Cover
Titel
Stalin's Police. Public Order and Mass Repression in the USSR, 1926-1941


Autor(en)
Hagenloh, Paul
Reihe
Woodrow Wilson Center Press
Erschienen
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
€ 41,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Zarusky, Institut für Zeitgeschichte, München

Die Öffnung der sowjetischen Archive hat das Bild der stalinistischen Massenverfolgungen massiv verändert. Nicht nur wurde klar, dass revisionistische Theorien über eine Art „kumulative Radikalisierung“ angesichts der zentralen Rolle Stalins und des Politbüros nicht haltbar sind, überdies gerieten bestimmte Opfergruppen und Dimensionen der Verfolgung in den Blick, die auch im Rahmen der Chruschtschowschen Entstalinisierungspolitik sorgfältig im Schatten gehalten worden waren. Der Große Terror der Jahre 1937/38 rückte in den Fokus der Forschung. Mit 1,5 Millionen Verhaftungen, über 1,3 Millionen Verurteilungen – davon 1,1 Millionen durch das NKWD – und über 700.000 Erschießungen übertraf er alles, was die Geschichte der politischen Verbrechen des Stalinismus an zielgerichteten Aktionen aufzubieten hatte, bei weitem. „Kulaken“, politische Gegner aus der Revolutions- und Bürgerkriegszeit und nicht zuletzt Angehörige als unzuverlässig betrachteter nationaler Minderheiten – Deutsche, Polen und andere – bildeten die Opferkontingente. Die Abläufe sind inzwischen von der Forschung vielfach beleuchtet worden, doch Ursachen und Motive für das Geschehen konnten bisher nicht hinlänglich geklärt werden und bleiben umstritten.

Auch in Paul Hagenlohs Buch „Stalin’s Police“ bilden die Ereignisse von 1937/38 den Fluchtpunkt, doch stellt er sie in einen weiteren zeitlichen Rahmen der vom Ende der Neuen Ökonomischen Politik und Stalins Machtantritt bis zum Beginn des Großen Vaterländischen Krieges reicht. Überdies orientiert er sich an einer spezifischen Perspektive, nämlich derjenigen der Kriminalpolitik und des Polizeisystems. Die Ausdehnung der Polizeirepression gegen tatsächliche oder auch nur potentielle Gesetzesbrecher, so die zentrale These, habe direkt zu den Massenoperationen von 1937/38 geführt (S. 8). Hagenloh führt seine Darstellung jedoch nicht ausschließlich auf diesen Fluchtpunkt zu, sondern hat eine breiter angelegte Geschichte des „policing“ der sowjetischen Gesellschaft verfasst. Ein thematischer Strang, der sich durch das ganze Werk zieht, ist das Verhältnis zwischen justitieller und außerjustitieller Verfolgung, wobei sich zahlreiche Berührungspunkte, aber auch Differenzen mit Peter H. Solomons Untersuchung „Soviet Criminal Justice Under Stalin“ 1 ergeben. Insbesondere wendet sich Hagenloh gegen dessen These vom „Conservative Shift“ Mitte der 1930er-Jahre, den Solomon als Auslöser für die Rekonstruktion der Rolle des Rechtssystems nach den Umbrüchen der Kollektivierungsära sieht. Hagenloh macht darauf aufmerksam, an wie vielen Stellen die Einschränkung der Befugnisse der Polizeijustiz durchbrochen und unterlaufen wurde und betont mehrfach, dass für Stalin außerjustitielle und justitelle Verfolgung keine prinzipiellen Alternativen darstellten, sondern ihre Rolle von situativen Gegebenheiten und taktischen Erwägungen abhing (S. 148 f., 224).

