Geschichte der anthropologischen Fächer in Wien

: Die „Wissenschaften vom Menschen“ auf Wiener Boden (1870-1959). Die Anthropologische Gesellschaft in Wien und die anthropologischen Disziplinen im Fokus von Wissenschaftsgeschichte, Wissenschafts- und Verdrängungspolitik. Wien 2008 : LIT Verlag, ISBN 978-3-7000-0690-9; 978-3-8258-0472-5 328 S. € 19,90

: Die Anfänge der Ethnologie in Wien. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte. Wien 2008 : LIT Verlag, ISBN AT 978-3-7000-0700-5 159 S. € 19,90-

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Irene Ranzmaier, Institut für Geschichte der Universität Wien

Karl Pusman und Friedrich Koger tragen mit ihren Büchern zu einem Forschungsfeld bei, das noch große Lücken aufweist und sich erst in den letzten Jahren zunehmenden Interesses erfreut: Die Geschichte der Anthropologie bzw. der anthropologischen Fächer in Wien und somit im spezifischen politischen und sozialen Kontext des Vielvölkerstaats Österreich-Ungarn und Österreichs nach 1918. Das Bewusstsein, hier ein Forschungsdesiderat vor sich zu haben, gewann bereits vor rund zwanzig Jahren Karl Wernhart, inzwischen emeritierter Professor des Instituts für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien. Beide hier besprochenen Studien gehen als Dissertationen auf Wernharts Bemühungen um die Fachgeschichte der Anthropologie und speziell der Ethnologie in Österreich zurück.1

Pusmans Doktorarbeit aus dem Jahr 1991 wurde für den Druck überarbeitet, nachdem der Verfasser sich auch nach ihrem Abschluss weiter mit der Thematik befasst hatte. Der Charakter der Dissertation blieb jedoch insofern erhalten, als der ideologiekritische Ansatz, der Ende der 1980er-Jahre die deutschsprachige wissenschaftsgeschichtliche Forschung in Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus stark färbte, auch das hier zu besprechende Buch motiviert und strukturiert.

Pusmans Studie entfaltet auf der Grundlage von Forschungsliteratur und gedruckten Quellen ein breites Spektrum zu den Biographien, wissenschaftlichen Arbeiten und Ansätzen zahlreicher Mitglieder der Anthropologischen Gesellschaft in Wien. Das Buch bietet reiches Material und sammelt viele Bausteine zur Geschichte der anthropologischen Forschung in Österreich zwischen 1870 und 1959. Pusman zeichnet die Entwicklung von physischer Anthropologie, Ethnologie, Urgeschichte und Volkskunde in Wien als Weg von den gemeinsamen Anfängen über die Spezialisierung und Ideologisierung bis hin zur Funktionalisierung und schließlich Rekonstruktion jener Disziplinen. Er dokumentiert, wie die Mehrzahl der Wiener Vertreter der anthropologischen Fächer jene (Rassen-)Konzepte aufnahmen oder formulierten, welche zunehmend die einschlägigen Wissenschaften und die Politik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmten. Die Zeit des Nationalsozialismus bildet in dieser Darstellung den Gipfel der politischen Funktionalisierung der anthropologischen Fächer, wobei es das besondere Anliegen Pusmans ist, die darauf folgende innerdisziplinäre Verdrängung dieser Funktionalisierung mit seinem Buch aufzuzeigen und endgültig aufzubrechen.

Die tendenziell teleologische Ausrichtung auf den Nationalsozialismus ist jedoch einer stärker differenzierten Betrachtung des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Politik abträglich, die überdies anhand der Zusammenhänge zwischen Liberalismus und Anthropologie nahe gelegen wäre.2 Pusman hebt zwar die liberale Einstellung vieler Gründungsmitglieder der Anthropologischen Gesellschaft in Wien hervor, doch dass auch zwischen liberaler Politik und anthropologischer Forschung funktionalistische Relationen bestanden, wird nicht deutlich. Weil neben der in jedem Kapitel neu aufgenommenen Betrachtung der einzelnen anthropologischen Disziplinen das Schema der zunehmenden Funktionalisierung der Wissenschaften als einzige Ordnungsinstanz für die personenbezogenen Bausteine dient, bleibt außerdem der Umriss der laut Titel im Fokus stehenden Anthropologischen Gesellschaft in Wien als Verein bzw. als wissenschaftliche Institution verschwommen. Eine Abgrenzung der individuellen wissenschaftlichen Ansätze von einem durch die Mehrheit der Vereinsmitglieder getragenen Konsens über Inhalt und Umfang der Anthropologie wird nicht vorgenommen. Doch nur eine synthetische Betrachtung der Einzelbausteine hätte zur Klärung der Frage beitragen können, wie stark die von Pusman vorgestellten Gelehrten mit ihren Theorien und Forschungen tatsächlich jeweils den Verein prägten und was also die Besonderheit der anthropologischen Forschung „auf Wiener Boden“ im Vergleich zu anderen regionalen oder nationalen Entwicklungen ausmachte.

