H.-R. Schwab (Hrsg.): Eigensinn und Bindung

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Titel
Eigensinn und Bindung. Katholische deutsche Intellektuelle im 20. Jahrhundert. 39 Porträts


Herausgeber
Schwab, Hans-Rüdiger
Erschienen
Kevelaer 2009: Butzon & Bercker
Anzahl Seiten
812 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Große Kracht, Exzellenzcluster „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne“, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Die soziale Figur des „Intellektuellen“ ist in den letzten fünfzehn bis zwanzig Jahren immer wieder zum Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Untersuchungen geworden. Ausgehend von der französischen „histoire des intellectuels“ sind mittlerweile auch hierzulande die Bedeutung und Wirkung von Intellektuellen, ihren Netzwerken und Publikationsforen für den Wandel gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen minutiös und eindringlich analysiert worden. Dabei fällt auf, dass sich ein Großteil dieser Studien auf die weltanschaulichen Deutungsexperten aus dem Lager des Jungkonservatismus, der Kritischen Theorie oder auch der liberal-konservativen Mitte bezieht, während die konfessionellen Intellektuellenmilieus erst in Ansätzen erforscht sind.1 Der Sammelband von Hans-Rüdiger Schwab, Professor für Kulturpädagogik/Ästhetik und Kommunikation an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Münster, ist insofern sehr zu begrüßen, verspricht er doch, mit seinen gut achthundert Seiten eine Art Kompendium katholischer Intellektualität im 20. Jahrhundert vorzulegen.

Die 39 Porträtierten – die ungerade Anzahl soll laut Schwab das Offene, Unabgeschlossene und auch Flexible dieses Versuchs zum Ausdruck bringen – verteilen sich auf drei bis vier Generationen katholischer Intellektueller, die, in geistlicher Hinsicht allesamt Laien, den Bereichen der Literatur, der Philosophie, der Rechtswissenschaften sowie der allgemeinen Publizistik entstammen. Den Reigen eröffnet Karl Muth (1867–1944), der Gründer der bis in die frühe Bundesrepublik bestehenden katholischen Kultur- und Literaturzeitschrift ‚Hochland‘. Das publizistische Wirken Muths markiert den Beginn einer ganzen Kohorte katholischer Intellektueller, die ihre wesentlichen Prägungen dem ‚Reformkatholizismus‘ des späten Kaiserreichs verdankten und den ‚modernistischen‘ Impuls in die Weimarer Kultur trugen (Annette Kolb, Max Scheler, Gertrud von le Fort, Theodor Haecker und andere). Dass die ‚modernistische‘ Orientierung nicht immer auch zur Akzeptanz der Weimarer Demokratie führen musste, belegt das Beispiel des Münsteraner Juristen Adolf ten Hompel (1874–1943), der erst bei der DNVP, dann schließlich bei der NSDAP landete und schon 1933 die NS-Spitze vor dem Wirken des neuen Münsteraner Bischofs, Clemens August von Galen, warnte.2

Mit dem ebenfalls später in Münster wirkenden Philosophen Peter Wust (1884–1940) betrat eine zweite Generation katholischer Intellektueller die öffentliche Kulturbühne Deutschlands. Den Vertretern dieser langen Generation der etwa zwischen 1885 und 1905 Geborenen, die in dem Band unter anderem mit Porträts von Carl Schmitt, Edith Stein, Alois Dempf, Werner Bergengruen, Reinhold Schneider, Max Müller, Josef Pieper, Walter Dirks und Eugen Kogon repräsentiert ist, ging es weniger um die Harmonie von Katholizismus und moderner bürgerlicher Kultur; vielmehr arbeiteten sie an einer scharfen Profilierung des ‚Katholischen‘ als eigenständiger Weltanschauung und nutzten das symbolische Kapital ihrer Konfession zur Kritik der bürgerlich-liberalen Moderne. So pries Carl Schmitt 1923 die autoritäre politische Form des Katholizismus, während Walter Dirks vor 1933 ebenso wie nach 1945 von einem ‚christlichen Sozialismus‘ träumte.

Was sich bei Dirks andeutete, eine Art katholische Wende nach links, wurde dann bei einigen Nachzüglern dieser Generation wie Luise Rinser (1911–2002) oder Heinrich Böll (1917–1985), deren eigentliches publizistisches Wirken bereits in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg fiel, gewissermaßen zum Lebensthema. Allerdings blieben die dezidierten Linkskatholiken auch zu dieser Zeit eher eine Ausnahme, folgte doch schon bald eine jüngere Alterskohorte nach, für die weniger die ethisch-religiöse Denunziation der modernen Gesellschaft als vielmehr die Aussöhnung mit deren liberalen Grundsätzen im Zentrum ihres publizistischen Schaffens stand.

Für diese Altersgruppe der zwischen 1920 und 1935 Geborenen, die im Band mit Beiträgen zu Otto Bernd Roegele, Robert Spaemann, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Hans Maier und Franz-Xaver Kaufmann vertreten ist, ging es vor allem darum, von allen überzogenen – rechten wie linken – Rechristianisierungshoffnungen Abstand zu gewinnen und den katholischen Bevölkerungsteil in die gesellschaftliche Mitte der frühen Bundesrepublik zu führen. Dass ihr dies gelungen ist, zeigt sich auch daran, dass die Sozialgestalt des ‚katholischen Intellektuellen‘, die in der Weimarer und frühen Bonner Republik noch so deutlich wahrnehmbar war, seit den 1970er-Jahren merklich an Kontur verloren hat. So sind die letzten beiden Aufsätze des Bandes den beiden Schriftstellern und Büchner-Preisträgern Martin Mosebach (geb. 1951) und Arnold Stadler (geb. 1954) gewidmet, die stellvertretend dafür stehen können, dass sich das ‚Katholische‘ heute in die Bereiche der literarischen Ästhetik zurückgezogen hat. Politische und gesellschaftskritische Impulse scheinen vom jüngeren intellektuellen Katholizismus der Bundesrepublik hingegen nicht mehr auszugehen – sieht man einmal von dem ehemaligen Paderborner Priesteramtskandidaten Rupert Neudeck (geb. 1939) ab.

