M. Zelle (Hrsg.): Terra incognita?

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Titel
Terra incognita?. Die nördlichen Mittelgebirge im Spannungsfeld römischer und germanischer Politik um Christi Geburt. Akten des Kolloquiums im Lippischen Landesmuseum Detmold vom 17. bis 19. Juni 2004


Herausgeber
Zelle, Michael
Erschienen
Anzahl Seiten
244 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Syrbe, Historisches Institut, FernUniversität in Hagen

Hans-Jürgen Häßler schrieb 1991 in seiner „Ur- und Frühgeschichte Niedersachsens“, „erst in der Endphase der vorrömischen Eisenzeit, wenige Jahre vor der Zeitenwende, kam im Zusammenhang mit der von Kaiser Augustus angestrebten römischen Eroberung des Gebietes zwischen Elbe und Rhein Bewegung in diese randlich der römischen und keltischen Kulturzentren gelegenen Zone“.1 Dieser einsetzenden Dynamik nimmt sich die von Michael Zelle herausgegebene Publikation an, in der 20 Aufsätze zu überwiegend archäologischen sowie einigen numismatischen Themen versammelt sind. Diese Beiträge gehen zum größten Teil auf Vorträge eines Kolloquiums in Detmold im Jahr 2004 zurück. Das in einem ansprechenden Layout gestaltete Buch ist, wie der Herausgeber in seinem Vorwort betont, „als momentane Positionsbestimmung der Forschung zu verstehen“ (S. 8).2

Das Inhaltsverzeichnis weist drei Themenblöcke aus: Der erste, „Aspekte einheimischer Kulturen im Bereich der nördlichen Mittelgebirge“, fasst zehn Aufsätze zusammen und nimmt fast zwei Drittel des Bandes ein (S. 9–146). Eröffnet wird dieser vom einzigen im engeren Sinne historischen Beitrag des Tagungsbandes „Zur Lokalisierung, Organisation und Geschichte des Cheruskerstammes“ (S. 9–29), den Peter Kehne beisteuert. Im ersten Teil seines Aufsatzes umreißt Kehne die insgesamt spärlichen, sich teils dem Niveau von Allgemeinplätzen nähernden Informationen der antiken Historiographie über die Cherusker und skizziert im zweiten Teil deren politische Geschichte vom 1. Jahrhundert v. bis zum Ende des 1. Jahrhunderts n.Chr. Auch wenn Kehne die cheruskische gens meines Erachtens ein wenig zu sehr als geschlossene Formation zeichnet, gehört sein Beitrag nicht zuletzt aufgrund der ausführlichen Aufarbeitung der historischen Forschung zu den Cheruskern zu den hervorstechenden des Bandes. Bei den folgenden neun Aufsätzen handelt es sich mehrheitlich um regionale oder lokale archäologische Fallstudien. Bodo Zehm schlägt in „Die Hase-Hunte-Region als Verkehrsraum der vorrömischen Eisenzeit“ (S. 31–40) einen weiten Bogen vom Neolithikum bis in die vorrömische Eisenzeit, um zu zeigen, dass das Osnabrücker Land immer wieder eine die Ausbreitung überregionaler Kulturen begrenzende Region war. Bernhard Sicherl arbeitet in „Ansätze zu einer regionalen Gruppierung im Ravensberger Land und an der Mittelweser (3. Jahrhundert v. Chr. – 1. Jahrhundert n. Chr.)“ (S. 41–78) anhand spezifischer Trachtbestandteile, Bestattungssitten und des Burgenbaus eine archäologische Regionalgruppe heraus, die er als „Eilshausener Gruppe“ bezeichnet (S. 45) und die nach Sicherl eine „ziemlich klare Abgrenzung“ (S. 50) gegen die umgebenden Gruppen zeigt (S. 46–50). Diese anhand archäologischer Kriterien definierte Differenzierung interpretiert Sicherl als „sozial determiniert“ (S. 51) und sieht darin eine „Tendenz zur Territorialisierung der gesellschaftlichen Bezüge, die einer Ethnogenese, präziser der Formierung eines politisch verfassten und territorial gebundenen Gemeinwesens gleichgekommen sein mag“ (S. 56).