Kogers Buch gründet sich auf die Feststellung, dass die Geschichtsschreibung der Ethnologie in Wien fast ausschließlich die kulturhistorische Schule um Pater Wilhelm Schmidt als ihren Ausgangspunkt wähle. Daraus entstand die Motivation, die vernachlässigte, vor der Einrichtung eines Wiener Lehrstuhls für Schmidts Schüler Wilhelm Koppers liegende Entwicklung des Faches zu verfolgen. Koger wählt dazu den Ansatz der Ethnohistorie, welche durch die Einbettung der Fachentwicklung in die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und religiösen Kulturabläufe Einsicht in die geschichtlichen Prozesse zu gewinnen sucht (S. 24-26). Dementsprechend steht ein Kapitel über das politische und geistige Leben in Österreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts am Anfang. Ihm folgen meist personenbezogene, unverbunden nebeneinander stehende Fallbeispiele als „Meilensteine“ der ethnographischen Forschung in Österreich und der Etablierung der Ethnologie als Universitätsdisziplin bis zur Institutionalisierung unter dem Einfluss Schmidts. Ein Schwerpunkt wird auf Michael Haberlandt und seinen Sohn Arthur gelegt, speziell auf die Frage nach der Ursache für die Abwendung dieser beiden einschlägig habilitierten Gelehrten von der Ethnologie und ihrer Zuwendung zur Volkskunde. Hier tappt Koger leider selbst in die Falle der von ihm zur Motivation seiner Arbeit genommenen dominanten Stellung von Schmidts Schule in der Fachgeschichtsschreibung: Er ist zu schnell dazu bereit, die stockenden, nicht über Privatdozenturen hinausführenden akademischen Karrieren beider Haberlandts und ihre Hinwendung zur Volkskunde auf ihre protestantische Konfession und den Druck durch die Vertreter der katholischen Kulturkreislehre zurückzuführen. Zwar nennt Koger überdies des Älteren ungeliebte Arbeit am Naturhistorischen Hofmuseum und den frühen Kontakt mit der Volkskunde des Jüngeren als mögliche weitere Gründe, doch schon die Einführung von Liberalismus und Katholizismus als prägendes Gegensatzpaar im Kapitel zu den politischen Grundlagen spricht eine deutliche Sprache.

Eine Verdrängung Michael Haberlandts aus der Ethnologie in die Volkskunde durch Schmidts Schule an der Universität Wien ist jedoch schon allein aus chronologischer Sicht nicht schlüssig, denn Haberlandts Habilitation fand 1892 statt, Schmidts erst 1921. Etwaige Belege für dominant katholizistische Strömungen an der Wiener Philosophischen Fakultät vor 1920, die Haberlandt geschadet und Schmidt gefördert haben könnten, liefert Koger keine. Hier wird, wie auch bei Pusman, die Fachgeschichte zu stark von ihrem Ende her aufgerollt – nun nicht vom Nationalsozialismus her, sondern von der Gründung eines eigenständigen ethnologischen Lehrstuhls für Schmidts Schule. Aufgrund dieser Sichtweisen geht der Vorstoß in die Forschungslücke zu den anthropologischen Disziplinen in Österreich im späten 19. Jahrhundert nicht weit genug. Für einen solchen wäre eine weit größere Konzentration auf Archivquellen denn auf die Forschungsliteratur notwendig gewesen. Koger referiert den Inhalt von Archivdokumenten zwar, interpretiert sie aber kaum. Dabei hätte er gerade durch die Betrachtung der so unterschiedlichen wissenschaftlichen Ansätze und akademischen Laufbahnen von Friedrich Müller, Philipp Paulitschke, Rudolf Pöch, Robert von Heine-Geldern und den beiden Haberlandts das Material in der Hand gehabt, den Verlauf der Etablierung der Ethnologie an der Universität Wien in vollem Umfang zu klären – nämlich dann, wenn Koger auf dieser Grundlage die durchaus vorhandenen einzelnen Stränge des von ihm bezeichneten „wissenschaftsdisziplinären Urbreis“ (unter anderem S. 64) herausgearbeitet und die daraus entstehenden Konflikte einer näheren Betrachtung unterzogen hätte.3

