Cover
Titel
Jerusalem und Rom: Mitte, Nabel - Zentrum, Haupt. Die Metaphern „Umbilicus mundi“ und „Caput mundi“ in den Weltbildern der Antike und des Abendlands bis in die Zeit der Ebstorfer Weltkarte


Autor(en)
Wolf, Beat
Erschienen
Anzahl Seiten
414 S.
Preis
€ 56,60
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gesine Mierke, Institut für Germanistik, Medien-, Technik- und Interkulturelle Kommunikation, Technische Universität Chemnitz

Die Mitte oder das Zentrum von etwas zu sein, ist eine viel zitierte Metapher, die nicht nur in der Wirklichkeit des Einzelnen vorkommt, sondern in der Selbstwahrnehmung und Inszenierung verschiedener Völker auf politischer, geographischer, historischer und literarischer Ebene immer wieder auftaucht. Zentrizität ist auch der Begriff, den Beat Wolf seiner Dissertation, in der er der Entwicklung der Metaphern „Nabel der Welt“ (Umbilicus mundi) und „Haupt der Welt“ (Caput mundi) nachgeht, zugrunde legt. In seiner detailreichen und quellengesättigten Studie geht es dem Autor vornehmlich darum, eine „Entwicklungsgeschichte der Begriffe ‚Nabel der Welt‘ und ‚Haupt der Welt‘“ (S. 50), die in den Weltbildern des europäischen Kulturraums vorkommen, von der Antike bis ins Hochmittelalter nachzuzeichnen.

Wolfs zentrale These ist, dass die Begriffe „Mitte“ und „Zentrum“ unterschiedlich konnotiert sind. Während der Begriff „Mitte“ stärker geographisch-räumlich belegt erscheint und die Lage von Orten, real oder fiktiv, beschreibt, wird „Zentrum“ vornehmlich dynamisch und spirituell gebraucht. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ergeben sich Unterschiede für die untersuchten Orte der Studie: Delphi, Jerusalem und Rom. Während in Delphi geographische Mitte und geistiges Zentrum zusammenfallen und Jerusalem räumliche Mitte und spirituelles Zentrum für das Judentum darstellt, ist dagegen Rom als Caput mundi nie räumliche Mitte der Welt. In der christlichen Literatur verliert die geographische Konnotation an Bedeutung, so dass Jerusalem und Rom um das spirituelle Zentrum rivalisieren.

Ausgehend von der Ebstorfer Weltkarte aus dem 13. Jahrhundert, die dem Autor als Paradigma für die Zusammenhänge von Zentrum – Mitte – Nabel eine Basis bietet, ist es Ziel der Untersuchung, die „Mitterezeption“ (S. 14) des Mittelalters entlang der beiden Metaphern zu beleuchten und nach ihren Traditionslinien zu fragen. Darüber hinaus stehen die Herkunft der Metaphern in verschiedenen mediterranen Kulturen und ihre rezeptiven Zusammenhänge sowie die Funktion der Metaphern in Bezug auf die Konstruktion geographischer Weltbilder im Fokus der Untersuchung.

Die Studie greift auf Ergebnisse der Metapherntheorie (Blumenberg, Nestle)1 zurück, ohne diese noch einmal ausführlich ins Zentrum zu rücken. Vielmehr fragt der Autor am Beispiel von „Nabel“ und „Haupt“ mit Hans Blumenberg nach dem Übergang vom Mythos zum Logos und dem Moment des Bewusstwerdens sowie nach der weiteren sprachlichen Modifikation dieser Metaphern. Grundlage der Untersuchung bilden historische, literarische und ikonographische Quellen. Insbesondere die umfassende Quellenrecherche, die nicht nur von großer Sachkenntnis zeugt, sondern auch kleinste Einzelbelege einbezieht, macht die Arbeit zu einer spannenden Gesamtschau des Gebrauchs beider Metaphern.