Hans-Otto Pollmann erörtert in „Ein Siedlungsplatz bei Steinheim und die Besiedlung des südlichen Weserberglandes während der vorrömischen Eisenzeit“ (S. 79–88) die Lage des Weserberglandes „zwischen der keltischen Kulturzone im Süden und der germanischen in Nordostdeutschland“ (S. 87), wobei die hier benutzte ethnische Terminologie aufgrund der schwer zu fassenden sozialen und kulturellen Situation dieser Region eher unpassend gewählt ist. Christian Leiber stellt „Ausgewählte Fundstellen zur älteren römischen Kaiserzeit im Landkreis Holzminden“ vor (S. 129–138) und Antje Köllner „Das Gräberfeld von Lemgo, Kr. Lippe, aus dem 3./2. Jahrhundert v. Chr.“ (S. 89–96). Während diese Beiträge das Spektrum aktueller archäologischer Forschung im Bereich der nördlichen Mittelgebirge zeigen, handelt es sich beim Aufsatz von Werner Best zum Moorfundplatz bei Hille-Unterlübbe (S. 97–105) um die nur geringfügig überarbeitete Version eines bereits 1988 publizierten Berichts (S. 97, Anm.1). Mit speziellen archäologischen Materialgattungen beschäftigen sich drei Beiträge von Mathias Seidel, Michael Geschwinde und Ines Reese sowie Michael Meyer. Während Seidel anhand der „Glasarmringe aus Westfalen“ (S. 107–112) wiederum den Grenzcharakter des westfälisch-lippischen Raumes unterstreicht, zeigen Geschwinde und Reese („Bemalte Keramik der vorrömischen Eisenzeit und älteren römischen Kaiserzeit im südlichen Niedersachsen – ein Fallbeispiel zur Kulturkontaktzone am Nordrand der Keltiké 100 v. Chr. bis 100 n. Chr.“, S. 113–127), wie facettenreich und selektiv überregionaler Austausch verlaufen konnte. Sie weisen anschaulich nach, dass parallel zum Import spätlatènezeitlicher Keramik aus Süddeutschland zwar einerseits technisches Wissen zur Bemalung vor Ort produzierter Keramik übernommen und möglicherweise auch der zur Herstellung der Farben nötige Rohstoff aus dem süddeutschen Raum eingeführt wurde, andererseits aber die Ornamentik starke Modifizierungen und Anpassungen an den lokalen Stil erfuhr. Die Keramikgefäße selbst wurden sogar weiterhin unverändert in traditioneller Form und Technik hergestellt (S. 122–125). Meyer („Migration und Adaption. Ein differenziertes Modell zur Klärung der latènezeitlichen Przeworsk-Funde in Deutschland“, S. 139–146) unterzieht mitteldeutsche Funde, die starke Anklänge an die vor allem im heutigen Polen auftretende Przeworsk-Kultur zeigen und infolgedessen seit den 1920er-Jahren intensiv diskutiert wurden, einer kritischen Evaluierung. Er kommt zu dem Ergebnis, dass zwischen dem Auftreten charakteristischer Keramik- und Bestattungsformen unterschieden werden muss. Die Bestattungsformen interpretiert Meyer im Sinne von „kulturellen Inseln [...], in die aus dem polnischen Raum eine Einwanderung erfolgte“, während die Übernahme der Przeworsk-Keramik in lokale Kulturen als Adaptionsprozess aufzufassen sei (S. 145).