Sowohl Pusman als auch Koger richten ihre Publikationen in erster Linie an Fachkollegen aus der Ethnologie, die Interesse an einer kritischen Historiographie ihres Faches haben, und holen ihr Rüstzeug weitgehend aus der disziplininternen Fachgeschichtsschreibung. Sie verfolgen jedoch durchaus das Ziel, durch die Einbettung ihrer Forschungen in einen breiteren geschichtlichen Kontext nicht allein zur Fachgeschichtsschreibung der Anthropologie und Ethnologie, sondern zur Wissenschaftsgeschichte generell beizutragen. Vom Standpunkt der allgemeinen Wissenschaftsgeschichte aus gesehen wäre allerdings speziell bei Pusmans Buch (wie oben bereits angedeutet) eine engere Verbindung der Abschnitte zu politikhistorischen und überregional-wissenschaftlichen Kontexten mit den Abschnitten speziell zur Wiener Entwicklung der anthropologischen Disziplinen ausgesprochen wünschenswert gewesen. Ein Beziehungsgeflecht zwischen den dokumentarischen, personen- oder vereinsbezogenen Kapiteln und den einleitenden, kontextbezogenen Passagen will bei der Lektüre nicht recht entstehen. Historikern mag in beiden Büchern überdies eine deutliche Unterscheidung zwischen gedruckten Quellen und Forschungsliteratur abgehen; umso mehr, als vielfach recht bejahrte Forschungsliteratur aus den 1950er- bis 1970er-Jahren herangezogen wird und wiederholt Selbstzeugnisse von Gelehrten oder Vereinsnachrichten aus der Anthropologischen Gesellschaft in Wien nicht kritisch genug betrachtet und wenig kommentiert bzw. interpretiert werden. Dies ist besonders bedauerlich, weil Pusman und Koger selbst die Bedeutung von Quellenkritik hervorheben (Pusman S. 14, Koger S. 24-26) und es somit an entsprechendem Problembewusstsein nicht mangelte.

Das Verdienst von Pusmans und Kogers Büchern liegt vor allem darin, Kenntnisse zur Entwicklung der anthropologischen Disziplinen bzw. der Ethnologie in Wien zu sammeln und anhand eingängiger Narrative zu dokumentieren. Sie werden ihren hauptsächlichen Zielen gerecht, verdrängte problematische ideologische Facetten der anthropologischen Disziplinen aufzuzeigen und wenig beachtete, vor Wilhelm Schmidt in Wien forschende und lehrende Ethnologen vorzustellen. Für Dokumentationen dieser Art besteht allerdings das Risiko, dass der Informationsgehalt und die Qualität der einzelnen Abschnitte wesentlich von der bereits vorliegenden Forschungsliteratur abhängen. In diesem Sinne hätten die Arbeiten speziell im Fall der vom späten 19. Jahrhundert handelnden Abschnitte vom Studium der Archivquellen (Pusman) bzw. von intensiverer, von der Forschungsliteratur unabhängigerer Interpretation derselben (Koger) ungemein profitiert. Denn auf dieser Grundlage wäre es Pusman und Koger möglich gewesen, neben detaillierten Dokumentationen auch umfassende neue Forschungsergebnisse vorzulegen und die starke Bestimmung der Darstellungen von ihren Endpunkten her aufzubrechen.

Anmerkungen:
1 Karl Pusman, Die Wiener Anthropologische Gesellschaft in der ersten Hälfte ds 20. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte auf Wiener Boden unter besonderer Berücksichtigung der Ethnologie, Wien, Diss. ungedruckt 1991; Friedrich Koger, Die Anfänge der Ethnologie in Wien. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte, Wien, Diss. ungedruckt 2006.
2 Für Deutschland wurden einige Elemente dieses Wechselverhältnisses herausgearbeitet im Sammelband: Glenn H. Penny / Matti Bunzl (Hrsg.), Worldly Provincialism. German Anthropology in the Age of Empire, Ann Arbor 2003. Vgl. zu dieser Frage in allgemeiner Hinsicht beispielsweise: Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen füreinander, in: Rüdiger vom Bruch / Brigitte Kaderas (Hrsg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 32-51.
3 Vgl. Irene Ranzmaier, Ein Stolperstein für die Etablierung der Anthropologie und Ethnologie an der Universität Wien, in: Thomas Brandstetter / Dirk Rupnow / Christina Wessely (Hrsg.): Sachunterricht. Fundstücke aus der Wissenschaftsgeschichte. Festschrift zum 60. Geburtstag von Mitchell G. Ash, Wien 2008, S. 30-35. Diese erste Publikation aus einem von Mitchell G. Ash und Irene Ranzmaier am Institut für Geschichte der Universität Wien durchgeführten Projekts zeigt auf der Grundlage der auch von Koger herangezogenen sowie weiteren Archivquellen, dass die akademische Etablierung von Anthropologie und Ethnologie in Wien durch Uneinigkeiten zwischen Geistes- und Naturwissenschaftern über anthropologische Ansätze geprägt wurde, wobei Müller, Paulitschke und Michael Haberlandt in einem, Luschan und Pöch im anderen Lager standen. Der politische Katholizismus, von dessen Aufschwung Schmidt später zunehmend profitierte, verfügte demnach um 1900 kaum über Einfluss an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien.

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