09.04.2010).
2 William B. Husband ist der Herausgeber des Bandes „The Human Tradition in Modern Russia“, Wilmington 2000.

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