Den zweiten Themenblock „Römische Präsenz im Bereich der nördlichen Mittelgebirge“ (S. 147–224), der sieben Aufsätze bündelt, eröffnet der Beitrag des Herausgebers Michael Zelle: „Zur römischen Präsenz in den nördlichen Mittelgebirgen während der römisch-germanischen Auseinandersetzungen um Christi Geburt“ (S. 147–170). Zelle kartiert Funde römischer Provenienz spätrepublikanischer bis tiberischer Zeitstellung. Diese zumeist Einzel- und Lesefunde korrespondieren oft mit indigenen Siedlungsschwerpunkten (S. 153 und 156f.). Zelle zufolge werden in dieser Fundverteilung einerseits römische Versuche zur Herstellung einer Kontrolle und Überwachung dieser Siedlungsgebiete (S. 157), aber auch „einsetzende Akkulturationsprozesse“ greifbar, „die mit der Einrichtung einer provincia einhergingen“ (S. 159). In eine ähnliche Richtung geht der Numismatiker Frank Berger („Münzfund und Fundplatz: Alte und neue keltische und augusteische Münzen aus Südniedersachsen und Nordhessen“, S. 171–176), der anhand bekannter und neuer Münzfunde Phasen und Orte römischer Präsenz herausarbeitet. Klaus Grote („Hedemünden – ein römisches Militärlager an der Werra-Weser-Linie im rechtsrheinischen Germanien“, S. 177–186) resümiert den Forschungsstand zu den Grabungen in den seit 1998 bekannt gewordenen Lagern und Anlagen von Hedemünden an der Werra, die derzeit den am weitesten nach Osten vorgeschobenen bekannten Punkt der augusteischen Germanienpolitik darstellen. Grote bewertet das Lager I von Hedemünden als Versorgungsstützpunkt, dessen Architektur eine repräsentative Wirkung entfalten sollte und der auf eine längerfristige Nutzung ausgelegt war (S. 183). Die Funktionen der als Lager II und Bereich III bezeichneten Areale sowie des mutmaßlichen Lagers IV und der Terrassen V sind dagegen noch unklar (S. 181–183). Grote datiert die Hedemündener Militäranlagen allgemein in die Zeit der Drususfeldzüge (S. 185), während Ulrich Werz im anschließenden Beitrag „Zur Datierung des Römerlagers bei Hedemünden, Ldkr. Göttingen, durch gegengestempelte Fundmünzen“ (S. 187–190) für die Datierung der Lagergründung in das Jahr 12 v.Chr. plädiert (S. 189).

Besondere Beachtung verdient der Aufsatz von Susanne Wilbers-Rost: „Archäologische Forschungen zur Varusschlacht – Die Befunde auf dem ‚Oberesch‘ in Kalkriese und neue Interpretationsansätze“ (S. 191–202). Wilbers-Rost stellt zunächst die archäologischen und bodenkundlichen Untersuchungen entlang und im Umfeld der am „Oberesch“ dokumentierten Wallanlagen vor, konzentriert sich im zweiten Teil ihres Beitrages aber darauf, methodische Ansätze zur Interpretation von Fundverteilungen bei der archäologischen Erforschung antiker Schlachtfelder aufzuzeigen. Unabhängig davon, ob man sich der Identifizierung Kalkrieses als Ort der Varusschlacht – was von Wilbers-Rost ganz selbstverständlich angenommen (S. 191) und von Kehne mit betont beiläufiger Vehemenz abgelehnt wird (S. 21, besonders Anm. 171–173) – anschließen möchte oder nicht, in der Erweiterung des methodischen Repertoires der Archäologie liegt letztlich der wesentliche Gewinn der Kalkrieser Grabungen.

Die beiden den zweiten Themenblock abschließenden Aufsätze von Dieter Bischop und Reinhard Stupperich beschäftigen sich mit teils schwer zu fassenden, teils umstrittenen Niederschlägen römischer Präsenz in Germanien. Bischop stellt „Die Wallanlagen von Aschen-Mehrholz, Ldkr. Diepholz“ (S. 203–208) vor, die im späten 19. Jahrhundert ohne archäologische Belege als das Marschlager des Caecina an den pontes longi (Tac. ann. 1,63,1–68,5) angesprochen wurden. Die von Bischop referierten Grabungen im Jahr 1999 ergaben zwar keine sichere Datierung, jedoch zeigen die Funde eine Nutzung der Anlage in römischer Zeit an. Aufgrund der Lage an einer Passage durch das Große Diepholzer Moor und der seit dem 19.Jahrhundert bekannt gewordenen Funde interpretiert Bischop die Wallanlage von Aschen-Mehrholz als „Brückenkopf bzw. Kontrollpunkt des Moorpasses“ (S. 207). „Der Hildesheimer Silberschatz – griechisches Tafelgeschirr augusteischer Zeit in Germanien“ (S. 209–224) war Stupperich zufolge das größtenteils im griechischen Kulturraum Süditaliens und des östlichen Mittelmeers erworbene Tafelservice eines römischen Offiziers (S. 217 und 223), das im Kontext einer Katastrophe versteckt wurde und somit in indirektem Zusammenhang zur Varusniederlage stehen könnte (S. 218–223).