Mit solch düsteren Bilanzierungen hält sich Schwab in der Einleitung zu seinem Sammelband freilich zurück. Überhaupt ist der Band ausgesprochen offen angelegt: Schwab selbst vermeidet jegliche Binnentypisierungen und generationellen Kohortenbildungen. Weder das ‚Katholische‘ noch das ‚Intellektuelle‘ werden von ihm definitorisch eng begrenzt, und dies mit Bedacht, kann so doch eine Vielzahl unterschiedlicher Nuancen und Schattierungen mit dem Band eingefangen werden. Auch schreibt Schwab, und das macht die Sammlung der 39 Porträts sympathisch, dass er „kein Lexikon oder Handbuch, das einen systematischen Überblick verspricht oder gar Deutungshoheit beansprucht“ (S. 25), vorlegen will. Und dass sich die Reihe der 39 Porträtierten – darunter immerhin acht Frauen, was für eine männerzentrierte Religionsgemeinschaft wie die katholische Kirche nicht wenig ist – um viele weitere Gestalten fortsetzen ließe, ist Schwab deutlich bewusst. Neben den von ihm Genannten, etwa Ernst Michel oder Friedrich Dessauer, vermisst der Leser darüber hinaus so zentrale Gestalten wie Fritz Gerlich, Hermann Platz oder Martin Spahn.

Wie Schwab in der Einleitung schreibt, war den Autoren der einzelnen Porträts hinsichtlich des biographischen Genres völlige Freiheit gegeben. Dem Band ist die Herausgeberliberalität allerdings nicht immer gut bekommen: So finden sich empirisch gesättigte, zum Teil auch archivalisches Material heranziehende Beiträge – hier sei insbesondere auf den Aufsatz von Mark Edward Ruff über Ernst-Wolfgang Böckenförde verwiesen – neben sehr persönlich gehaltenen, betont einfühlungsstarken Porträts wie beispielsweise über den Literaturwissenschaftler Hermann Kurzke oder den Philosophen Robert Spaemann (wobei gerade letzterer eine sachlichere Beschäftigung verdient hätte). Während sich manche Beiträge sehr reflektiert mit ihren ‚Helden‘ beschäftigen und dabei die intellektuelle Kultur der jeweiligen Zeit differenziert mitreflektieren (dies gilt insbesondere für die Beiträge über Carl Schmitt, Werner Bergengruen, Walter Dirks, Heinrich Böll), lesen sich andere Beiträge – so etwa über die Dresdner Philosophieprofessorin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz – wie bestellte Laudationes, die ehemalige Schüler(innen) auf ihre arrivierten Lehrer(innen) halten. Etwas mehr Kritik wäre in manchen Beiträgen auch hinsichtlich der politischen Verortung der jeweils Porträtierten wünschenswert gewesen. So vermisst man beispielsweise im Beitrag über den Philosophen Max Müller jeden Hinweis auf seine frühe NS-Affinität. Im Falle von Luise Rinser wird diese zwar gestreift, dafür erfährt der Leser aber nichts über ihre spätere Anbiederung an den nordkoreanischen Diktator Kim Il Sung. Für den angekündigten zweiten Band, der sich mit Priestern und Theologen beschäftigen soll, wäre eine stärkere redaktionelle Bearbeitung – im Sinne kritischer und fachlicher Standards – durch den Herausgeber also durchaus wünschenswert.

Seiner äußeren Gestalt nach orientiert sich der Band an der katholischen Reihe „Zeitgeschichte in Lebensbildern“.3 So sind alle Porträtierten mit einem Foto und einer Literaturliste ihrer wichtigsten Werke sowie der Sekundärliteratur vertreten. Die Sammlung kann insofern als nützliches Nachschlagewerk dienen, wenn man sich einen ersten Eindruck über die Geschichte katholischer Laienintellektueller in Deutschland im 20. Jahrhundert verschaffen möchte. Auf den zweiten Band darf man gespannt sein.

Anmerkungen:
1 Zur Bedeutung der ‚Intellektuellen‘ für die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik siehe jüngst: Franz-Werner Kersting / Jürgen Reulecke / Hans-Ulrich Thamer (Hrsg.), Die zweite Gründung der Bundesrepublik. Generationswechsel und intellektuelle Wortergreifungen 1955–1975, Stuttgart 2010; zur Erforschung konfessioneller intellektueller Milieus siehe: Michel Grunewald / Uwe Puschner (Hrsg.), Das katholische Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1871–1963), Bern 2006; dies. (Hrsg.), Das evangelische Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1871–1963), Bern 2008; Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.), Intellektuellen-Götter. Das religiöse Laboratorium der klassischen Moderne, München 2009.
2 Adolf ten Hompel ist nicht zu verwechseln mit seinem Bruder Rudolf ten Hompel, dem Großindustriellen, zeitweiligen Zentrumsabgeordneten und vormaligen Eigentümer des Gebäudes des heutigen Geschichtsortes „Villa ten Hompel“ in Münster (Internetpräsenz auf der Seite der Stadt Münster: <http://www.muenster.de/stadt/villa-ten-hompel/1924.html>, 10.03.2010).
3 Rudolf Morsey u.a. (Hrsg.), Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts, 12 Bde., Münster 1973–2007.

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