Die Probleme des „policing“ der sowjetischen Gesellschaft erwuchsen aus der Natur des Stalinismus selbst. Die von der Zwangskollektivierung verursachte Hungersnot führte zu unerwünschten Migrationen und zum Wiedererscheinen des aus der Bürgerkriegszeit bekannten Phänomens der „besprisornye“, verwaister und verwahrloster Kinder und Jugendlicher. Die forcierte Industrialisierung und Megaurbanisierung schufen ein fruchtbares Substrat für alle möglichen Formen von Hooliganismus und Kriminalität, denen die Polizei bald nur noch mittels Massenkampagnen glaubte begegnen zu können. Das daraus erwachsende kriminologische Denken in Kategorien bestimmter „sozial gefährlicher“ Personenkontingente und die Übernahme der Miliz durch das OGPU, also die politische Polizei, Ende 1930 bildeten, wie Hagenloh überzeugend herausgearbeitet hat, eine zentrale Voraussetzung für das reibungslose Funktionieren des Polizeiapparats bei den „Massenaktionen“ von 1937/38. Er stellt die Kampagnen gegen diverse Gruppen von Kriminellen oder Kriminalisierten der Jahre 1934 bis 1936 dar und erläutert den in vieler Hinsicht problematischen Versuch, die Bevölkerung mittels der seit 1932 eingeführten Inlandspässe und der im Zusammenhang damit verhängten Aufenthaltsbeschränkungen unter Kontrolle zu bringen. Die Verfolgung von Verletzern der Passgesetze wurde zu einem bedeutenden neuen „Geschäftszweig“ der Polizei. Dass die unkontrollierte Migration einer jener Faktoren war, die die sowjetische Führung beunruhigten und mittels des Massenterrors beseitigt werden sollten, geht aus dem Text der berüchtigten Order Nr. 00447 hervor. Warum aber Stalin im Sommer 1937 zu dieser Gewaltlösung kam und warum er es nicht bei Verhaftungen beließ, sondern das Land in Blut tauchte, bleibt bislang ohne Antwort. Hier habe man es mit ungelösten und möglicherweise unlösbaren Rätseln zu tun, stellt der Autor fest (S. 243, 250). 1934 war das unionsweite NKWD geschaffen worden, eine Struktur, die die zentralisierte Steuerung der polizeilichen Tätigkeit erlaubte. Bemerkenswert ist Hagenlohs Befund, dass das NKWD bei den gegen nationale Minderheiten gerichteten Operationen nicht so bereitwillig „ansprang“ wie bei der so genannten Kulakenoperation. Diese Beobachtung bildet sowohl eine Bestätigung als auch eine Relativierung seiner These, dass der Fokus der politischen Polizei nicht auf Klassen- oder gar Rassenkategorien, sondern auf die in vorausgehenden Jahren entwickelten kriminologisch definierten Kontingente ausgerichtet gewesen sei. Bei den nationalen Aktionen spielten diese aber eine sehr viel geringere Rolle als die Stalinsche Spionage- und Diversionsfurcht, es handelte sich also um eine entschieden politische Dimension.

Damit ist auch eine Grenze des Hagenlohschen Interpretationsansatzes benannt. Die ausschließliche Konzentration auf die polizeiliche Tätigkeit, so mächtig und bedeutsam der Polizeiapparat auch war, lässt Faktoren außer Acht, die für eine Erklärung des Großen Terrors unabdingbar sind. Es ist nicht so, dass Hagenloh sie gar nicht im Blickfeld hat. So betont er, dass mit Jeschow ein ausgesprochener Parteimann das NKWD übernahm. Den Polizeiapparat, der fähig war, die Massenoperationen durchzuführen, habe schon sein Vorgänger Jagoda geschaffen, der aber bei der Verfolgung innerparteilicher „Feinde“ zu zögerlich gewesen sei. Aber die auf das „policing“ ausgerichtete Perspektive des Autors kann das politische Szenario des Terrors nicht vollständig erfassen. Bezeichnend für diese eingeschränkte Perspektive ist etwa, dass die Feindbildkonstruktionen in der Schauprozess-Serie der Jahre 1928 bis 1933 ausgeblendet werden und dass das Schlusskapitel über die Jahre 1938/39 bis 1941 vor allem die bekannten Probleme des Kampfes gegen „Spekulanten“ und Hooligans behandelt, aber beispielsweise das Stichwort „Katyn“ vollkommen fehlt.

Das verwundert umso mehr, als der Autor das Stalinregime in der Zusammenfassung seines Buches eindeutig als „totalitär“ einstuft (S. 331). Hagenloh orientiert sich dabei nicht ausschließlich an traditionellen Modellen. Dass er sein Schlusskapitel mit Zitaten von Hannah Arendt und Zygmunt Bauman einleitet, ist bezeichnend für den abschließenden Befund, „the Soviet policing system was both totalitarian and inherently modern“ (S. 333).

Völlig überzeugend sind seine Feststellungen, dass der Stalinsche Terror bruch- wenn auch nicht übergangslos an die Leninsche Politik anknüpfte und dass er nur im Gesamtkontext der Ende der 1920er-Jahre eingeleiteten „Revolution von oben“ zu verstehen ist (S. 326f.). Der Verzicht auf den von Robert Conquest geprägten Begriff „Großer Terror“ kann weniger überzeugen (S. 398, Anmerkung 3), denn nach wie vor kommt dem dramatischen Geschehen der Jahre 1937/38 im Gesamtkomplex der Stalinschen Verbrechen ein besonderer Stellenwert zu, dessen Erklärung eine Herausforderung für Stalinismushistoriker bleibt. Hagenlohs auf einer enormen Materialfülle basierendes Buch leistet dazu einen unverzichtbaren Beitrag. Gerade die Tatsache, dass der Autor am Ende seiner sozial- und kulturgeschichtlich inspirierten Studie etwas unvermittelt auf die Kategorie totalitärer Herrschaft zurückgreift, ist indes ein klares Indiz dafür, dass ein Verständnis des Stalinismus ohne die traditionelle Politikgeschichte nicht zu erreichen ist.

Anmerkung:
1 Peter H. Solomon, Jr., Soviet Criminal Justice under Stalin. Cambridge 1996.

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