Der dritte Abschnitt des Tagungsbandes ist mit drei Aufsätzen zum „Niederschlag römischer Präsenz im einheimischen Kontext“ der kürzeste (S. 225–244). David Bergemann versucht in seinem Beitrag „Römischer Metallimport (1. – 3. Jh.) in den germanischen Siedlungen aus Niedersachsen und Bremen“ (S. 225–230) den Fundniederschlag an römischen Metallobjekten in germanischen Siedlungsarealen mit römischen Rekrutierungen in Germanien zu verbinden, da diese römischen Metallobjekte vor allem in Zeiten auftreten, die „Phasen erhöhten Truppenbedarfs und Truppenaufgebots“ darstellten. Die Argumentation überzeugt nur teilweise, da die Belege in der literarischen Überlieferung, die Bergemann zur Stützung seiner These anführt, problematisch sind und sich die Frage stellt, ob das archäologische Material eine hinreichend genaue chronologische Zuweisung erlaubt. Joachim Harnecker stellt „Eine germanische Siedlung im Bereich des Schlachtfeldes von Kalkriese“ vor (S. 231–236) und betont, dass die Region um den Kalkrieser Berg in der Zeit um Christi Geburt besiedelt und nicht dicht bewaldet war. Aus zwei Siedlungsflächen (Fundstellen 105 und 126) liegen Schmelzreste und Fragmente römischer Objekte vor, „die auf eine Verwertung römischer Militärausrüstung schließen lassen“ (S. 236). Den Tagungsband schließt Georg Eggenstein ab, der mit „Delbrück-Anreppen und Paderborn-Saatental – Zwei wichtige germanische Siedlungsplätze der Jahre um Christi Geburt“ vergleicht (S. 237–244). Für Eggenstein ist archäologisch gesehen „ein Einfluss der römischen Okkupation auf das einheimische Siedlungswesen kaum wahrnehmbar“ (S. 243).

Auch wenn die in diesem Tagungsband zusammengestellten Aufsätze besonders mit Blick auf dessen Leitfragestellung nach dem Spannungsfeld römischer und germanischer Politik mitunter einen etwas heterogenen Eindruck hinterlassen, wird die Publikation dem vom Herausgeber Michael Zelle eingangs formulierten Anspruch, eine Standortbestimmung zur archäologischen Forschung im Bereich der nördlichen Mittelgebirge der Zeit um Christi Geburt zu leisten, zweifelsohne gerecht.

Anmerkungen:
1 Hans-Jürgen Häßler, Vorrömische Eisenzeit, in: ders. (Hrsg.), Ur- und Frühgeschichte in Niedersachsen, Stuttgart 1991, S. 193–237, hier S. 195.
2 Mit Blick auf die Gestaltung des Buches ist (abgesehen von lediglich vereinzelten Fehlern in Schriftsatz und Orthographie) auf zwei Punkte hinzuweisen: Erstens ließe sich die Orientierung in den einzelnen Beiträgen durch ein Register und die Kennzeichnung der im Inhaltsverzeichnis aufgeführten, das Textcorpus durchaus sinnvoll gliedernden Themenblöcke im Textteil verbessern. Zweitens ist im Beitrag von Meyer (S. 139–146) ab S.143, Anm. 20 die Zählung der Anmerkungen zwischen Text und Fußnotenapparat verschoben (Anm. 20 im Text = 21 im Fußnotenapparat usw.).

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