In fünf Kapiteln entwirft der Autor seinen diachronen Abriss durch die Geschichte verschiedener Kulturen. Akribisch beschreibt er jeden einzelnen Abschnitt, ohne den Leser dabei mit der Fülle an Fakten und Quellen zu überfordern. Anfangs- und auch Fluchtpunkt seiner Studie bildet die Ebstorfer Weltkarte, an deren Beispiel er in einem ersten Kapitel sein Erkenntnisziel und seine Fragestellung entwirft. Eingebettet in den christlich-heilsgeschichtlichen Kontext nimmt das christliche Jerusalem hier den Mittelpunkt ein und lässt eine Stadt zum Zentrum der Weltkonzeption werden (S. 32). Daneben stellt Wolf die dem welfischen Kaiser gewidmete Lehrschrift Liber de mirabilibus mundi (Otia imperialia) des Gervasius von Tilbury, die ebenfalls auf das Schema des christlichen Mikro- und Makrokosmos zurückgreift und lange der Ebstorfer Weltkarte zugeordnet wurde.2 Daran anschließend nimmt Wolf eine knappe theoretische Verortung seiner Fragestellung innerhalb der Metapherntheorie vor. In den folgenden drei Kapiteln, die sowohl babylonische und ägyptische Vorstellungen als auch die jüdische Überlieferung, die europäische Antike und die christliche Spätantike bis ins Mittelalter behandeln, werden die „Urgründe“ der Metaphern in verschiedenen mediterranen Kulturen aufgespürt, ihre literarische Rezeption verfolgt und rezeptive Zusammenhänge über einen Zeitraum von 3.000 Jahren dargestellt (S. 51). Jedem einzelnen Kapitel ist ein Abriss des geistes- und kulturgeschichtlichen Kontextes vorangestellt. Zahlreiche Perikopen aus den Werken antiker Schriftsteller unterstreichen die Zusammenhänge zwischen den Weltbildern und illustrieren den ubiquitären Gebrauch der beiden Ausdrücke.

Während der Begriff „Nabel“ in der jüdischen Literatur vor der Zeitenwende als eine unbewusste Metapher das religiöse Zentrum bezeichnet (S. 253), deutet die Metapher später auf die ethnische Sonderstellung Judäas in Abgrenzung zu Persien und Babylonien. Der Begriff der „Mitte der Welt“, der bereits in der indoeuropäischen Kultur auftaucht, bezeichnet nicht nur die Situierung des persischen Volkes oder taucht als kosmographische Verortung Jerusalems auf, sondern stilisiert Jerusalem in Abgrenzung zum hellenistischen Kontext zur „Mitte des Nabels der Erde“. In der griechischen Antike steht Delphi für die „Mitte“ und bezeichnet ursprünglich ein liturgisches Objekt, bezieht sich darüber hinaus auf die geographische Mitte und das religiöse Zentrum und wird schließlich in den sokratischen Tragödien zum literarischen Topos in mythischer Tradition. Die Metapher von Rom als Caput mundi besitzt in der Antike nicht nur mythische Dimension, sondern meint vor allem das machtpolitische Zentrum ohne geographische Implikation. Mit dem Primatanspruch des Papsttums bezeichnet die Metapher als Grundlage der apostolischen Autorität das Caput orbis und wird schließlich durch das christliche Herrschaftsprogramm der Karolinger zur Kaisermetapher. Während in jüdischer Tradition Jerusalem mit der Umbilicus-Metapher in Verbindung steht, wird Jerusalem unter heilsgeschichtlichem Aspekt zu Mitte und Nabel der Welt und damit zum theologischen Zentrum.

Den Abschluss der faktenreichen Arbeit bildet eine Zusammenstellung der verwendeten Textbeispiele und Abbildungen. Nicht zuletzt ein umfangreiches Register bietet weitere Anhaltspunkte, die dem Leser die Möglichkeit einräumen, das Material selbst zu sichten. Gerade weil die Untersuchung sich durch ein fundiertes Quellenstudium auszeichnet, wäre eine umfassendere theoretische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Metapher und seinen Verschiebungen an einigen Stellen wünschenswert. Darüber hinaus werden die mittelalterlichen Quellen nur knapp behandelt, so dass der eingangs angekündigte Bezug zur Ebstorfer Weltkarte als Ausgangs- und Fluchtpunkt nur skizzenhaft erscheint.

Anmerkungen:
1 Hans Blumenberg, Paradigma zu einer Metaphorologie, Bonn 1960; Wilhelm Nestle, Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates, 2. Aufl. Stuttgart 1940.
2 Hartmut Kugler, Die Ebstorfer Weltkarte ohne Gervasius von Tilbury, in: Nathalie Kruppa (Hrsg.), Kloster und Bildung im Mittelalter, Göttingen 2006, S. 497–512.